Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Copyright © by Frick Verlag GmbH, Pforzheim

Erstauflage 1997

Revidierte Neuauflage 2014

Umschlaggestaltung: Sabine Saage-Pickel, Weißenthurm

Illustrationen: Toni Traschitzker

Alle Rechte, auch die der auszugsweisen oder fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

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Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-939862-83-3

Inhaltsverzeichnis

  1. Traum oder Alptraum?
  2. Ausgeschlossen
  3. Ein Buchstabe zu wenig
  4. „... a Kaas ...“
  5. Schon wieder Handball!
  6. Auf ins „Rummel“
  7. Ein verrückter Einfall
  8. Einmal anders
  9. Gustav
  10. Das Ende eines Abenteuers
  11. Der Spion
  12. Detektiv!
  13. Wer ist Jimmy?
  14. Ein verzwickter Fall
  15. Noch ein Abenteuer?
  16. Abwarten
  17. Zeugin gesucht
  18. Keine Angst vor Etzmann
  19. „... lei für die Kotz ...“
  20. Susis Überraschung

1

Traum oder Alptraum?

„Wirklich ein Traumangebot!“, hatte der Vater geschwärmt. „Ein Jahr lang Leiter der Außenstelle in Deutschland! Großzügige Gehaltsaufbesserung! Danach wieder zu Hause mit glänzenden Aufstiegsmöglichkeiten – was willst du mehr?“ Vor Begeisterung hatte der Vater hochdeutsch gesprochen, als wäre er gerade vor einem auswärtigen Kunden gestanden. Umso ulkiger hatte der mundartliche Einwand der Mutter gewirkt: „Und wos soll’ ma mit ’m Andi tuan?“

Ja, was sollten sie mit Andi „tuan“ – also tun? Zu dem „Traumangebot“ gehörte auch, dass die Mutter als Sekretärin mit dem Vater nach Deutschland zog. Konnte man einen vierzehnjährigen Buben einfach allein in der Heimat zurücklassen?

Zuerst hätte Tante Leni als Elternersatz einspringen sollen, aber da war Andi dazwischengefahren: „Naa! Do könnts mi jo glei’ ins G’fängnis steck’n!“

Daraufhin hatten Vater und Mutter beschlossen, ihren Sohn nach Deutschland mitzunehmen – gerade rechtzeitig zum Schulbeginn. Seit dieser Entscheidung war fast ein Jahr vergangen, und jetzt hatte Andi „den Kaas“ – oder wie seine neuen Mitschüler sagen würden: „den Käse“ – oder wie Herr Dudeck, der Deutschlehrer, sich ausdrücken würde: „den Verdruss“. Verdruss gab’s für Andi eine ganze Menge, besonders mit Herrn Dudeck, dem die Schüler den Spitznamen „Duden“ verpasst hatten, weil er so viel wusste. Der „Duden“ fühlte sich anscheinend verpflichtet, Andi ununterbrochen zum hochdeutschen Sprechen anzuhalten. Er begründete es immer wieder mit dem Satz: „Sonst lacht dich hierzulande jeder aus.“

„Dos tuan eh schon olle“, hatte Andi einmal gemurrt – und damit erst recht das Gelächter seiner Mitschüler herausgefordert.

Nachdenklich trat er zum Fenster seines Zimmers und schloss es. Dann setzte er sich auf den Schreibtisch und schob den Kassettenrekorder zur Seite. – Ja, der Rekorder! Der war in den ersten Schulwochen im Dauereinsatz gewesen, als sich Andi – nach einem Rat von Herrn Dudeck – noch zu Sprechübungen aufgerafft hatte. Das Ergebnis war mager gewesen: Ob Andi schneller oder langsamer, lauter oder leiser, höher oder tiefer sprach – es klang nie richtig nach „Hochsprache“ ...

Wahrscheinlich wäre das ständige Genörgel des Deutschlehrers halb so schlimm gewesen, wenn man Andi einer anderen Klasse zugeteilt hätte. Freilich – ein Außenseiter und Einzelgänger war er schon immer gewesen. In seiner alten Klasse hatte ihm das jedoch keiner übel genommen. „I tua dir nix, wenn du mir aa nix tuast“, lautete sein Leitspruch – „Ich tu’ dir nichts, wenn du mir auch nichts tust“ –, und so war er damals mit allen friedlich ausgekommen, auch mit einem Flüchtlingsbuben aus Bosnien. Die anderen hingegen hatten „den Ausländer“ Tag für Tag spüren lassen, dass er ihnen unerwünscht war. Als so ein „Ausländer“ galt Andi jetzt auch.

„Kannst du nicht deutsch reden?!“, musste er sich immer wieder vorwerfen lassen, wenn er aufgeregt war und zu schnell sprach, sodass ihn seine Mitschüler nicht verstanden. Nur ganz wenigen, zum Beispiel Susanne Dorstner und Margit Schleier, die vor ihm in der vorletzten Bank der Fensterreihe saßen, schien Andis Mundart zu gefallen. Aber er war ihnen zu schweigsam, und so kümmerten sie sich kaum um ihn – im Unterschied zu den anderen. Die suchten sich den schmächtigen, dunkelhaarigen Burschen aus Kärnten nicht selten für ihre Hänseleien aus. Besonders die Deutschstunden missbrauchten sie gern dazu; und gerade an diesem Tag hatte ihnen der „Duden“ wieder einmal eine herrliche Gelegenheit geboten ...

„Bleede Off’n“, murmelte Andi ärgerlich. – Dass das „blöde Affen“ hieß, hatten seine Mitschüler inzwischen schon von ihm gelernt.

Er sprang vom Tisch, setzte sich an sein Musikinstrument, eine kleine elektronische Orgel, und schaltete es ein. Andi hatte darauf bestanden, dass die Orgel nach Deutschland mitgenommen wurde, und nun war sie oft sein einziger Trost. Zwar hatte er nie richtig Klavier oder Orgel spielen gelernt; aber seitdem ihm ein ehemaliger Mitschüler brauchbare Ratschläge gegeben hatte, beherrschte Andi das Instrument immer besser. Er, der sonst so schweigsam war, wurde ungewöhnlich gesprächig, wenn abends ab und zu die Eltern in sein Zimmer kamen und mit ihm über seine neuesten musikalischen Fortschritte plauderten. Der Vater hatte einmal sogar gemeint, Andi könne notfalls als „Alleinunterhalter“ auftreten. – Mit dem, was Andi jetzt spielte, hätte er allerdings sämtliche Zuhörer verscheucht: Er schlug zuerst einen Molldreiklang an, dachte wieder an den Verdruss am Vormittag und drückte schließlich vor Zorn immer mehr Tasten gleichzeitig nieder, bis das, was zuletzt aus den Lautsprechern dröhnte, ein „Mordskrawall“ war, wie der Vater gesagt hätte.

Wütend hämmerte Andi mit seinen schmalen Fingern auf dem Gerät herum. Plötzlich fiel ihm Herr Freudenreich, der mürrische Nachbar, ein. Wenn der zufällig zu Hause war, würde er bestimmt gleich mit den Fäusten gegen die Wand pumpern.

Andi hielt inne und horchte. Nebenan blieb alles ruhig. Da schaltete er die Orgel aus und schlüpfte in seine Straßenschuhe. Vor dem Spiegel brachte er rasch seine Scheitelfrisur in Ordnung, dann huschte er aus der Wohnung und rannte über die Treppe hinunter. Er brauchte frische Luft!

2

Ausgeschlossen

Fischerweg, Sieberthweg, Eichgasse ...

Die Zeiten waren vorbei, in denen Andi ängstlich nach Straßenschildern ausgeblickt hatte, um sich in der fremden Stadt nicht zu verlaufen. Jetzt schienen seine Beine von allein zu wissen, wohin sie marschieren mussten.

Auf den Gehsteigen kamen nur wenige Leute entgegen. Umso mehr saßen in Autos und auf Motorrädern, die unaufhörlich durch die Straßen und Gassen brausten. Es war kurz nach drei Uhr nachmittags und ziemlich warm. Andi schlenderte ohne ein bestimmtes Ziel dahin. Ab und zu blieb er vor dem Schaufenster eines Geschäfts stehen, obwohl er nicht die Absicht hatte, sich irgendetwas anzuschaffen. Geld besaß er genug. Seine Eltern verdienten jetzt um ein Viertel mehr als früher und hatten ihm das Taschengeld gehörig aufgebessert. Doch bisher hatte er fast alles gespart und sich nur einmal für eine größere Ausgabe entschieden: für einen hochwertigen Kopfhörer, damit er jederzeit Orgel spielen konnte – auch dann, wenn der dicke Herr Freudenreich zu Hause war.

Kurz vor der Ecke Eichgasse – Bahnhofstraße gab’s einen Friseurladen. Das, was man dort im Schaufenster bewundern konnte, hatte Andi noch nie neugierig gemacht. Aber als diesmal sein Blick die ausgestellten Perücken streifte, musste er plötzlich an die Mädchen aus seiner Klasse denken – und da drängten sich ihm wieder die ärgerlichen Vorfälle an diesem Vormittag auf ...

Angefangen hat alles in der Früh im Turnsaal: Die Turnlehrerin ist erkrankt, darum müssen die Mädchen ausnahmsweise mit den Burschen gemeinsam turnen. Die zweite Turnstunde endet mit einem zehnminütigen Handballspiel. Andi spielt übervorsichtig, er will den Mädchen nicht wehtun. Die aber zeigen sich den Burschen gegenüber kein bisschen zimperlich, und so verliert Andi fast jedes Mal den Ball.

„Mann, fahr doch ordentlich drein!“, brüllt Emil Preinfrank, die ehrgeizige Sportskanone der Klasse, und Heiner Borstens fügt bissig hinzu: „Der ist eben kein Mann, was regst du dich auf?“

Andi beginnt innerlich zu kochen. Aber er sagt nichts; und er strengt sich erst recht nicht mehr an.

„Du Flasche! Warum spielst du nicht gleich bei den Gegnern mit?“, schreit Emil, als der „Ausländer“ beim nächsten Mal gepatzt hat. Jetzt kocht es in Andi über. Regelwidrig entreißt er einem Mädchen den Ball. Schon trillert die Pfeife des Turnlehrers.

„Foul!“, entscheidet der Lehrer.

„Oba wo denn?!“ Andi umklammert gereizt seine Beute.

„Verstehst du nicht? Foul!“ Der Lehrer blickt vorwurfsvoll drein. Da spielt Andi zur Abwechslung ein anderes Spiel: Er versetzt dem Handball einen Fußtritt. Das Geschoss zischt der langen Ilse Mugart gegen den Bauch, sodass sie stöhnend zusammenknickt und beinahe umfällt.

„Was soll das?!“, wettert der Turnlehrer. Andi wird ausgeschlossen, das Spiel geht weiter.

Keuchend hockt Andi an der Wand des Turnsaals. Ausgeschlossen – das auch noch! Aber haben ihn die hier nicht schon von Anfang an ausgeschlossen ...?

Wenige Minuten später ist die Turnstunde vorbei. Andi sitzt auf seinem Platz hinter der letzten Bank der Fensterreihe und packt die Deutschsachen aus. Plötzlich kracht etwas gegen seinen Kopf. Andi schreit auf, ringsherum erschallt ein spöttisches Gelächter.

Verwirrt reibt sich Andi über die getroffene Stelle. Vor ihm steht eine lange, schmalgesichtige Gestalt, deren strohblonde Haare bis knapp über die Ohren fast kahl geschoren sind, während es weiter oben so aussieht, als hätte dort der Friseur schon monatelang nichts mehr mit Kamm und Haarschere zu tun gehabt. Die großen Ringe an den Ohren verraten, dass dieser bemerkenswerte Kopf einem Mädchen gehört: Ilse Mugart.

„Das war für die Turnstunde!“, keift sie und starrt Andi aus ihren hellen Augen scharf an. Entschlossen hält sie mit beiden Händen ihr Lesebuch fest, um notfalls ein zweites Mal dreinschlagen zu können.

„Treapn, bleede“, murmelt Andi und reibt sich noch immer auf dem Kopf.

„Was nuschelst du da in deinen noch nicht gewachsenen Bart, he?“, stichelt Ilse.

„Schleich di, du Kuah!“, entwischt es Andi.

Das hat sie verstanden! Offenbar will sie aber keine „Kuah“ – keine Kuh – sein. Zum zweiten Mal setzt sie ihr Lesebuch als Angriffswaffe ein.

Die Klasse lacht vor Vergnügen – bis Andi seiner Gegnerin einen solchen Stoß verpasst, dass sie über ihre langen Beine stolpert und mit dem geschorenen Hinterkopf gegen die Wand prallt. Einige schreien entsetzt auf, Andi hält den Atem an und starrt auf Ilse. Die rappelt sich verwirrt auf.

„Achtung! Der Duden!“, warnt vorn bei der Tür Alfred Seidelbehr.

„Drecksau“, faucht Ilse ihren Gegner an, dann flüchtet sie zu ihrem Platz hinter der letzten Bank der Türreihe. Wenige Augenblicke später betritt Herr Dudeck das Klassenzimmer, der Spuk hat für Andi ein Ende – vorläufig ...

Wut und Verzweiflung kamen Andi bei diesen unschönen Erinnerungen hoch. Er war inzwischen längst in die Bahnhofstraße eingebogen. Jetzt wechselte er in die Friedrichstraße. Dort stand nämlich an der Kreuzung eine Eisdiele, und etwas Kühlendes konnte er jetzt gut vertragen.

„Ich möchte bitte ein Erdbeereis“, bemühte er sich in reinem Hochdeutsch zu sprechen. Aber anscheinend hatte er „Eapa“ statt „Erdbeer“ gesagt, denn die Verkäuferin musterte ihn verwundert und entgegnete, während sie ihm die Eistüte gab: „Du bist nicht von hier, oder?“

„Naa“, gab Andi gereizt zurück.

Ein paar Häuser weiter entdeckte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite über einer Glastür die rote Aufschrift „Rummel“. Das musste die berüchtigte Diskothek sein, in der sich seine Mitschüler so gern herumtrieben. „Treffpunkt heute Abend im ,Rummel‘!“, hieß es oft. Am Schulbeginn hatten sie Andi ein paarmal eingeladen, dorthin mitzukommen, aber er hatte abgelehnt – aus Angst davor, dass sie ihn „einsafteln“ würden. So nannte man es in seiner Heimat, wenn man jemanden mit mehr oder weniger Gewalt zum Genuss von alkoholischen „Säften“ verleitete, um ihn betrunken zu machen. Die Mitschüler erkannten Andis Angst nicht und waren beleidigt, weil er ihre Einladungen stets mit den brummigen Worten ablehnte: „I konn eh nit tonz’n. Und Musik moch’ i mir dahaam sölba.“ Dass er tanzen solle, hätten sie gar nicht verlangt! Und dass er „dahaam“ – also daheim – selber Musik machte, konnten sie sich nicht vorstellen, denn er hatte niemandem anvertraut, dass er eine elektronische Orgel besaß.

Andi ging hastig weiter. Er wollte sich durch den Anblick des „Rummel“ nicht länger an seine Mitschüler erinnern lassen. Doch es war zu spät. Abermals drängten sich ihm die Ereignisse des Vormittags ins Bewusstsein. In der Deutschstunde hatten die Peinlichkeiten einen neuen Höhepunkt erreicht ...

Der „Duden“ ist groß in Fahrt: Diesmal geht es kreuz und quer durch die Namenskunde. Er hat ein kleines, gelbes Reclamheft mitgebracht, mit dessen Hilfe er die Bedeutung einiger Vornamen erklärt. Verblüffend für seine jungen Zuhörer ist wieder einmal, dass er bei manchen Namen überhaupt nicht nachzuschlagen braucht. So weiß er zum Beispiel auswendig, dass „Susanne“ aus dem Hebräischen stammt und „Lilie“ heißt und dass „Margit“ eine Nebenform von „Margarete“ ist und „Perle“ bedeutet. Susanne Dorstner und Margit Schleier, die beiden Mädchen, die vor Andi sitzen, sind begeistert. Auch Andi hört aufmerksam zu. Nach der Herkunft seines Namens traut er sich nicht zu fragen. Womöglich sagt er dabei etwas Falsches, und dann lacht sich die Klasse über ihn wieder schief und krumm. Plötzlich will Heiner Borstens wissen, was „Andreas“ bedeutet.

Andi erschrickt. Er merkt, dass jetzt alle zu ihm herschauen. Kein Wunder – außer ihm heißt niemand in der Klasse Andreas!

Der „Duden“ beginnt bedächtig zu erklären: „,Andreas‘ stammt aus dem Griechischen. Es gibt auch eine französische Form dazu: ,André‘. Im Englischen heißt es ,Andrew‘. Die italienische Form lautet ...“

Einen Augenblick hält Herr Dudeck inne. Schon will er „Andrea“ sagen – und darauf hinweisen, dass man den italienischen männlichen Vornamen „Andrea“ nicht mit dem gleich lautenden deutschen weiblichen Vornamen verwechseln dürfe. Doch Heiner unterbricht den Lehrer: „Was für eine Bedeutung steckt hinter ,Andreas‘?“

Herr Dudeck bemerkt zu spät, was er anrichtet, indem er antwortet: „,Andreas‘ heißt so viel wie ,tapfer‘ oder ,mannhaft‘.“

Da huscht durch die Klasse ein Gegluckse und Gekicher, das den „Duden“ verwirrt. Er spricht seine Schüler gewöhnlich mit dem Familiennamen an und hat längst vergessen, dass der schmächtige, alles andere als „mannhaft“ aussehende Bub aus Österreich „Andreas“ heißt. Der sitzt jetzt vornübergebeugt auf seinem Platz und wird vor Verlegenheit tomatenrot.

„Na, was ist denn? Bitte Ruhe!“, fordert der Deutschlehrer verstimmt; und weil seine Ermahnung wirkungslos bleibt, entscheidet er schroff: „Schluss für heut’ mit Namenskunde! Nehmt eure Hefte, es wird Zeit, wieder ein bisschen Rechtschreibung zu üben!“

3

Ein Buchstabe zu wenig

Mit verschlafener Miene kam Ilse Mugart am folgenden Morgen knapp vor Unterrichtsbeginn ins Klassenzimmer geschlendert. Als sie Andis misstrauische Blicke bemerkte, blieb sie stehen und rief ihm zu: „Was guckst du so doof, Kleiner?“

„A geh holt die Gosch’n“, murmelte Andi. Er fing an, seine Schulsachen auszupacken. Plötzlich stand Ilse neben ihm und fragte borstig: „Was hast du zu mir gesagt?“

Andi schaute sie kurz an, dann wandte er sich ab und brummelte etwas, das sich so anhörte wie: „Gib a Ruah, bleede Gaaß!“

„Gas?“ Ilse zog verdutzt die Brauen hoch. „Was soll der Unsinn wieder bedeuten?“

Margit Schleier erklärte es ihr: „Er meint nicht ,Gas‘, er meint wohl ,Geiß‘. Demnach bist du eine blöde Ziege.“

„Pah! Das ist er selber!“, höhnte Ilse.

„Das passt nicht“, mischte sich Dietmar Rubisch ein. „Eine Ziege ist ja etwas Weibliches.“

„Das passt schon!“ Ilse grinste. „Er heißt doch Andrea – oder so ähnlich.“

„Andrea! Haha, wir haben eine neue Mitschülerin!“, platzte Dietmar heraus. Seine Freunde lachten, Andi ärgerte sich. Er stand auf, und mit einem bissigen „bleede Off’n“ trollte er sich an Ilse vorbei in Richtung Ausgang.

„Affen und Ziegen – die Andrea muss einem Tiergarten entlaufen sein“, spottete Ilse.

Andi drehte sich nicht um und ging weiter.

„Andrea, bleib da!“, rief jemand flehentlich.

„Andrea!“, ertönte es wieder. Da marschierte Andi aus dem Klassenzimmer, ohne sich umzusehen. Er kehrte erst nach dem Läuten zurück – kurz bevor der Lehrer der ersten Unterrichtsstunde eintraf.

„Weg’n de bleed’n Off’n häng’ i mi noch long nit auf!“, dachte Andi trotzig über seine Mitschüler, als er von der Schule nach Hause trottete. Sogar über seinen Namen machten sie sich jetzt lustig!

Sollte Andi einfach alles über sich ergehen lassen und sich nicht aufregen – ganz nach dem Wahlspruch „Lei loss’n“, der in seiner Heimat Kärnten so beliebt war? „Lei loss’n“ – nur lassen, nur ruhig bleiben! Oder sollte er es den „bleed’n Off’n“ einmal richtig zeigen ...?

Was sollte er ihnen „zeigen“? Dass er nicht so klein und schwächlich war, wie sie immer taten? Dann hätte er schon längst einem Boxverein beitreten müssen, um den Spöttern notfalls „auf die Gosch’n hau’n“, also auf ihre Spottmäuler schlagen zu können ...

War es wirklich so schlimm, was er in den vergangenen Wochen, besonders an den letzten Tagen, mitgemacht hatte? Immerhin:

Er lebte noch!

Er war gesund!

Er hatte nichts verbrochen!

Und: Es konnte noch alles gut gehen ...

Es musste alles gut gehen! In vier Wochen war Schulschluss. Dann durfte sich Andi von seinen „liebenswürdigen“ Mitschülern auf Nimmerwiedersehen verabschieden, denn im Herbst besuchte er wieder das Gymnasium in seiner Heimat. Er brauchte nur ein bisschen Geduld. „Lei loss’n ...“

Und doch: Ein Abgang von der deutschen Schule als Schwächling, als einer, den keiner mochte und auf dem alle herumhackten – das war ein Gedanke, der Andi überhaupt nicht gefallen wollte ...

Beim Abendessen erkundigte sich der Vater wieder einmal, wie es Andi in der Schule ging.