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Berlin, 3. März 2015 (3. Auflage)

Edition Graugans, Berlin

Herstellung und Verlag: Bod - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7322-7268-6

GG Wissenschaft ist ein Imprint der Edition Graugans, Berlin

Inhaltsverzeichnis

Einführung in die pietistische Bildkultur

Pietismus und Kunst sind kein Widerspruch! Zwar ist es richtig, dass der Pietismus leider keine großen Maler und keine wirklich bedeutenden Kunstwerke hervorgebracht hat. Das liegt daran, dass Pietisten (irrtümlich) annahmen, die Natur wie auch die Kunst würden nur von Gott wegführen. Wie sich Dürer nicht in die deutsche Frömmigkeitsbewegung einreihen lässt, so sind auch die großen deutschen Maler zur Zeit des Pietismus – man denkt sofort an Johann Georg Hinz (um 1630 - 1688), Cosmas Damian Asam (1686-1739) oder Anton Raphael Mengs (1728-1779) – von diesem relativ unberührt geblieben, zum Glück für die Kunst, möchte man hinzufügen. Nur bei Randfiguren, wie Caroline Bardua (1781-1864) oder Charlotte Reihlen (1805-1868), lassen sich deutlich pietistische Einflüsse festmachen.

Überhaupt lassen sich pietistische Kunstwerke eher am Rande, in Nischen, im Abseitigen festmachen, so etwa in der deutsch-holländischen Emblematik (Vaenius, Hamburger Bilderbibel von 1674), dann auf Kanzeln in Holz geschnitzt (Quedlinburg, Wolfenbüttel, Helmstedt) oder auch auf Epitaphen (Maulbronn oder Parchim), in Liedsammlungen – ja selbst auf Blaudrucken kann man das Motiv der himmlischen Stadt entdecken. Ordnet man das Material nach Gattungen, stellt man schnell fest, dass sich pietistische Kunstarbeiten vornehmlich in drei Bereichen finden lassen: in Bibelausgaben (Christoph Weigel d. Ä., Berleburger Bibel oder der unbekannte Meister der Mortier-Bibel), an Kirchenemporen und auf Grabmälern, wo der letzte Ort des Verstorbenen natürlich eine besondere Rolle spielte. Von vielen dieser Arbeiten wissen wir bis heute nicht einmal den Künstler. Die näheren Umstände sind meist wenig bekannt, es gibt noch viele offene Fragen. Das betrifft viele frühneuzeitliche Flugblätter (siehe etwa die „Leyter zu der Himmelspfort“ aus dem Jahr 1630), Wandmalereien generell (Bissingen u.a.) oder die volkstümlich-liebevollen Hinterglasmalereien. Dann wiederum ist es erstaunlich, dass gerade die theologischen Schriften bedeutender, namhafter Pietisten mit Abbildungen des Himmlischen Jerusalem versehen wurden. Das gilt für Arbeiten von Johannes Beer, Heinrich Müller, Jakob Böhme, Johann Wilhelm Petersen, Philipp Balthasar Sinold von Schütz oder Friedrich Christoph Oetinger. Ob diese überhaupt von der Bebilderung wussten oder ob nicht viel eher die Verleger die trockenen, schon damals kaum zu verkaufenden Erörterungen etwas attraktiver zu machen suchten ist freilich eine andere Frage. Erstaunlicherweise lässt sich in den Schriften der beiden bedeutendsten Pietisten – Philipp Jakob Spener (1689-1704) und August Hermann Francke (1663-1727) – keine einzige Illustration des Neuen oder Himmlischen Jerusalem auffinden.

Die Schriften Speners oder Franckes war aber immer nur einem engen Kreis von Frommen und Frömmlern bekannt – viel wichtiger sind die Massenprodukte der frühneuzeitlichen und frühmodernen Bildindustrie. So schuf die Württemberger Pietistin Charlotte Reihlen 1867 ein berühmtes Andachtsbild, das bis heute weltweit vertrieben wird. Es handelt sich um ein klassisches „Zweiwegebild“, die sowohl im Katholizismus wie im Pietismus überaus beliebt waren.

Ausschnitt aus dem Reihlen-Bild, dem bekanntesten Jerusalem-Bild des deutschen Pietismus

Auf den Zweiwegebildern führt ein schmaler Weg in das goldene, freudenvolle Himmlische Jerusalem, ein anderer, breiter Weg direkt in die Verdammnis. Solch ein Schwarz-Weiß-Denken passte wunderbar in das einfältige Gemüt vieler Pietisten: sich selbst sah man schon im Himmlischen Jerusalem, die Nachbarn und Kollegen sollten in die Hölle fahren. Reihlen schrieb ihren Begleittext zu ihrem Zweiwegebild nicht mehr, wie noch bei älteren Vorläufern üblich, in das Bild (wie es David Hollaz in seiner Fassung des Zweiwege-Motivs ausgiebig getan hatte). Reihlen vielmehr verfasste zu ihrem Bild eigens eine kleine Broschüre. Dadurch gewinnt das Bild an Klarheit und Übersichtlichkeit. Unübertroffen bis heute ist es die bekannteste Darstellung des Zweiwege-Motivs. Populär war dieses Zweiwegebild einst als visuelle Hilfe bei Predigten in Kirchen und im Freien, in Württemberg wie in Holland und England. Vor allem nahm es zu Zeitfragen, wie dem aufkommenden Bürgertum, der Säkularisierung, der Industrialisierung und der Urbanisierung anschaulich Stellung, bzw. kritisierte diese Erscheinungsformen durch eine utopische Gegenwelt – der des zukünftigen Himmelsparadieses. Das Himmlische Jerusalem hat hier, im Gegensatz zu anderen Zweiwegebildern, seine zentrale Position verloren und ist an den rechten Rand gerückt. Es hat übrigens fast die gleiche Höhe wie die Hölle, die sich ansonsten traditionell unten rechts befindet. Die Himmelsstadt ist recht klein und insgesamt schlecht zu erkennen: Aus den Wolken erhebt sich ein mächtiges, eher abweisendes Fundament, an dem eine kleine Öffnung ein einziges Tor markiert. Hinter der Mauer verlieren sich unendlich viele Häuser bis an den Horizont. Dort erhebt sich eine gewaltige Anhöhe: der Zionsberg. Auf diesem steht, von einem Strahlenkranz umgeben, das Gotteslamm. Vier Bibelzitate um diese Zeichnung machen unmissverständlich klar, dass es sich um die Gottesstadt handelt. Unterhalb der Gottesstadt ist auf dem Weg dorthin, also als letztes Gebäude auf dem schmalen Weg, das Diakonissenhaus zu sehen, welches Reihlen mit aufgebaut hat. Selbstverständlich sah sich auch Reihlen ohne jeden Zweifel auf der Seite der (Selbst)Gerechten.

Wenn wir uns fragen, woher Reihlen ihre Anregung nahm, wird man wieder in die Frömmigkeitsgeschichte zurück geführt. Um 1600 schuf der Graveur Hieronymus Wierix (1553-1619) einen Stich nach Hendrik van Balen (1575-1632). Balen war Katholik, und sein Kollege Wierix war zwar 1585 als Lutheraner registriert, arbeitete in späteren Jahren für die Jesuiten und konvertierte möglicherweise. Der gesamte kompositorische Bildaufbau und zahlreiche Details, wie etwa die Architektur, das Kreuz, der Pilgerweg und seine Gestalten wurden von Reihlen übernommen und weiter bearbeitet.