Eine Schule für Alle. Vielfalt leben!

Materialien zum Kongress vom 12.–14. März 2010 in Köln

Herausgeber: mittendrin e.V., Köln

www.eine-schule-fuer-alle.info

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        INHALT

          VORWORT

          GRUSSWORTE

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VORWORT

Zweieinhalb Jahre ist es her, dass mittendrin mit seinem ersten Kongress „Eine Schule für Alle“ an der Kölner Uni angetreten ist, eine breitere öffentliche Debatte um das Recht unserer Kinder auf Integration zu initiieren. Seitdem hat sich viel verändert. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung hat der Elternbewegung für die Integration ihrer behinderten Kinder in die Regelschule neue Flügel verliehen. Die Medien interessieren sich für die Rolle der Sonderschulen und den Kampf für Inklusion. Und – nicht zu vergessen – die meisten Schulpolitiker haben inzwischen gelernt, das Wort Inklusion fehlerfrei auszusprechen. Wir könnten zufrieden sein, wenn wir nicht tagtäglich in den Verwaltungen und an den Schulen des gegliederten Schulsystems zusammen mit anderen Eltern erleben müssten, dass sich in der Praxis noch gar nichts geändert hat.

Mit zirkusreifen Verrenkungen versuchen Landesregierungen – namentlich in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Bayern – den Aufbau eines inklusiven Bildungssystems auf die lange Bank zu schieben. Als Vorwand dient dabei der Wunsch es besonders gut machen zu wollen. Integration und erst Recht Inklusion droht dabei unter einem Wust von neuen bürokratischen Verfahren zu ersticken.

Ihnen, die von Inklusion reden, aber denen es vor allem um den Erhalt ihrer Förderschulen geht, sagen wir heute:

Der Kongress „Eine Schule für Alle. Vielfalt leben!“ beweist mit all seinen Veranstaltungen – die wir hier dokumentieren – dass es keinen Grund gibt, Schüler zu sortieren und auszusortieren. Und deshalb gibt es auch keinen Grund, unseren Kindern das Recht auf Integration in die Regelschule auch nur einen Tag länger zu verweigern.

12. März 2010
mittendrin e.V.

GRUSSWORTE

Liebe Mitglieder des Vereins mittendrin e.V.,
liebe Eltern,

„EINE INKLUSIVE SCHULE IST EINE, DIE ALLE KINDER UND JUGENDLICHEN WILLKOMMEN HEISST.“

Diese Kurzformel steht beispielhaft für das ehrgeizige Ziel, für das sich der Elternverein mittendrin e.V. seit nunmehr vier Jahren intensiv einsetzt.

Inklusion tritt dabei für das Recht aller Schülerinnen und Schüler ein, unabhängig von ihren Fähigkeiten oder Beeinträchtigungen sowie von ihrer ethnischen, kulturellen oder sozialen Herkunft miteinander und voneinander in „einer Schule für alle“ zu lernen. Der Leitgedanke, dass verschieden sein normal ist, muss sich dabei in unserem gesellschaftlichen Bewusstsein weiter verfestigen. Ich bin der Auffassung, dass die individuellen Unterschiede der Schülerinnen und Schüler nicht als Last, sondern als Chance für das Lernen verstanden werden müssen. Gestützt durch die UN-Konvention und die dort beschriebenen Rechte der Menschen mit Behinderung, ist es mir wichtig, dass die sonderpädagogische Förderung so ausgebaut wird, dass Eltern eine wirkliche Wahlfreiheit haben und der Wunsch nach Unterrichtung an den allgemeinen Schulen, so auch den weiterführenden Schulen, erfüllt werden kann.

Ich werde mich weiter dafür einsetzen, dass sich die Rahmenbedingungen am Lern- und Lebensort Schule in Köln zukünftig noch stärker an den Bedürfnissen und Besonderheiten der Schülerinnen und Schüler ausrichten. Dabei freue ich mich über die gute, konstruktive und vertrauensvolle Kooperation mit dem Elternverein und hoffe, dass wir diesen Weg zum Wohle der Kinder in Zukunft weiter gemeinsam fortsetzen.

Mein Dank gilt dem gesamten Vorstand, allen Mitgliedern und Förderern des mittendrin e.V. für ihr großartiges Engagement zur Schaffung gleichberechtigter Bildungschancen für alle Kinder. Ich wünsche Ihnen, dass Ihre Erwartungen an den zweiten Kongress wieder übertroffen werden, Inklusion zunehmend als selbstverständlicher Bestandteil unseres Wertesystems wahrgenommen wird und wir die Herausforderung annehmen, diese Vielfalt zu leben.

DR. AGNES KLEIN

Dezernentin für Bildung, Jugend und Sport der Stadt Köln

GRUSSWORTE / FORTSETZUNG

Die GEW gratuliert dem Veranstalter mittendrin e.V. zu seinem Kongress in Köln. Bereits im Vorfeld zog er große öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, hat bundesweit Bedeutung erlangt und war bereits kurz nach seiner Ausschreibung ausgebucht. Dies unterstreicht, wie aktuell das Thema „inklusive Bildung in einer Schule für alle“ ist. Die Forderung von mittendrin e.V. nach Inklusion steht heute rechtlich auf der Basis der UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderungen, die die Bundesregierung und der Bundesrat 2009 ratifiziert haben. Seitdem findet eine breite öffentliche Diskussion um die Verpflichtungen aus dieser Konvention statt. Gemäß deren § 24 darf Menschen mit Behinderungen der Zugang zur allgemeinen Schule nicht mehr verwehrt werden.

Die bildungspolitische Position der GEW ist eindeutig: Wir wollen eine Schule für alle Kinder – Kinder mit Behinderungen gehören dazu! Als Gewerkschaft setzenwir uns natürlich auch für die Interessen der Beschäftigten bei dem Umbau unseres Schulsystems ein. Es geht darum, sie mitzunehmen, sie zu beteiligen und für gute Arbeitsbedingungen zu sorgen. Nur mit engagierten Pädagoginnen und Pädagogen können Kinder und Jugendliche eine gute und motivierende Schulzeit erleben.

Wir müssen feststellen, dass es bisher keine Veränderung des Schulgesetzes NRW zum Recht auf inklusive Beschulung gibt. Die Regierungskoalition konnte sich bisher auf keine gemeinsame Position für ein Elternwahlrecht einigen. Und weil die Rahmenbedingungen für die notwendigen Umstrukturierungsprozesse gemäß UN-Konvention nicht klar sind, befürchten die Beschäftigten, dass mit dem Pilotprojekt „Kompetenzzentren“ nur ein Sparmodell sonderpädagogischer Förderung eingeführt wird. Schritte zur Erweiterung des Gemeinsamen Unterrichts sind ebenfalls nicht zu erkennen. Das Beispiel der Neugründung einer Gesamtschule mit Gemeinsamem Unterricht in Köln-Nippes weist ins Gegenteil: Bei der Genehmigung der neuen Gesamtschule wurde der beantragte Gemeinsame Unterricht von der Bezirksregierung abgelehnt. Diese Entscheidung kann nur als ein Verstoß gegen Geist und Sinn der UN-Konvention verstanden werden.

Auf dem Weg zur Inklusion werden Eltern von Kindern mit Behinderungen mit Hilfe Ihres Kongresses der Politik deutlich machen, was sie für ihre Kinder wollen. Für den Kongress, der sich für die Umsetzung der UN-Konvention in tatsächliche Bildungspolitik einsetzt, wünsche ich Ihnen einen guten und vor allem erfolgreichen Verlauf.

ANDREAS MEYER-LAUBER

Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft
Nordrhein-Westfalen

Sehr geehrte Damen und Herren,

schon zum zweiten Mal findet in diesem Jahr der Kongress „Eine Schule für Alle“ statt. Ich erinnere mich noch gut an den ersten Kongress im November 2007.

Seitdem hat sich viel verändert: die UN-Behindertenrechtskonvention mit dem Artikel 24 ist seit einem Jahr geltendes Recht in Deutschland. Nicht zuletzt aufgrund Ihres Engagements sind Eltern mutiger geworden, ihre Rechte einzufordern. Seit November 2007 gab es mehrere Gerichtsurteile, die Eltern behinderter Kinder im Kampf um eine gemeinsame Beschulung stärken. Gute Beispiele zeigen, wie es gelingen kann, sich selbst unter den herrschenden Rahmenbedingungen erfolgreich auf den Weg zu machen.

Auf der anderen Seite täuschen diese positiven Entwicklungen nicht darüber hinweg, dass wir noch einen langen Weg vor uns haben, bis Inklusive Schule in Deutschland Realität wird. Die Planungen zur Umsetzung der Konvention in die Schulgesetze der Länder sind bisher halbherzig. Ängste und Vorurteile versperren den Weg zur Teilhabe. Nach wie vor entscheiden nicht die Eltern, sondern Verwaltungsmitarbeiter über die Schulkarriere behinderter Kinder, werden für den Besuch einer allgemeinen Schule notwendige Hilfsmittel nicht genehmigt und müssen Eltern behinderter Kinder jedes Schuljahr wieder für einen Verbleib ihres Kindes an der Regelschule kämpfen. Nach wie vor werden in Deutschland deutlich weniger behinderte Kinder inklusiv beschult als in unseren Nachbarländern. Nach wie vor wird behinderten Kindern ein Menschenrecht aberkannt!

Es gibt also eine Menge zu tun. Ich weiß, dass auch dieser Kongress wieder einen wichtigen Beitrag dazu leisten wird, diese Tatsachen vehement anzuprangern und konsequent auf ihre Beseitigung zu drängen. Gleichzeitig können Eltern und Fachleute hier voneinander lernen, was nötig ist, um Inklusion in der Schule tatsächlich zu leben. Nur so kann der eingeschlagene Weg auch erfolgreich sein. Ich wünsche Ihnen für Ihre Arbeit viel Kraft und Erfolg.

Mit herzlichen Grüßen

HUBERT HÜPPE

Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen

DEUTSCHLAND UND DIE

UN-BEHINDERTENRECHTSKONVENTION

Prof. Vernor Muñoz

Es ist mir eine große Ehre, heute auf diesem Kongress sprechen zu dürfen. Wie Sie wissen ist die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen die erste Konvention der Vereinten Nationen überhaupt, die sich direkt an Menschen mit Behinderungen und ihre Familienangehörigen wendet. Ich möchte all diesen Menschen und ihren Familienangehörigen hier und heute meinen Dank aussprechen für die hervorragende Arbeit, die sie geleistet haben. Wenn wir mit der inklusiven Bildung bisher noch nicht da sind, wo wir eigentlich hinwollen, liegt es daran, dass behinderte Menschen und ihre Familienangehörigen bisher nicht genügend gefragt worden sind. Dabei, das muss ich hier ganz deutlich sagen, sind Sie die Experten. Dank Ihnen wissen wir, dass die Bildung ein Menschenrecht ist, keine Dienstleistung oder gar ein Privileg, sondern ein Menschenrecht.

Leider ist Bildung für viele immer noch eine Dienstleistung oder gar ein Privileg, was dazu führt, dass Bildung häufig als ein Instrument angesehen wird, das den Gesetzen des Marktes zu gehorchen und den Interessen der Wirtschaft zu dienen hat. Wenn die Gesellschaft und der Staat Bildung als eine Dienstleistung oder ein Privileg ansehen, dann kommen sie ihren Verpflichtungen nicht nach. Dann geben sie zu wenig Geld für Bildung aus, verlangen Schulgeld von den Familien und kürzen viele der dringend notwendigen Ausgaben für die Bildung.

Dieses Ungleichgewicht führt zu einem eklatanten Widerspruch: Auf der einen Seite propagieren sie die falsche Idee, der wirtschaftliche Aufschwung sei das Hauptziel von Bildung, auf der anderen Seite verweigern sie vielen Menschen den Zugang zum Arbeitsmarkt. Diese utilitaristische Logik hat dazu geführt, dass behinderte Menschen als nicht produktiv angesehen wurden und werden. Und dieses Klischee ist wahrscheinlich einer der Hauptgründe, weshalb Menschen mit Behinderung das Recht auf Bildung abgesprochen wurde.

Seriösen Schätzungen zufolge gibt es 78 Millionen Mädchen und Jungen auf der Welt, die keinen Zugang zu Bildung haben. Von diesen wiederum haben 25 Millionen eine Behinderung. Nur ca. 5% dieser 25 Millionen Kinder haben überhaupt eine Chance auf Bildung. Die Mehrheit derer, die keinen Zugang zur Bildung haben, lebt in den armen Ländern.

Dass Menschen mit Behinderung das Recht auf Bildung zugestanden wird, ist also die Ausnahme und das fördert eine doppelte Unmoral zutage: Auf der einen Seite kommt der Staat seinen Verpflichtungen gegenüber behinderten Mitmenschen nicht nach, auf der anderen Seite werden die Menschen, die von jeher benachteiligt waren, noch weiter benachteiligt.

Wer es als Mensch mit einer Behinderung schafft, eine Schule zu besuchen, stößt abermals auf eine Reihe von Konditionierungen, Vorurteile und Schwierigkeiten und kann sich nicht so entwickeln, wie es ihm eigentlich zustehen würde. In den Lehrplänen ist die individuelle Förderung leider kein zentrales Thema, was die Ungleichheit zwischen den Menschen in den Schulen weiter verschärft. Das Hauptmerkmal dieser Schieflage ist, dass Bildungseinrichtungen keine Ahnung von Menschenrechten haben. In den Schulen führen diese Rechte im Schulalltag ein Schattendasein. Wir müssen dafür kämpfen, dass die Regelschulen sich ändern und alle Schüler aufnehmen. Es geht nicht darum, dass die Schüler sich ändern: Die Schulen müssen sich ändern.

Der Aufbau eines inklusiven Bildungssystems ohne die aktive Beteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung ist schlicht und einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Inklusion geht nicht nur Menschen mit Behinderung etwas an, sondern wir müssen bei diesem Thema auch von den Rechten der Menschen ohne Behinderung reden, zusammen mit Behinderten lernen zu dürfen. Inklusion darf sich nicht auf eine bestimmte Schulform oder auf eine bestimmte Stufe der schulischen Bildung oder auf bestimmte Schülerinnen und Schüler beschränken, weil Inklusion keine Modeerscheinung ist. Inklusion gehört zu einem Bildungsprozess unbedingt dazu. Allein mit inklusiver Bildung gelingt es, ein Bildungssystem zu schaffen, in dem Respekt und die Achtung der Rechte aller Schülerinnen und Schüler zur Grundausstattung gehören. Deshalb ist es unredlich, einen inklusiven Kindergarten oder eine inklusive Vorschule aufzubauen, dabei aber das Gymnasium außen vor zu lassen.

Gleichstellung ist eine strukturelle Forderung und sie muss sich auf alle Aspekte des Lebens beziehen. Wir sollten sie nicht nur in den Schulen, sondern auch in unseren Familien und am Arbeitsplatz leben. Denn wir können nicht erwarten, dass eine Schule inklusiv ist, wenn in den Familien und am Arbeitsplatz Ungleichheit und Ausgrenzung herrschen. Der Kampf gegen Ausgrenzung und Ungleichheit ist auch ein Kampf für die Rechte der Frauen. Die Männer müssen ebenfalls etwas ändern, um einen Wandel in der Gesellschaft herbeizuführen. Der Kampf der Menschen mit Behinderung ist ein Kampf gegen das Patriarchat. Und wenn man diesen Begriff benutzt, bezieht man sich nicht ausschließlich auf die Beziehungen zwischen Mann und Frau, sondern wendet sich gegen alle Formen der Ungleichheit, bei denen dem Einen ein höherer Wert zugemessen wird als dem Anderen.

Wenn wir also von einer inklusiven Bildung sprechen, müssen wir zwei Prozesse in Betracht ziehen: Auf der einen Seite existiert die traditionelle Bildung, die auf einem patriarchalischen System beruht, die mehr spaltet, als dass sie verbindet, und die utilitaristisch ausgerichtet ist. Das ist nicht die Bildung, die wir wollen, wir wollen eine Bildung, die für alle Menschen, auch für behinderte Menschen, gut und angemessen ist. Inklusion und Integration sind nicht das Gleiche und schon gar keine Synonyme. Denn wenn behinderte und nicht behinderte Kinder unter einem Dach, aber in verschiedenen Klassenräumen lernen, verschärft das nur die Ausgrenzung behinderter Menschen. Inklusive Bildung bedeutet also, dass Schulen sich radikal ändern müssen. Schulen können nicht einfach weitermachen wie bisher.

Wenn man mich fragt was sich in einer Schule ändern muss, damit sie eine inklusive Schule wird, dann lautet meine Antwort, dass man nur eine Sache verändern muss. Eine winzige Kleinigkeit.

ALLES!

Es ist unmöglich, die Bildung innerhalb eines Systems zu demokratisieren, und allen zugänglich zu machen, das genau dies in der Vergangenheit verhindert hat.

Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung erkennt also nicht nur die Rechte von Menschen mit Behinderung an, sondern sie ist die große Chance, das Bildungssystem grundlegend umzubauen. Mit dieser Konvention, die 15 Jahre nach der Erklärung von Salamanca verabschiedet wurde, stehen wir am Scheideweg. Und nur die Menschen mit Behinderung und ihre Familien können diese neue Richtung einschlagen. Und dieser Wandel, für den wir uns einsetzen, bezieht sich nicht nur auf die Lehrpläne oder auf den barrierefreien Zugang zur Schule. Selbst wenn viele Schüler mit Behinderung an den Regelschulen unterrichtet werden dürften, wir aber gleichzeitig an den aktuellen Strukturen nichts änderten, würde sich nichts Wesentliches verändern. Wer also glaubt, das Recht auf Bildung erschöpfe sich in dem Bau einer Rampe, täuscht sich.

Immer mehr Menschen auf der Welt haben inzwischen Zugang zu Bildung. In den letzten zehn Jahren haben über 20 Millionen Mädchen und Jungen eine Schule besucht, die diese Möglichkeit zuvor nicht hatten. Tatsache ist jedoch auch, dass noch niemals in der Vergangenheit so viele gut ausgebildete Menschen andere Menschen getötet haben wie jetzt. Tatsache ist auch, dass niemals zuvor so viele gut ausgebildete Menschen andere Menschen so schlecht behandelt haben wie jetzt. Niemals zuvor gab es so viel Gewalt von gebildeten Menschen wie heute.

Die zentrale Frage heißt deshalb: Wozu brauchen wir eigentlich Bildung? Bildung ist nicht etwa dazu da, die Probleme der Arbeitgeber zu lösen. Bildung ist dazu da, die Menschenwürde zu verteidigen.

Es ist unmöglich, das Problem mangelnder Menschenwürde zu lösen, wenn nicht alle Menschen mit einbezogen werden. Und es ist unmöglich, die Ungleichheit unter den Menschen aufzuheben, wenn wir nicht eine inklusive Gesellschaft aufbauen, in der alle den gleichen Zugang zu den Bildungseinrichtungen haben. In einem Bildungssystem, in dem Kinder schon früh in Schubladen gesteckt werden, in dem Eltern kein Mitspracherecht haben, wird es sehr schwierig sein, gleiche Chancen für alle zu schaffen. Die UN-Konvention gibt Eltern das bedingungslose Recht zu entscheiden, welche Art von Bildung ihre Kinder haben sollen. Deshalb ist es notwendig, dass die einzelnen Staaten ihre Verantwortung wahrnehmen und dieses grundlegende Menschenrecht in die Tat umsetzen.

Ich möchte meinen Vortrag mit einer kleinen Geschichte beenden, die ich immer wieder gerne erzähle, weil sie so lehrreich ist. Vielleicht kennen einige von Ihnen diese Geschichte bereits – ich erzähle sie aber trotzdem bei jeder sich bietenden Gelegenheit noch einmal. Ich erzähle diese Geschichte so gerne, weil sie zeigt, warum inklusive Bildung sinnvoll ist und warum es notwendig ist, ein System der inklusiven Bildung aufzubauen.

Diese Geschichte handelt von den Paralympics, die immer nach den olympischen Spielen stattfinden und an denen Menschen mit Behinderungen teilnehmen. Es war das Finale über 400m Sprint. Die jungen Sprinterinnen hatten schon einige Ausscheidungsrennen hinter sich gebracht und gewonnen. Sie können sich wahrscheinlich vorstellen, wie nervös, begeistert und stolz sie waren, das Finale erreicht zu haben, zumal das Stadion absolut ausverkauft war.

Der Startschuss fällt, die Wettkämpferinnen rennen los und das ganze Stadion springt auf und feuert sie an. Doch kurz vor Ende des Rennens strauchelt eine der Sportlerinnen und stürzt. Sie können sich sicherlich vorstellen wie sich die Sportlerin gefühlt hat, wie enttäuscht und traurig sie war, dass alle ihre Träume so kurz vor dem Ziel plötzlich geplatzt waren.

Das gesamte Stadion verstummte.

Vielleicht war es wegen dieser Stille oder aus irgendeinem anderen Grund, dass sich alle anderen Mitstreiterinnen plötzlich umdrehten und auf das gestürzte Mädchen schauten. Und stellen Sie sich vor, alle anderen Sportlerinnen liefen zurück, halfen ihrer Mitstreiterin auf die Beine und rannten mit ihr zusammen über die Ziellinie.

Ich weiß nicht, ob die Geschichte wahr ist, aber eigentlich ist mir das auch egal. Das Wichtigste an dieser Geschichte sind die Lektionen, die ich daraus gelernt habe.

Erste Lektion: Bildung ist kein Wettbewerb. Denn Wissen und Lernen sind Gemeingüter unserer Gesellschaft. Der schulische Erfolg des einen darf nicht auf dem Misserfolg des anderen beruhen. Wenn es einem Menschen verwehrt wird zu lernen, dann ist er zum Tod verurteilt.

Zweite Lektion der Geschichte: Die besten Lehrerinnen und Lehrer sind meistens die Mädchen und Jungen selbst. Das heißt also, dass wir Erwachsene die Verpflichtung haben, unsere verlorene Kindheit zurückzuholen, um einfache Antworten auf komplizierte Fragen geben zu können. Wenn wir versuchen, wieder so zu handeln und zu denken wie Kinder, heißt das nicht, dass wir kindisch werden, sondern dass wir unsere Seele stärken.

Dritte Lektion: Wenn wir die großen Veränderungen betrachten, die sich in der Menschheitsgeschichte ereignet haben, die ganz großen Erneuerungen oder Erfindungen, dann sehen wir auf allen Gebieten, dass sie nicht von der Mehrheit hervorgebracht wurden, sondern von einer Minderheit, von ganz besonderen Menschen. Das heißt also, die Rechte von Menschen, die anders sind, zu schützen, die Rechte von Menschen mit Behinderung zu schützen, ist nicht nur eine Frage der Moral, sondern die Garantie dafür, dass die Menschheit überlebt. Diese Rechte nicht zu schützen, wäre schierer Wahnsinn.

Vierte und letzte Lektion dieser Geschichte: Wir sollten alles daran setzen, eine Gesellschaft aufzubauen, in der, immer wenn wir stolpern, jemand anderes in der Nähe ist, der uns wieder aufhilft. Dankeschön!

ZEIT FÜR DIE SCHULE FÜR ALLE

Dr. Irmtraud Schnell

„Alle Stunden fasse mit beiden Armen. So wirst du weniger vom Morgen abhängen, wenn auf das Heute du die Hand legst.“ (Seneca)

1. BILDUNG, BILDUNGSPOLITIK, GESELLSCHAFT UND ZEIT

Bildung und Zeit wurden zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Verhältnissen zueinander gesehen – seit einigen Jahren steht die Beschleunigung von Prozessen im Mittelpunkt – ob es dabei um Bildung geht oder junge Menschen vor allem als Orte betrachtet werden, in denen Wissen angehäuft wird, stellen Erziehungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in Frage (z.B. Wimmer 2000, Döpinghaus 2009). Die vom Druck globaler Konkurrenz und globaler Steuerung von Bildungsprozessen überrollte Bildungspolitik folgt dem ökonomischen Paradigma und propagiert Qualitätsverbesserung, ohne dass es eine Verständigung darüber gäbe, was Qualität von Bildung über das Bestreben hinaus, bei der nächsten Vergleichsstudie besser abzuschneiden, eigentlich ausmache. Das Feld ist sehr komplex und ich kann nur einige Schlaglichter darauf werfen. Welche langfristigen gesellschaftlichen Folgen die kurzfristig ergriffenen Maßnahmen haben können beschreibt z.B. Münch (2009), der als Folge von modularisierten und durchorganisierten Bildungsgängen eine frühe Auslese von Eliten auf der einen und einer neuen Unterschicht der Geringqualifizierten auf der anderen Seite sieht. „Die Heranbildung einer Elite durch systematisch organisierte Programme hat jedoch ihren Preis. Sie geschieht auf Kosten der frühzeitigen Schließung von Karrierewegen nach oben. Damit fehlt es aber auch in den Spitzenpositionen an eigenständigen Charakteren mit gesellschaftlicher Verankerung. Es mangelt dann den Führungskräften sowohl an Originalität und Kreativität als auch an tief in der Biographie verwurzelter Bindung an die Gesellschaft“ (Münch 2009, 88 f.). Wenn über Bildung keine Verständigung erzielt werde und der gemeinsame Nenner nur noch darin bestünde, sie als Investition in die Zukunft zu betrachten, gerate „Bildung zum effizienten Instrument der Dienstbarmachung von Menschen und ihres Nutzens als volkswirtschaftlich ertragreiches Humankapital“, so Döpinghaus (Döpinghaus 2009, 167). Es gehe dann eher um die Anpassung an vorgegebene Ordnungsmuster und um die Ausbildung von Kompetenzen für solche Anpassungsleistungen (vgl. Döpinghaus 2009, 167), als dass Bildung im Verhältnis zu Gegenwart, Zukunft und vor allem im Hinblick auf alle Kinder und Jugendlichen betrachtet würde. Döpinghaus (a.a.O., 168) stellt fest, dass so der Bildungsbegriff seine politische kritisch-widerständige Dimension verliere und Bildung zur Pflege, Verwaltung und Kontrolle einerbestehenden sozialen Ordnung diene – darauf komme ich am Ende zurück.

Wie es als Vorbedingung jedes vernünftig-verantwortlichen Lebens gilt (vgl. Bollnow 1977, 222), wäre eine Planung für Bildung vorzunehmen, der eine kritische Sicht auf die Lage von Erziehung und Bildung im Land zu Grunde liegt.

Die Verantwortung für Erziehung und Bildung aller Kinder ist in unserem deutschen Bildungssystem aber eine geteilte (z.B. zwischen Bund und Ländern, Kommunen als Schulträger, zwischen Gymnasium, Real-, Haupt- und Gesamtschule). Keiner der Akteure muss die ganze Verantwortung übernehmen und vielleicht liegt darin der Grund für das Scheitern so vieler Schülerinnen und Schüler und für unsere vergleichsweise geringe Anzahl von Spitzenschülerinnen und – schülern. Die Tatsache, dass mehr als 20% der jungen Menschen in unserem Land in ihrer Schullaufbahn nicht die Grundlagen, z.B. eine hinreichende Lesekompetenz, für Lebenstüchtigkeit bzw. Ausbildungsfähigkeit erhalten, ist eine Katastrophe – nicht nur, weil sich das in einem demokratisch verfassten Staatswesen nicht gehört, sondern auch, weil die Folgen uns in unangenehmer Weise einholen werden.

Die Bildungspolitik hat sich darauf geeinigt, durch schulformbezogene Standards das Leistungsniveau des deutschen gegliederten Schulsystems zu heben – bislang ohne durchschlagenden Erfolg. Sie nimmt damit die Zeit junger Menschen in einer ganz bestimmten Weise in Besitz – davon später. Seit Jahren kommt es zu einer Auslagerung der Pädagogik aus der Schule in vielerlei Projekte – Gewaltprävention, Zeitmanagement usw. – anstatt das ganze System vom Kopf auf die Füße zu stellen, d.h., von den Kindern und ihren vielfältigen Möglichkeiten und Bedürfnissen her zu denken. Unberührt davon bemühen sich viele Schulen, allen ihren Schülerinnen und Schüler, deren Lernausgangslagen berücksichtigend, gute Startchancen für ihr Leben zu geben. Weil sie dazu die Wirkungen der standardisierten Vorgaben abfedern müssen, bewegen sie sich mitunter im rechtsfreien Raum, wie wir heute Abend hören werden.

Wenn wir von der Schule für alle sprechen, geht es uns um eine andere, eine neue Ausrichtung für Unterricht, für Schulen, für das Bildungssystem und auch um gesellschaftliche Veränderungen im Sinne der Demokratie – um nicht mehr, aber auch nicht weniger!

Wir wissen, dass das gemeinsame Lernen für alle eine Bereicherung darstellen kann, dass separiertes Lernen allen Schülerinnen und Schülern hingegen wichtige Erfahrungen vorenthält und daher die Integration in die Gesellschaft nicht vorbereitet, und wir wissen, dass die Effizienz separierten Lernens im Hinblick auf nachhaltige sozial-emotionale wie kognitive Entwicklungen nicht bewiesen ist.

Es geht jetzt darum, die politische Auseinandersetzung um Erziehung und Bildung für alle zu führen. Grundlegende Änderungen im Bildungssystem sind erforderlich, wenn wir nicht wieder bei der Integration einzelner Schülerinnen und Schüler stehen bleiben wollen. Es geht darum, Entscheidungen zu treffen bzw. zu erstreiten. Es ist Zeit für die Schule für alle und Zeit für eine öffentliche Schule, in der ein anderer Umgang mit der kostbaren Lebenszeit aller jungen Menschen gepflegt wird. Es ist Zeit für eine Gesellschaft, die ihre Aufgabe für alle Mitglieder der zukünftigen Generation ernst nimmt.

Janusz Korczak, ein vor etwa 100 Jahren ziemlich unzeitgemäßer, leidenschaftlicher Vertreter der Rechte von Kindern, stellte fest: „Das Kind wird nicht erst Mensch, es ist schon einer“ und unterstrich so die Bedeutung der Lebensphasen vor dem Erwachsensein als eigene Zeit von jungen Menschen, die nicht von Erwachsenen vereinnahmt werden dürfe.

Bei der Formulierung seiner Magna Charta Libertatis dachte er wohl nicht an Kinder und Jugendliche mit Behinderung, aber an überbehütete, wie er ihnen in seiner kinderärztlichen Praxis begegnete und vor allem an die in verschiedener Hinsicht gefährdeten und vernachlässigten, die mit ihm in den von ihm später gegründeten Waisenhäusern, zuletzt im Warschauer Ghetto, lebten und zur Demokratiefähigkeit erzogen wurden.

Er forderte:         Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag
Das Recht des Kindes so zu sein, wie es ist
Das Recht des Kindes auf seinen Tod

Korczaks Anspruch kann als Richtschnur für die didaktisch-methodische Umsetzung einer Schule für alle gelten – auf das von ihm geforderte Recht des Kindes auf seinen Tod, das ich als Recht des Kindes auf eine eigene, auch gefahrvolle Entwicklung verstehe, werde ich hier nicht eingehen.

Wie könnte also eine Schule, wie könnte Unterricht gestaltet werden, die einerseits die Zeit von Kindern als ihre Lebenszeit respektieren, andererseits die im Sinne der Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen allen Mädchen und Jungen Zugang zum allgemeinen Schulsystem gewährt und angemessene Vorkehrungen trifft, um für alle eine erfolgreiche Bildung zu ermöglichen – und nicht nur zu erleichtern, wie es die amtliche deutsche Übersetzung für „to facilitate“ vorsieht?

Die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler mit Sonderpädagogischem Förderbedarf sind solche mit Förderbedarf Lernen. Dieser definiere sich im zeitlichen Abstand der Leistungen eines Kindes zur Klassennorm um zwei Jahre, so erläuterte es jüngst ein leitender nordrheinwestfälischer Beamter. Die inklusive Schule entwickelt ein anderes Verhältnis zur Lebenszeit von Kindern. Ich will schon hier auf die Gefahr hinweisen, durch eine flexiblere Zuordnung von Leistung und Zeit die behördliche Wahrnehmung und Erfüllung besonderen Unterstützungsbedarfs beim Lernen einzuschränken – da ist m.E. Wachsamkeit geboten. Schulen mit einem hohen Anteil belasteter Kinder brauchen eine generelle personelle Unterstützung. Die Inklusionsbewegung darf die Armen, die Vernachlässigten, die Geflohenen und die Unbequemen, also die, die ihren Bildungsweg mit ungünstigeren Ausgangslagen beginnen, nicht wieder aus dem Blick verlieren. Die Schule, die diese Kinder brauchen, ist inklusionstauglich.

2. DAS RECHT DES KINDES AUF DEN HEUTIGEN TAG

SCHULE FÜR ALLE: GEGEN EINE EINSEITIGE INDIENSTNAHME DER SCHULE

Den Bildungsaufstieg der 70er Jahre verdankten die Betroffenen ökonomischen Interessen, daneben galt Bildung aber auch als Bürgerrecht für alle, von der FDP besonders nachdrücklich vertreten. Zur Zeit rückt der Qualifizierungsgedanke wieder in den Vordergrund, als Humankapital neben „Arbeit“ und „Kapital“ eigenständiger Produktionsfaktor.

Dagegen hat es der Anspruch eines Begriffs von Qualifikation, der nicht nur ökonomisch direkt relevante Prozesse umfasst, sondern auch auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und auf persönliche Lebensführung gerichtet ist, schwer, sich zu behaupten. Die seit den 90er Jahren provozierte Stimmung sowie die ergriffenen bildungspolitischen Maßnahmen zielen vor allem auf die beschleunigte Optimierung des „Humankapitals“ im oberen Leistungsspektrum. Wissenschaftliche Gremien, wie das Konsortium Bildungsberichterstattung und der Wissenschaftliche Beirat der KMK für die Gemeinschaftsaufgabe „Feststellung der Leistungsfähigkeit im internationalen Vergleich“ (Vorsitz Jürgen Baumert) kritisieren daher die „hohe Stabilität zentraler Problemlagen“, allerdings eher im Hinblick darauf, dass die Ergebnisse des deutschen Bildungssystems davon beeinträchtigt werden (Wissenschaftlicher Beirat 2008,6). Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe aller jungen Menschen erforderte auch Maßnahmen im unteren Leistungsspektrum, die wir einfordern.

SCHULE FÜR ALLE: FÜR DIE PRIORITÄT VON ERZIEHUNG UND BILDUNG

In seiner neuen Theorie der Schule beschreibt Helmut Fend die Verteilungsfunktion des Bildungswesens als das zentrale „Rüttelsieb“ in der Verteilung der Berufspositionen von einer Generation auf die andere. Die soziale Selektivität des Bildungswesens sei erneut ein wichtiges Thema geworden, die Prozesse, die innerhalb der „black box“ schulischer Selektionsentscheidungen abliefen, seien zu rekonstruieren. Zu präzisieren sei, wie die Akteure Lehrpersonen, Eltern und Gleichaltrige dabei zusammenspielten (Fend 2006, 44; vgl.auch Ditton 2007).

Die soziale Selektivität unseres Bildungswesens kann deshalb so tiefgreifend wirken, weil das ganze Bildungswesen auf Selektion gepolt ist. Die selektionsfreie Spanne ist viel zu kurz, als dass Erziehung und Bildung ihre Wirkung entfalten könnten. Wir brauchen eine andere Prioritätensetzung – sie würde sich zuerst einmal in einer anderen Kultur der Rückmeldung von Leistungen äußern, welche die Arbeit von Kindern als das Produkt ihrer je möglichen Anstrengung zu einem bestimmten Zeitpunkt würdigt. Diese Kultur legte den Grund für die inklusive Schule.

SCHULE FÜR ALLE: BILDUNG BRAUCHT MUSSE

Wie sich die Beschleunigung des Lebens auf Bildungsprozesse auswirkt, wird noch wenig bedacht – der vermeintliche Druck, sie zu beschleunigen, steht zu sehr im Mittelpunkt. Auch in diesem Zusammenhang bietet die Hirnforschung gute Anhaltspunkte für Unterricht und Schule, wenn sie feststellt, dass unser Gehirn immer wieder Zeiten des Nichtstuns brauche: „ein gewisser Leerlauf im Kopf ist für unsere geistige Stabilität geradezu unabdingbar“ (Schnabel 2009, 33). Für Bildungs- und Erfahrungsprozesse sei die Zeitstruktur der Verzögerung konstitutiv, so auch Döpinghaus. „Im Moment der Verzögerung entstehen allererst die Erfahrungsspielräume, die Bildungsprozesse ermöglichen, die nicht gewissermaßen in der Reaktion auf eine Frage bestehen, sondern in einer Antwort, die die Frage als Fragliches selbst umgreift. Menschen betrachten und behandeln sich als Wesen, die im Rahmen einer Welt des Sinns und der Bedeutung antworten“ (Döpinhaus 2009, 176). In seinem Beitrag „Das richtige Verhältnis zur Zeit“ (1977) stellt Bollnow die Zeit, die uns der menschlichen Vollendung näher bringt, gegen das Argument der verrinnenden Zeit.

„Immer weniger Leute werden wissen, was sie tun, indem sie lernen, weshalb sie so tun. Die Handlung verkümmert zur Reaktion, je direkter der Weg von der Theorie zur Praxis ist, der gesucht wird“, stellt Blumenberg fest und beschreibt den Typus gegenwärtiger Bildung als Anpassung und, in Bezug auf Marquard, als „Inkompetenzkompensationskompetenz“ (Blumenberg, zit. nach Döpinghaus 2009, 175).

Es gehe, so Döpinghaus, in Bildungsprozessen darum, sich in Frage stellen zu lassen, und so den Widerständigkeiten und einem fragenden Denken Raum zu geben. Als Ergebnis komme es nicht darauf an, dass alle gleich aus ihnen herauskommen, sondern dass jeder anders herauskomme, als er hineingegangen ist.

Die Schule für alle hat es mit Kindern unterschiedlicher Auffassungsgabe, Lebenstempi und Anpassungsmöglichkeiten zu tun. Gerade darin könnte die Chance liegen, Bildungsprozessen lange Weile zu geben.

SCHULE FÜR ALLE: FÜR DIE BERÜCKSICHTIGUNG BELASTENDER LEBENSLAGEN

Wenn Kinder ins Schulalter kommen, sind sie längst keine unbeschriebenen Blätter mehr. Viele schleppen schon ein schweres Bündel mit sich, leiden unter Erfahrungen von Misshandlung oder Missbrauch, unter Mangelernährung und anderen materiellen Mangellagen, unter Vereinnahmung durch elterliche Überbehütung, an seelischem Unbehaustsein, an zeitlicher Überregulierung, unter nicht einschätzbaren zeitlichen Abläufen oder tragen Traumata der Flucht. Wenn ihnen allen erfolgreiches Lernen ermöglicht werden soll, gilt es, Schule als sicheren Ort der Regeln und verlässlichen Ordnungen mit zeitlichen Geländern zu gestalten. Das gelingt einerseits im überschaubaren Wechsel von gezielter Anstrengung und Freiheit, andererseits in Zusammenarbeit mit dem Umfeld, zu dem Schauspieler und Sänger ebenso gehören wie Sportvereine und die Polizei. „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“, oder mit Lauff: Wir müssen uns wieder zu einer elterlichen Gesellschaft entwickeln.

3. DAS RECHT DES KINDES SO ZU SEIN, WIE ES IST

SCHULE FÜR ALLE: ERZIEHUNG UND BILDUNG FÜR ALLE

Betrachten wir Erziehung und Bildung für die Verschiedenen im Horizont der Zeit, wie wir es in vielfältiger Weise bei Seitz (2005) verfolgen können, stellen unterschiedliche Entwicklungsverläufe wie Zeiterfahrungen von Kindern eine Herausforderung für Didaktik und Methodik dar.

Kulturen im Umgang mit Tages- und Jahreszeiten, verschiedene religiöse Orientierungen, familiäre zeitliche Essensgewohnheiten, Schichtarbeit von Eltern, Schlafgewohnheiten von Geschwistern und Eltern, aber auch eigene Beweglichkeit bzw. Bewegungsbedürfnisse wirken auf die Zeitwahrnehmung und -erwartung von Kindern. In der Schule kommen sie alle miteinander ins Spiel und müssen dort in der zeitlichen Gestaltung des Schultages sowohl ein Echo finden als auch als neue gemeinsame Kultur entstehen – Schulen haben dafür ganz verschiedene Wege gefunden (vgl. z.B. Grundschule Harmonie in Eitorf und Grundschule Berg Fidel in Münster). Montags wird in vielen Schulen der Plan der Woche beraten, täglich Besonderheiten des Tages, auf die der „Tagesmeister“ hinweist. In der Grundschule Berg Fidel Münster erlebte ich, dass jeden Morgen in der Phase der Freiarbeit Kinder selbst bestimmen, wann sie in ihrem Arbeitsprozess eine Pause einlegen, um ihren eigenen Rhythmus kennen zu lernen. Im täglichen Lernklassenrat, der sich an die Freiarbeitsphase anschließt, werden die individuelle Zufriedenheit mit der eigenen Leistung und Zeiteinteilung benannt und auf ein allgemeines Niveau gehoben – das gilt für das Kind mit geistiger Behinderung genau so wie für besonders schnell auffassende Kinder.

SCHULE FÜR ALLE: ERZIEHUNG UND BILDUNG ANSTATT UND VOR FÖRDERUNG

Merkwürdig, im Hinblick auf die Beeinflussung der Entwicklungsprozesse von Kindern mit Behinderungen wird in der Regel von Förderung gesprochen, gar von individueller Förderung. Der Begriff verdankt sich wohl vor allem dem Wunsch, besondere Einrichtungen zu rechtfertigen und dauerhaft zu erhalten. Dabei werden allgemeine Schulen wie einstmals als unveränderbare Größen unterstellt, an denen Individuen scheitern. Das Versagen wird ihnen zur Last gelegt, nicht der Schule. Ich habe mich immer darüber gewundert, dass sich die Fachverbände im sonderpädagogischen Bereich nicht vehementer für eine auf Individuen ausgerichtete allgemeine Schule einsetzen. Mit dem Begriff Förderung verbindet sich in aller Regel ein reduziertes Bildungsangebot in einem sozial eingeschränkten Rahmen. Sie brauchen sich nur einen Moment klar zu machen, welche Quelle von Anregungen eine singende und musizierende Schulklasse für alle Beteiligten darstellt, oder der Vortrag erfundener Geschichten oder verschiedene Wege zu mathematischen Lösungen oder die Beratung und Arbeit an einem Projektthema. Alle Kinder und Jugendlichen haben ein Anrecht auf Erziehung und Bildung in der Gemeinsamkeit als Grundlage für ein möglichst selbstbestimmtes privates und berufliches Leben und es ist ein Trugschluss zu meinen, Kinder lernten mehr, wenn wir das Angebot begrenzen – sie brauchen, manche besonders viele und aufwendige, manche weniger, jedenfalls ausreichende und gute Strukturierungshilfen – das ist der Anspruch an alle Pädagoginnen und Pädagogen.

SCHULE FÜR ALLE: ACHTUNG VOR DER (HARTEN ENTWICKLUNGS-) ARBEIT VON KINDERN

Wenn Kinder sich entwickeln, sei es unter dem Druck der Erwartungen einer ganzen Großfamilie, deren einziger Sprössling er oder sie ist, sei es in einem Leben voller Unruhe am Tag und in der Nacht, um nur zwei Beispiele zu nennen, immer ist das Heranwachsen mit der harten Arbeit verbunden, ein eigener Mensch zu werden. In der Schule geht es dann darum, diese Entwicklungsarbeit wenigstens nicht zu stören. Die Rückmeldung zu Arbeitsergebnissen der Kinder dürfen sich daher nicht in erster Linie an den Leistungen anderer ausrichten, sondern an den je eigenen Fortschritten und an sachlichen Anforderungen (vgl. Jürgens 2005). Erwartungen an das Lerntempo werden im Respekt vor dem Bemühen der Kinder ausgesprochen. Gemeinsame Gedanken zu individuellen Lösungen tragen zur Metakognition aller bei. Immer geschieht Leistungsbewertung im Dialog, damit Kinder ihre eigene Entwicklung verstehen und womöglich steuern können, wie überhaupt Unterricht im Ganzen auf Dialog und Partizipation setzt, auch wenn es um Instruktion geht (Sonntag 2009).

SCHULE FÜR ALLE: ZEIT UND RAUM FÜR UNTERSCHIEDLICHE ENTWICKLUNGEN

Kognitive und auch emotional-soziale Entwicklungen können angeregt und – hoffentlich – letzten Endes bewirkt, aber nicht erzeugt werden. Sie werden negativ beeinflusst, wenn wir den Verlauf von außen und nicht verstehend bewerten. Es gilt, Unterricht so zu konzipieren, dass individuelle Entwicklungen und der Erwerb von Techniken befördert werden, gleichzeitig aber die gemeinsame Arbeit der Kinder als wichtigste Quelle der Anregung erhalten bleibt. Die Arbeit der Lehrkräfte besteht also vor allem darin, die richtigen Anregungen zum richtigen Zeitpunkt zu geben und Spielraum für eigene Vorhaben und für Zusammenarbeit zu lassen.

In der Grundschule Berg Fidel arbeiten Kinder in der freien Arbeit an bestimmten individuell weiterführenden sprachlichen und mathematischen Aufgaben, im „Freien Forscher Club“ in Kooperation mit anderen an selbst gewählten Themen. Unterstützend dabei wirkt eine Vorlage, die ihnen hilft, Techniken der Erkundung zu erwerben. Es ist eine Lust, einem solchen Forscherclub beizuwohnen – inmitten des Feuereifers.

So ergibt sich – im Kreis der Integrationsforscherinnen und -forscher zur Zeit eine Kontroverse – ein Zusammenspiel von kooperativen und koexistenten Lernsituationen (vgl. Feuser 1998; Wocken 1998), die allerdings eingebettet sind in einen Rahmen, der auf die Achtung der Individualität und der gegenseitigen Unterstützung baut und in vielen kommunikativen Lernsituationen wie Kreisgesprächen, Klassenrat und gemeinsamen Erlebnissen gefüllt wird (Federolf 2010).

4. DIE SCHULE FÜR ALLE UND GESELLSCHAFTLICHE WIDERSPRÜCHE

Noch nie hat meiner Erinnerung nach in den vergangenen Jahrzehnten eine Bevölkerungsschicht ihren elitären Anspruch so blank und offen vertreten wie die Initiative in Hamburg, die sich ironischer Weise „Wir wollen lernen“ nennt – betont man das Personalpronomen, wird wohl erst richtig deutlich, worum es geht. Machen wir uns nichts vor: Es geht nicht ohne politische Auseinandersetzung und sie könnte hart werden. Die „Schule für alle“ steht im Widerspruch zum Erhalt von Privilegien.

Die Initiative „Wir wollen lernen“ und gleich oder ähnlich Gesinnte im ganzen Land begehen einen Denkfehler: Auch sie werden nicht unberührt bleiben davon, wenn wir uns weiterhin damit abfinden, dass unser Bildungssystem zu viele Kinder zu früh an sich selbst zweifeln, die Leistungsbereitschaft aufgeben und sich von der Gesellschaft abwenden lässt. Kommunen tragen schwer an den Folgen. Sie verstehen daher, dass gute Erziehung und Bildung für alle einen wesentlichen Faktor eines gelingenden Gemeinwesens darstellt. Daher sollten wir die Entwicklung der inklusiven Schule auch lokal denken.

Die oben erwähnten wissenschaftlichen Gremien empfehlen „leistungsschwache Schülerinnen und Schüler … unabhängig von ihrer sozialen und ethnischen Herkunft systematisch und massiv zu fördern“ (Wissenschaftlicher Beirat 2008, 6). Oder: „-leistungsschwache Schülerinnen und Schüler – vor allem aus bildungsferneren Schichten und zugewanderten Familien – gezielter zu fördern, so dass ihre Bildungskarrieren erfolgs- und nicht misserfolgsbestimmt verlaufen“ (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, 77). Beide Gremien stellen allerdings den selektiven Charakter, also Jahrgangsklassen, Ziffernzensuren, Klassenwiederholungen, Bildungsstandards und die gegliederte Schulstruktur nicht in Frage, allenfalls die frühe Aufteilung der Kinder im Alter von 9 Jahren. Den Kampf um die Schulstruktur müssen die aufnehmen bzw. aufrechterhalten, die für eine „Schule für alle“ einstehen.

Denn ein von Beginn an die Bereitschaft und Anstrengung aller Kinder würdigender Unterricht in einer Atmosphäre sozialer Zugehörigkeit, auch bei aller Verschiedenheit und möglichst in jahrgangsübergreifenden Klassen, lässt Kinder sich selbst herausfordern. Am einfachsten ist, wenn die Grundschulen, die in diesem Sinne arbeiten, sich in die Sekundarstufe hinein weiterentwickeln oder in enge Kooperation mit bestehenden weiterführenden Schulen treten. So kann sich in unserem Land wirklich etwas ändern. Denn jetzt ist Zeit für die Schule für alle.

Jakob Muth hat einmal einen Vortrag gehalten zum Thema „Was brauchen behinderte Kinder?“. Er beschrieb eine gute Schule, in der kindliche Individualität und Gemeinsamkeit im Mittelpunkt stehen. Eben darum geht es.

Literatur

Ackeren, Isabell von & Klemm, Klaus (2009): Entstehung, Struktur und Steuerung des deutschen Schulsystems. Eine Einführung. Wiesbaden

Bollnow, Otto Friedrich (1977): Das richtige Verhältnis zur Zeit. In: www.wernerloch.de/doc/VerhzurZeitA.pdf, S. 6