Ich danke meinen Eltern Nele und Paul Maar

Umschlagillustration: Paul Maar

Anne Maar wurde 1965 geboren. Sie arbeitete als Kurzfilmmacherin, Museumswärterin, Drehbuchautorin und Regieassistentin, bevor sie 1993 ihr erstes Kinderbuch veröffentlichte. Seither hat sie über 15 Bücher veröffentlicht, ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet.

Seit 2002 leitet sie das Fränkische Theater Schloss Maßbach.

Anne Maar

Das Geheimzimmer

Books on Demand

Inhaltsverzeichnis

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Anne Maar

Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7322-1509-6

Das Geheimzimmer

1

Die Sonne schien.

Karla stand am Fenster und schaute hinaus. Unter ihr - sie wohnten jetzt im vierten Stock - sah sie einen kleinen Hof mit fünf Mülltonnen und einem Rasenstück.

Gegenüber stand das “Hinterhaus”, und es war so nah, dass Karla in die Wohnungen hineinsehen konnte.

Sie beobachtete eine Frau, die kochte. Erst rührte sie in einem Topf und dann wusch sie etwas, das lang und dünn aussah. Wahrscheinlich Lauch, so genau konnte es Karla nicht erkennen.

Ein Stockwerk darunter saß ein Mann an einem Tisch und schrieb. Wenn Karla ein Fernglas gehabt hätte, hätte sie bestimmt sogar lesen können, was er da schrieb. Karla sah, dass er auf dem Hinterkopf keine Haare mehr hatte. Immer, wenn er im Schreiben innehielt, kratzte er sich mit dem Kugelschreiber an der Glatze. Als er einmal vergaß, die Mine reinzudrücken, malte er sich lauter blaue Striche auf den Kopf. Karla musste lachen. Jetzt bemerkte es der Schreiber wohl selbst. Er wischte sich mit der Hand über den Kopf und ging aus dem Raum.

Karla drehte sich um und betrachtete ihr neues Zimmer. Es war größer als ihr altes. Über ihrem Schreibtisch hingen zwei Fotos: Auf einem sah man eine ältere, freundlich aussehende Frau, die in die Kamera winkte – Karlas Oma. Auf dem Foto daneben waren ein Mädchen und zwei Jungs zu sehen, das Mädchen etwa so alt wie Karla, die Jungs etwas jünger - Karlas Freunde aus dem Dorf, in dem sie bis vor kurzem gelebt hatte. Vor einer Woche, mitten in den Sommerferien, waren sie in die Stadt umgezogen.

Karla schlenderte ins Wohnzimmer, von dort ins Esszimmer, dann ins Arbeitszimmer von Mama und von dort ins Schlafzimmer. Alle Zimmer hatten Verbindungstüren und es machte ihr Spaß, von einem Zimmer ins nächste zu gehen, ohne durch den Flur zu müssen. Überall standen Kisten herum und es sah alles noch sehr neu und ungewohnt aus.

Karla ging in die Küche. Mama und Papa standen ratlos vor einigen Brettern, die einmal ein Regal werden sollten. Papa las die Anweisungen durch und Mama untersuchte die Schrauben.

“Ich hab Hunger!”, sagte Karla.

“Ja”, sagte Mama. “Der Herd ist gerade etwas zugebaut...”

Tatsächlich standen all die Dinge, die einmal in das fertige Regal kommen sollten, auf dem Herd.

“Aber es sind noch Brötchen da”, sagte Papa und ging zu dem eingebauten Wandschrank.

“Und was gibt’s drauf?”, fragte Karla.

“Schau halt im Kühlschrank nach”, sagte Mama. “Ich kann mich jetzt gerade nicht darum kümmern.”

Karla zwängte sich zwischen Papa und einer Kiste hindurch zum Kühlschrank, fand darin aber nur einen Schraubenzieher, eine Packung mit Nägeln, drei Dosen mit selbstgemachter Leberwurst von Oma und eine Marmelade. Die mochte sie nicht.

“Ist ja gar nichts da”, beschwerte sich Karla. Aber Mama und Papa redeten über den Aufbau des Regals und schienen sie gar nicht zu bemerken.

“Weißt du, wo ich den Schraubenzieher hingelegt habe?”, fragte Papa.

“Ich geh raus”, sagte Karla.

“Aber pass auf wegen der Autos und dass du dich nicht verläufst!”, rief Mama ihr nach.

“Jaja”, brummte Karla und zog die Tür hinter sich zu.

Vor dem Haus, in dem Karla nun wohnte, war ein kleiner Platz, in dessen Mitte ein hoher Baum wuchs. Gegenüber stand ein großes altes Mietshaus wie ihres. Karla ging hinüber zu dem Baum und lehnte sich an. Zwar hatte sie mit Mama und Papa schon die nähere Umgebung erkundet, aber sie kannte noch niemanden hier, mit dem sie etwas unternehmen konnte. Plötzlich fuhr ein Junge auf Inlinern an Karla vorbei. Er war ungefähr so alt wie sie und ziemlich dick.

“He!”, rief Karla.

Der Junge fuhr um den Baum herum.

“Was is’n?”, fragte er.

“Wohnst du hier?”, fragte Karla.

“Da!”, antwortete der Junge und zeigte auf das Haus gegenüber. “Warum?!”

“Nur so”, sagte Karla. “Weil ich jetzt auch hier wohne.” Sie zeigte hinter sich auf das Haus. Der dicke Junge betrachtete sie abschätzend. “Haste n’Mountain bike?”, fragte er dann.

“Was?”, fragte Karla.

“Na, so ein Super-Fahrrad, wie ich eins hab, mit 21 Gängen.”

Karla schüttelte den Kopf.

“Aber ich!”, sagte der Junge. “Und n’Nintendo oder so, haste das?”

Karla schüttelte wieder den Kopf.

“Aber ich! Haste wenigstens ‘ne x-Box?”

“Was?”, fragte Karla.

“Haste also nicht”, stellte der dicke Junge fest und wandte sich ab.

“Wie heißt du überhaupt?” fragte sie.

“Max”, antwortete der dicke Junge.

“Du bist vielleicht ein Angeber”, sagte Karla.

“Was bin ich!?”, sagte Max und ging drohend auf sie zu.

In diesem Moment kamen zwei Jungs aus dem Haus, in dem Max wohnte.

“Max”, rief der eine, der eine Brille aufhatte.

Max drehte sich um.

“Kommst du mit zum See?”, fragte der mit der Brille.

“Hier gibt’s einen See?”, fragte Karla.

Der Junge ohne Brille nickte.

“Ich komm mit!”, sagte Karla.

“Wer ist das denn?”, fragte der mit der Brille und schaute Max an.

“Ich bin Karla”, antwortete Karla. “Ich wohn jetzt hier!”

“Ich bin Kasimir”, stellte der ohne Brille sich vor. “Und das ist Anton.” Er zeigte auf seinen Freund.

“Also, was ist?”, fragte Anton. “Kommt ihr jetzt mit zum See? Ich muss um drei wieder hier sein, da kommt was im Fernsehen.” Er guckte auf seine Armbanduhr.

“Meine Mutter will nicht, dass ich alleine S-Bahn fahre”, sagte Max.

“Meine große Schwester fährt auch mit”, sagte Kasimir.

“Ach so. Bin gleich wieder da”, sagte Max und war auch schon verschwunden.

“Ich auch”, rief Karla und rannte nach oben, um ihre Badesachen zu holen.

Kasimirs große Schwester hieß Clarissa. Sie war sehr dünn und kaute Kaugummi. “Wer’s das denn?”, fragte sie und musterte Karla, als sie wieder zurück kam. “Will die etwa auch mit?”

Kasimir nickte.

“Mann, bin ich Kindergärtnerin oder was?!”, sagte Clarissa und spuckte ihren Kaugummi genervt auf den Boden.

“Aber Clarissa, Karla ist neu hier und ich dachte...” begann Kasimir.

“Jaja, ist ja schon gut, sie kann mit. Aber nicht, dass das jetzt jeden Tag mehr werden, verstanden ey?!”

Als Karla nach dem Schwimmen nach Hause kam, war das Küchenregal aufgebaut, der Herd leergeräumt und Mama kochte.

“Na, wie war’s am See?”, fragte sie.

“Ganz schön”, antwortete sie. “Aber so voll. Und so weit weg.”

“Und die anderen Kinder? Sind die nett?”, fragte Papa.

“Ich weiß nicht”, antwortete Karla. “Die sind irgendwie anders als meine Freunde.”

“Aber vielleicht auch nett, oder?”, sagte Mama.

Karla zuckte mit den Schultern.

Als sie am nächsten Nachmittag unter dem Baum auf dem Platz vor dem Haus saß und einen Brief von ihrer Oma zum dritten Mal las, kamen gerade Max, Anton und Kasimir vom Baden zurück.

“Was machsten da?!”, fragte der dicke Max und baute sich vor ihr auf.

Karla schaute ihn an. “Ich hab eine Idee, was wir zusammen machen könnten”, antwortete sie und steckte den Brief in die Hosentasche.

“Was denn?”, fragte Kasimir.

“Wir könnten uns ein Baumhaus bauen”, sagte Karla. Sie zeigte auf den Baum hinter sich. “ich hatte eins mit meinen Freunden im Dorf, wo ich früher gewohnt habe, das war toll.”

“Hypermatisch!”, sagte Anton. “Sowas wollt ich schon immer mal machen!”

“Ehrlich?” fragte Karla.

“Klar! So mit Strickleiter und so... “

“Ich hatte mal sowas, so’n Haus, früher, aber das war aus Pappe, das weicht ja sofort auf, wenn’s mal regnet. Ich weiß nicht, ob’s sowas auch aus Plastik gibt”, sagte Max.

“Das Haus müssen wir doch erst bauen - selber machen!” erklärte Anton.

Karla nickte.

“Bauen?!”, fragte Max.

“Hält das denn auch?”, fragte Kasimir. “Kann man da nicht abstürzen?”

“Ach was”, sagte Karla.

“Ich finde die Idee hypermatisch. Ich mache mit”, sagte Anton.

“Also, ich weiß nicht, ob meine Mutter das erlaubt, aber ich frage mal nach”, sagte Max.

“Ja, wenn alle mitmachen, dann mach ich auch mit”, sagte Kasimir. “Aber ich find das eigentlich ein bisschen hoch.”

“Juhu!”, rief Karla. “Es klappt!”

Anton guckte auf seine Uhr. “Jetzt hab ich aber keine Zeit mehr”, sagte er. “Gleich fängt meine Lieblingssendung an und ich muss auf meine Schwestern aufpassen.”

“Dann treffen wir uns morgen zur ersten Besprechung hier unten”, sagte Karla.

Sie knuffte jedem der drei freundschaftlich in die Seite und freute sich auf den nächsten Tag und das Baumhaus.

2

Am nächsten Tag ging Karla zu dem Baum, um ihn genauestens zu untersuchen. War er überhaupt geeignet für ein Baumhaus? Sie sprang in die Höhe, bekam den untersten Ast zu fassen, zog sich daran hoch und kletterte nach oben. Die Äste waren nicht weit auseinander und man konnte bequem hinaufklettern. In der Mitte der Krone wuchsen außerdem zwei dicke Äste fast auf gleicher Höhe - die idealen Stämme für den Baumhausboden. Karla setzte sich auf einen dieser Äste und ließ die Beine baumeln. Gegenüber von Karlas Platz, hinter dem dichten Laub, war ein Balkon. Karla konnte erkennen, dass eine Frau dort saß, eine Tasse vor sich auf einem kleinen Tischchen, und in einer Illustrierten blätterte. Jemand kam aus der Wohnung, ein dicker Junge, und stellte sich vor sie. Es war Max. Karla rutschte auf dem Ast vorsichtig ein bisschen weiter vor, aber nur soviel, dass sie besser beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Die Frau, wohl Max‘ Mutter, blickte kurz von ihrer Illustrierten auf. Max schien etwas zu fragen. Er guckte dabei auf den Boden und wirkte eingeschüchtert, ganz anders, als Karla ihn kannte. Seine Mutter gab ihm eine Antwort, deutete auf ihre Uhr und verschwand wieder hinter der Illustrierten.

Unter Karla waren auf einmal Stimmen zu hören. Sie guckte hinunter und entdeckte Anton und Kasimir, die unten am Baum standen.

„He“, rief sie.

Die beiden schauten suchend auf dem Platz umher.

„Hier bin ich“, rief Karla.

Anton und Kasimir guckten nach oben. „Hallo“, rief Anton.

„Pass auf, dass du nicht runterfällst“, rief Kasimir.

„Keine Sorge“, sagte Karla.

In diesem Moment kam Max dazu. „Was machst du denn da?“, fragte er.

„Den besten Platz für das Baumhaus suchen“, antwortete Karla. Sie kletterte hinunter und sprang vom letzten Ast auf den Boden.

„Also“, begann sie. „Was wir zuallererst brauchen, ist Holz.“

„Was denn für Holz?“, fragte Max.

„Bretter zum Baumhausbauen“, erklärte Anton.

„Richtig“, sagte Karla. „Wisst ihr, wo‘s hier sowas gibt?“

„Im Heimwerkermarkt“, sagte Max. „Da ist einer gar nicht weit von hier.“

„Gibt‘s da Holz umsonst?“, fragte Karla.

„Nee, zum Kaufen natürlich“, antwortete Max.

„Das können wir doch gar nicht bezahlen“, sagte Karla.

„Stimmt“, sagte Max.

„Tja, wir könnten doch alle zu mir gehen und Cola trinken“, schlug Anton vor.

„Ich weiß, wo es vielleicht Holz geben könnte“, sagte Kasimir plötzlich.

„Ja!?“, sagte Karla. „Wo?“

„Ja, also vorgestern, da bin ich mit Clarissa zum Frisör gegangen“, begann Kasimir. „Weil sie wollte sich eine Dauerwelle machen lassen - habt ihr gesehen, dass sie jetzt Locken hat? Sieht gut aus, was?“

Er schaute die anderen fragend an und alle nickten, damit er schnell weitererzählte.

„Ja, und Clarissa meinte, ich soll mitkommen, weil meine Haare schon ein bisschen lang waren. Also ich fand das nicht, aber wenn Clarissa meint…“ Er lächelte verlegen. Da ihn alle unverwandt anguckten, wurde er etwas rot. Er schaute auf den Boden und hatte offenbar vergessen, was er eigentlich erzählen wollte.

„Und?“, fragte Karla nach. „Da beim Frisör gab‘s Holz?“

„Ach nein, da doch nicht“, sagte Kasimir und schaute Karla erstaunt an.

„Wo denn dann?“, fragte Anton.

„Auf dem Weg zum Frisör, also Clarissa geht immer so einen kleinen Umweg, weil sie dann an einem Musikladen vorbeikommt“, begann Kasimir wieder.

Karla wurde unruhig. „Was hat denn das mit dem Holz zu tun“, unterbrach sie ihn.

„Warte doch, das kommt ja jetzt“, sagte Kasimir. „Daneben nämlich, also neben dem Musikladen, da wird ein Haus renoviert. Da schütten die Bauarbeiter von ganz oben Schutt und Dreck in so ein komisches Rohr, das aus lauter Mülleimern zusammengesetzt ist. Das ist dann alles in so einem Container gelandet. Und da war auch Holz drin, das hab ich gesehen. Ich weiß natürlich nicht, ob‘s richtig ist, aber...“

„Sehr gut“, unterbrach ihn Karla. „Wir gehen jetzt zu dem Container, holen das notwendige Holz heraus und fangen gleich mit dem Bauen an.“

„Ich kann nicht mitkommen“, sagte Max, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

„Wieso nicht?“, fragte Karla.

„Meine Mutter hat gesagt, ich soll pünktlich zuhause sein.“

„Ach so“, sagte Karla. „Schade.“

Also machten sie sich zu dritt auf den Weg zu dem Container. Karla lief voran, dicht gefolgt von Kasimir und Anton. Endlich konnte sie am Ende einer Straße das Haus erkennen, das mit der Eimer-Schlange aussah, als hätte es einen Rüssel. Die letzten Meter dorthin rannte sie. Sie war zu aufgeregt, um auf die anderen warten zu können. Der Metallcontainer stand direkt vor dem Haus. Karla musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um besser hineinsehen zu können. Der Container war halb voll. Verdreckt und verdeckt unter einigem Mörtel und zerbrochenen Steinen erkannte Karla Bretter. Richtig alte Dielenbretter, fest und tragfähig, genau das Richtige für ein Baumhaus.

„Ist Holz da?“, fragte Anton, der nun mit Kasimir hinter ihr stand.

„Ja“, sagte Karla. „Jetzt müssen wir es nur noch hier rauskriegen.“

„Aber wir müssen doch zuerst fragen“, sagte Kasimir.

„Fragen? Wen denn?“, fragte Karla.

„Ich weiß nicht. Aber wir können das doch nicht einfach so mitnehmen.“

„Wieso, ist doch Müll“, sagte Karla.

„Das mit dem Fragen ist doch gut“, mischte sich jetzt Anton ein. „Da können wir auch gleich fragen, ob uns derjenige hilft, das Holz hier rauszuholen.“

„Fragen wir also jemanden“, sagte Karla. Sie schaute sich um. Außer einer Zigarre rauchenden alten Frau, die vor der Tür des Nebenhauses stand, war niemand zu sehen. Karla ging auf die Frau zu. „Entschuldigung, wir hätten gern die Bretter da aus dem Container, können wir die haben?“, sprach sie die alte Frau an.

„Weiß ich doch nicht“, sagte die Frau unfreundlich und drehte ihr den Rücken zu.

„Ich glaube, das war nicht die Richtige“, stellte Anton fest.

„Du musst jemand anderen fragen“, sagte Kasimir.

„Wen denn?“, fragte Karla. „Hier ist doch niemand!“

„Im Haus vielleicht“, sagte Kasimir.

Karla verdrehte die Augen.

„Da wär ich aber auch vorsichtig“, sagte Anton und betrachtete das Haus. Es sah ziemlich baufällig und düster aus. „Ich hab mal einen Film gesehen, da haben sich lauter Kriminelle, Drogenhändler und so, in einem Haus versteckt, das sah ziemlich genauso aus!“

„Wirklich?“, fragte Kasimir und trat sicherheitshalber ein paar Schritte von dem Haus zurück.

Anton nickte ernsthaft. „Die hatten Pistolen. Und die haben jeden umgelegt, der einfach so ins Haus gekommen ist!“

„Oh“, sagte Kasimir und guckte das Haus an, als erwarte er jeden Augenblick, dass maskierte Männer mit Pistolen herausgestürmt kämen.

„Ach was!“, sagte Karla. „So ein Blödsinn!“

Sie ging auf die Haustür zu, drückte die Klinke herunter und wollte sich gerade gegen die Tür stemmen, als die von innen geöffnet wurde und Karla fast hineinflog. Kasimir schrie erschrocken auf und hielt sich die Hände vor den Mund.

Ein Bauarbeiter stand vor Karla. „Was willsten du hier?“, fragte er barsch und spuckte auf den Bordstein. „Ist nicht gut hier für Kids wie dich, ja, Baustelle und so, klar?“

„Ich wollte nur fragen, ob wir von dem Holz was haben können“, sagte Karla mutig und zeigte auf den Container.

Der Mann guckte gar nicht richtig hin. „Könnt ja jeder kommen!“, sagte er und spuckte wieder aus, knapp an Karlas Schuh vorbei.

„Na und?!“, antwortete Karla noch mutiger. „Wär doch gut, dann wär‘s weg!“

„Willst wohl frech werden?!“, fuhr der Mann sie an. „Pass mal auf.“

Er packte sie am Arm und zerrte sie weg vom Haus.

„Wenn du nicht sofort hier abhaust, dann gibt‘s ganz schön Ärger! Kinder haben an Baustellen nichts zu suchen und im Müll rumwühlen ist nich, klar?!!“

Er schubste sie fort, drehte sich um, steckte sich eine Zigarette an und ging ins Haus zurück.

Karla sah ihm wütend nach. „So ein Grobian!“, schimpfte sie laut. „So ein Blödmann!“

Sie ging, sich den Arm reibend, zurück zum Container, hinter dem sich Anton versteckt hatte. Kasimir war verschwunden.

„Der war aber nicht gerade nett“, sagte Anton. „Fast so böse wie ein Klingone. Und du warst so mutig wie...“

„Komm, wir gehen“, befahl Karla und setzte sich auch schon in Bewegung.

Anton ging schweigend neben ihr her. Sie erreichten den Platz vor ihrem Haus, der ruhig und verlassen dalag. Karla schaute an dem großen, grünbelaubten Baum hoch. Doch, da oben musste einfach ein Baumhaus hin! Sie drehte sich zu Anton um, der gerade seine Brille putzte.

„Ich hab jetzt leider keine Zeit mehr“, sagte er und setzte sich die Brille auf die Nase. „Es ist nämlich schon halb vier und den Anfang von meiner Lieblingsserie darf ich auf keinen Fall verpassen. Komm doch einfach mit, ich erzähl dir auch, was in der letzten Folge passiert ist.“

„Nein!“, sagte Karla.

„Dann nicht, tschüß“, sagte Anton und ging.

Karla trat gegen den Baum. „Tschuldigung“, murmelte sie danach. „Du kannst ja nichts dafür.“

Mit gewitterumwölkter Stirn ging sie nach Hause.

Sie setzte sich auf ihr Bett und stützte den Kopf in beide Hände.

Nach einer kurzen Weile, in der sie so vor sich hinbrütete, kam Mama ins Zimmer.

„Was ist denn mit dir?“, fragte sie und setzte sich neben Karla aufs Bett. „Bist du geärgert worden?“

„Mhm“, machte Karla.

„Sind die anderen Kinder nicht nett?“

„Vor allem die Erwachsenen sind nicht nett!“

Mama legte den Arm um sie und Karla kuschelte sich an sie.

„Was machen die denn so Böses?“, fragte Mama.

„Sie geben uns kein Holz“, antwortete Karla.

„Und wofür brauchst du Holz?“

„Für ein Baumhaus“, sagte Karla. „Aber ich weiß nicht, ob das klappt. Hier ist alles so anders.“

Mama nickte.

Beim Essen sagte Papa: „Mama hat erzählt, du brauchst Holz? Ich glaube, wir haben noch ein paar alte Regalbretter, die wir nicht mehr brauchen. Die kannst du haben.“

Karla sprang auf, umarmte Papa mitsamt der Stuhllehne und setzte sich wieder hin. Gleich nach dem Essen gab Papa ihr die Bretter. Es waren fünf Stück. Für den Boden und die ersten Seitenwände würden sie sicher ausreichen. Jetzt würde es bestimmt klappen mit dem Baumhaus.

3

Am nächsten Tag ging Karla ins Nachbarhaus gegenüber, um den anderen zu sagen, dass sie Bretter hatte.

Zuerst klingelte sie bei Max im dritten Stock. Seine Mutter öffnete die Tür.. „Ja?!“, fragte sie und musterte Karla aufmerksam.

Karla bemerkte, dass ihr Blick besonders lang an ihren strubbeligen braunen Haaren hängen blieb.

„Ich wollte zu Max“, sagte Karla.

„Das geht jetzt nicht“, sagte Max‘ Mutter. „Wir essen gerade.“

„Ach so.“ Karla überlegte, warum das wohl ein Hinderungsgrund war. „Ich hab schon gegessen“, sagte sie dann und lächelte.

Max‘ Mutter starrte sie einen Augenblick an und gab dann die Tür frei. „Aber nur kurz“, sagte sie, als Karla hereinschlüpfte.

Max‘ Mutter ging voraus. Sie kamen ins Esszimmer. Dunkle, altmodische Regale standen an den Wänden. In der Mitte des Raumes stand ein ovaler Tisch, an dem Max und ein sehr dicker Mann saßen. Das war offenbar Max‘ Vater. Er hatte einen schwarzen Bart, der sein halbes Gesicht bedeckte und sah überhaupt wie ein Räuber aus, fand Karla.

„Hallo“, sagte Max.

Karla setzte sich. Keiner sagte etwas. Karla fühlte sich unbehaglich. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her - ob sie einfach wieder gehen sollte?

Doch da faltete Max sorgfältig eine Serviette zusammen, die auf seinem Schoß gelegen hatte und fragte seine Mutter: „Ich bin fertig, darf ich aufstehen und in mein Zimmer gehen?“

Max‘ Mutter nickte.

„Schön, dass du gekommen bist“, sagte Max, nachdem er die Tür von seinem Zimmer zugemacht hatte.

„Stell dir vor: Ich hab das Holz für unser Baumhaus“, sagte Karla.

„Nicht so laut“, sagte Max und schaute zur Tür. „Wenn das Mutti hört. Davon darf sie nichts wissen!“

„Ich denke, du hast gefragt“, sagte Karla.

„Nicht so richtig“, gab Max zu.

In diesem Moment ging die Tür auf und Max‘ Mutter stand vor ihnen.

„So, der Besuch war jetzt lange genug da“, hatte sie beschlossen. „Max muss jetzt noch für die Flötenstunde üben.“

Max stand ohne Widerspruch auf, um Karla hinauszubegleiten.

Als nächstes ging Karla zu Kasimir. Er wohnte ein Stockwerk unter Max. Sie klingelte und prompt öffnete Clarissa die Tür.