Rabbiner Dr. Max Dienemann: Judentum und Christentum Gelsenkirchen

April 2014

Erstausgabe: Frankfurt 1914

Diese Ausgabe basiert auf der Auflage von 1919

Copyright für diese bearbeitete Neuausgabe © 2014

Chajm Guski

sprachkasse.de

chajm@sprachkasse.de

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7357-6384-6

HINWEIS

Diese Ausgabe enthält zahlreiche orthografische Anpassungen und Korrekturen gegenüber der Ausgabe von 1919 und eine kurze Liste der »Parallelen«, die vom »Verein für jüdische Geschichte und Literatur« erarbeitet wurde.

Zudem ist ein kleines Verzeichnis der zitierten Schriftstellen hinzugefügt worden.

INHALT

PARALLELEN

Die Parallelen wurden vom »Verein für jüdische Geschichte und Literatur« in Berlin 1904 erarbeitet. Dazu wurde eine Kommission gebildet. Diese bestand aus Dr. M. Lewin, Dr. I. Elbogen, Albert Katz und Dr. Bernfeld.

Neues Testament

Das vornehmste Gebot vor allen Geboten ist das: Höre Israel, der Herr, unser Gott ist ein einiger Gott.

Markus 12,29

Ein Gott und Vater unser aller, der da ist über euch allen und durch euch alle und in euch allen.

Epheser 4,6

Tanach

Höre Israel: Der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.

5. Mose 6,4

Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild.

1. Mose 1,27

Ich will des Bundes gedenken, der zwischen mir und euch allen lebenden Wesen besteht.

1. Mose 9,15

Kinder seid ihr des Ewigen, eures Gottes.

5. Mose 14,1

Ewiger! Du bist ja unser Vater.

Jesaja 64,7

Neues Testament

Denn es ist kein Unterschied zwischen Juden und Griechen, denn er ist Herr über alle, und er ist reich für alle, die ihn anrufen.

Römer 10,12

Tanach und Schriften

An jenem Tage wird Israel der dritte sein nach Ägypten und Assyrien ein Segen inmitten der Erde. Gesegnet hat es der Herr Zebaot also: Gesegnet sei mein Volk Ägypten und meiner Hände Werk Assur und mein Erbgut Israel.

Jesaja 19, 24-25

Auch von ihnen (den fremden Völkern) nehme ich mir Priester und Lewiten, so spricht der Herr.

Jesaja 66,21

Ich wandle den Völkern ihre Sprache in eine lautere, dass sie allesamt den Namen des Herrn anzurufen wissen, ihm einmütig zu dienen.

Zefanja 3,9

Der Ewige wird König sein über die ganze Erde, an jenem Tage wird der Ewige einzig sein und sein Namen einzig.

Secharja 14,9

Auch wenn ein Fremder, der nicht von Deinem Volke Israel ist, aus fernen Landen kommt um Deines großen Namens, Deiner mächtigen Hand und Deines ausgestreckten Armes willen und in diesem Hause betet, so höre auf ihn vom Himmel, dem Sitze Deiner Wohnung, und tu alles, was er von Dir erfleht, damit alle Völker der Erde Deinen Namen erkennen und Dich fürchten, wie Dein Volk Israel.

1. Könige 8,41-43; 2. Chron. 6,32ff.

Jeder, der dem Götzendienst entsagt, ist als Jude zu betrachten, als Bekenner der israelitischen Lehre.

Megilla 13a, Nedarim 25a

Die Rechtschaffenen aller Völker haben Anteil an der künftigen Welt.

Tosefta Sanhedrin 13,2

Neues Testament

Darum sollt ihr also beten: Unser Vater im Himmel. Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden, wie im Himmel.

Matthäus 6,9-10

Tanach

Geheiligt werde der erhabene Name Gottes in der Welt, die er geschaffen nach seinem allmächtigen Willen. Es komme herbei und werde von aller Welt erkannt sein Reich und seine Herrschaft.

Tägliches Gebet (Kaddisch) nach Ezechiel 28,23, Berachot 21b

Tue Deinen Willen im Himmel oben, Deinen Getreuen auf Erden gib Ruhe des Gemütes; im Übrigen tue, was dir wohlgefällt.

Berachot 29b

EINLEITUNG

Von Unterschieden zwischen Judentum und Christentum soll auf den folgenden Blättern die Rede sein.

Zu welchem Zwecke? Nicht in der Absicht anzugreifen.

Es sei uns fern, eine Kritik des Christentums zu geben, Glaubenssätzen nahe zu treten, in denen Millionen Menschen Beseligung und innere Ruhe finden. Worauf es uns ankommt, ist einzig und allein, zu zeigen, welche Lehren dem Judentum eigentümlich sind, was die Juden von alters her von dem Eintritt in das Christentum abhielt und auch in aller Zukunft abhalten muss. So wahr es ist, dass .aller Religion Höchstes und Letztes ist, die Menschen durch den gemeinsamen Besitz Gottes in einem Bruderbunde zu einigen und zu der Erkenntnis zu führen, dass echte Frömmigkeit sich in allen Religionsgemeinschaften finde, so wahr ist es auch, dass man sich in den besonderen Geist jeglicher Religion hinein fühlen, sie in ihrer Geschlossenheit begreifen und in ihrer Eigenart erleben muss, wenn jeder in seiner Religion diese letzten und höchsten gemeinsamen Endziele finden soll. Man kann nicht die seelischen Voraussetzungen, die Wurzeln einer religiösen. Anschauung als belanglos und gleichgültig beiseiteschieben und sich nur an die willkommenen Früchte halten; will man die Früchte aller Religion, die Nächstenliebe und die Sittlichkeit ernten, dann muss man auch die Wurzeln jeglicher religiösen Anschauung pflegen.

Den modernen Menschen hatte bereits ein neu sich regendes Sehnen die Notwendigkeit des Besitzes religiöser Ideale gelehrt, und unsere jüngsten Erlebnisse haben dieses Sehnen vertieft und gesteigert; damit beginnt aber auch ein neuer Wettkampf der Religionen in ihrem Streben, die Welt mit ihren Gedanken zu erfüllen, und zwar nicht nur auf der Grundlage der dogmatischen Prägung, die sie in alten Zeiten erhielten, sondern auf dem Grunde der ganzen ihren Bekennern eigentümlichen Anschauung. Und eben darum ist es vonnöten, mit-, aller Entschiedenheit und Deutlichkeit die Lehren zu zeigen, die das Judentum bisher mit Zähigkeit festgehalten hat, in denen es sich von der christlichen Umwelt unterschieden fühlte, und an denen es auch weiter festhalten muss, wenn es sich erhalten will. Es handelt sich, um es mit einem Worte zu wiederholen, darum, für das Judentum das Recht auf die eigene Anschauung erneut aufzustellen und zu begründen. Diese Aufgabe wäre überflüssig, wenn man der Überzeugung sein könnte, dass die Unterschiede der religiösen Lehren allgemein bekannt wären. Das ist aber keineswegs der Fall.

Im Gegenteil, es herrscht gerade über die Punkte, in denen Judentum und Christentum am entschiedensten auseinandergehen, eine seltsame und bedauerliche Unkenntnis. Innerhalb der jüdischen Kreise hat sich infolge der vielfachen auf das Judentum gerichteten Angriffe fast alles Interesse in der Verteidigung erschöpft, so dass man nur selten Gelegenheit fand, positiv die besondere Art der jüdischen Ideenwelt hervorzuheben. Und innerhalb der nichtjüdischen Kreise ist man meistens so befangen in der Anschauung, dass das Judentum eine überwundene und abgetane Form der Religion sei, dass man es sich gar nicht vorzustellen vermag, die Juden von heute sollten sich nicht als überwunden erklären, ja hätten sogar ein deutliches Bewusstsein von ihrer religiösen Eigenart und den ausgesprochenen Willen, sie zu erhalten.

Man sieht zudem die Juden – infolge ihrer eigentümlichen politischen Stellung – so ganz und gar mit dem Kampf um die bürgerliehe Gleichberechtigung beschäftigt, dass ein Außenstehender in der Tat zu der Meinung kommen kann, dieser Kampf sei ihr einziges Interesse; und sie hielten der alten Glaubensgemeinschaft höchstens aus Gründen der Ehre oder der Pietät die Treue, aber ohne die Gewissheit eigener Ideale und. deren Lebensfähigkeit, Soweit geht schließlich die Unkenntnis der wahren Sachlage, dass man wohl. die Unterschiede zwischen orthodoxem Judentum und orthodoxem Christentum begreift; dass man aber schon fast widerspruchslos das Urteil passieren lässt, zwischen liberalem Judentum und liberalem Christentum sei ein innerer Unterschied nicht vorhanden. Da ist eine gründliche Aufklärungsarbeit nötig, die klar und entschieden zeigt, wie im Religiösen eine geschlossene jüdische einer ebenso geschlossenen christlichen Anschauung gegenübersteht.

Wenn das also dargelegt werden soll, dann bedarf es nicht der lückenlosen Aufzählung aller Punkte, in denen sich Judentum und Christentum unterscheiden; von der Dreieinigkeit, dem Marienkult, der Heiligenverehrung erneut zu reden, ist unnötig.

Nicht etwa deshalb, weil es auch Christen gibt, die darüber zur Tagesordnung übergegangen sind, und weil diese Lehren deshalb als von untergeordneter Bedeutung erscheinen könnten; denn das Bekenntnis der Kirche hält sie unverbrüchlich fest, und dieses Bekenntnis wird bei jedem Gottesdienst gesprochen, und jeder Übertretende hat sich darauf zu verpflichten. Ihre Bedeutung in der Reihe der Unterschiede zwischen Judentum und Christentum, ist noch immer die alte, aber sie sind so allgemein bekannt, dass sie nicht mehr besonders erwähnt zu werden brauchen. Uns muss es sich hier um den einen Punkt handeln, der hüben und drüben das Charakteristische ist, der in den alten Tagen der Ausgangspunkt aller Unterschiede war und auch heute, und heute mehr denn je, der wesentliche ist, an dem gleichsam alles andere hängt. Und dieser Punkt ist die Lehre vom Menschen, die Anschauung über Art und Wesen des Menschen. Zu schildern, wie Judentum und Christentum über den Menschen, sein Wesen und Können urteilen, wie daraus alle Unterschiede zwischen den beiden Religionen hervor wachsen, das und nur das sei die Aufgabe dieser Schrift.

DAS WESEN DES MENSCHEN

Geben wir erst einmal mit einem kurzen und knappen Satz den wesentlichen Unterschied:

»Das Judentum lehrt, dass die Seele des Menschen von Geburt rein und sündlos ist, dass der Mensch. von Natur aus mit der Fähigkeit begabt ist, das Gute zu tun und sittlich zu handeln aus eigener Kraft. Das Christentum lehrt, dass der Mensch von Geburt an mit Sünde behaftet ist, dass seine eigene Kraft nicht ausreicht, das Gute zu tun, dass Sünde und Schuld die herrschende Macht im menschlichen Leben ist«.

Das ist, in wenigen Worten, der grundlegende Unterschied. Nun wird sich die Frage erheben: Ist dieser Unterschied denn so schwerwiegend? Es ist ja in der Tat bei einem flüchtigen Erfassen des Satzes kaum zu begreifen, dass von hier aus die Kluft der Anschauung zwischen den zwei Religionen sich auftun soll; dass von hier aus die Persönlichkeit Christi in den Mittelpunkt des christlichen Bewusstseins rücken musste; dass von hier aus eine