ÜBER DAS BUCH

Jeder von uns trägt tief in sich eine Vielzahl an Träumen und Wünschen, die wir im Leben hatten und die (vielleicht noch) nicht in Erfüllung gegangen sind. Den Begriff „Löffel-Liste“ hatte ich zum ersten Mal im Fernsehen in dem Film „Das Beste kommt zum Schluss“ mit Jack Nicholson und Morgan Freeman gehört. Sie bezeichnet eine Liste von Dingen, die jeder vor dem Ende seines Lebens noch tun sollte, also bevor man „den Löffel abgibt“.

13 Autorinnen und Autoren haben sich der Aufgabe gestellt, in einer Kurzgeschichte ihren Traum Realität werden zu lassen. Darunter sind Wünsche nach Freiheit, Veränderung, Erfüllung, Liebe, Gerechtigkeit und Abenteuer. Lassen Sie sich einfangen von den wirklichkeitsnahen Emotionen, Handlungen, Beschreibungen und Dialogen. Erleben Sie die detailreichen Sinneswahrnehmungen und Gefühle wie Freude, Angst, Aufregung, Spannung, Liebe u.v.m., welche die Autorinnen und Autoren in ihren Kurzgeschichten schildern.

Ob es dabei tatsächlich um persönliche Lebensträume oder um Fantasie, wird nicht immer verraten.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen
Ihre Manu Wirtz

Die alten Träume waren gute Träume;
sie haben sich nicht erfüllt,
aber ich bin froh, sie gehabt zu haben.“

aus „Die Brücken am Fluss“
von Robert James Waller*

* © der deutschsprachigen Ausgabe 1993 by Wilhelm Goldmann Verlag, München

Inhaltsverzeichnis

Delfine bringen Glück

Ursula Dittmer

»Was ich gerne noch tun würde, bevor ich den Löffel abgebe? Was ist das für eine seltsame Frage, Dennis?« Barbara nahm das belegte Brötchen vom Teller und stemmte ihre Füße gegen die Balkonbrüstung. »Ich bin mit meinem Leben zufrieden. Ich weine keinen verpassten Gelegenheiten hinterher und ich träume nicht von Dingen, die ich nicht haben kann. Ich bin da sehr bodenständig.« Das Brötchen war kross, die Krümel bröselten in ihren Ausschnitt, als sie herzhaft hineinbiss.

Gerasimos faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Stuhl neben sich. »Diese Frage hat ein Autor im Feuilleton aufgeworfen: Was willst du noch tun, bevor du den Löffel abgibst? Er hat unterschiedliche Leute dazu befragt. Interessante Antworten!«

»Ich habe nicht vor, demnächst den Löffel abzugeben«, meinte Barbara. Sie steckte sich den letzten Bissen in den Mund und stand dann auf, um die Brösel abzuschütteln.

»Gibt es etwas, wovon du immer geträumt hast, was du aber nie tun konntest, weil du nicht die Zeit oder das Geld dafür hattest?«, hakte er nach.

Barbara lehnte sich an die Brüstung und sah hinaus aufs Meer. Der Wind trieb die Schaumkronen der Wellen in Richtung Strand. »Ich würde gerne einmal in so einen Wassertank steigen. Du liegst darin in konzentriertem, warmem Salzwasser. Der Tank ist gegen Licht und Geräusche abgeschottet. Du schwebst auf dem hautwarmen Wasser, hörst und siehst nichts, rein gar nichts. Das soll eine unglaublich intensive Erfahrung sein. Hm. Vielleicht würde ich auch Panik bekommen.«

Gerasimos trank einen Schluck Milchkaffee, drehte dann den Stuhl um, damit er die Beine auf die Balkonbrüstung legen konnte. Er lächelte sie an. »Es geht bei dem Bericht um Lebensziele. Der Journalist hat Südländer und Nordländer befragt. Er bestätigt, was wir alle wissen: Wir im Süden sind freier im Denken als ihr Nordländer, selbst in Krisenzeiten wie jetzt. In Deutschland regnet es oft und die kalte Jahreszeit dauert ein Dreivierteljahr. Da fallen einem keine anderen Wünsche ein als arbeiten und Geld verdienen. Das Überleben gestaltet sich einfacher, wenn es warm ist. Stell dir vor, wir beide würden hierher nach Griechenland ziehen. Ich bin mir sicher, du hättest plötzlich neue Erwartungen ans Leben.« Er streckte den Arm aus und strich ihr zärtlich eine Haarsträhne hinters Ohr.

»Mag sein«, erwiderte sie. »Aber…«

»Nicht wieder vernünftig sein, agapi mou1! Sag: Was wäre dein Traum?«

Sie sah ihn an und nahm seine Hand. »Mein Traum sitzt neben mir!«

»Hm«, knurrte er. »Wenn du schon von einem Griechen träumst, warum dann nicht vom schönen Georgios aus der Fischtaverne im Hafen?«

Sie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn lange. »Ich liebe dich, mein schöner Grieche!«

»Ich liebe dich auch«, antwortete er.

Sie hingen eine Zeit lang ihren Gedanken nach.

»Ich habe mir etwas überlegt«, sagte er plötzlich ernst. »Mein eigener Lebenstraum wäre, wieder in meinem Dorf zu leben. Hier auf Kefalonia möchte ich mit dir alt werden. Hier möchte ich sterben.«

Barbara biss sich auf die Lippen.

»Schau doch nicht so. Im Grunde weißt du es. Ich bin nur dir zuliebe nach Deutschland gezogen. In meinen Adern fließt Meerwasser statt Blut.«

Barbara drehte sich weg. Das war das Gespräch, vor dem sie sich immer gefürchtet hatte.

Sie hatte Dennis – das war sein Spitzname – in einem Urlaub auf Kefalonia kennengelernt. Aus der leidenschaftlichen Urlaubsliebe war bald mehr geworden. Er sprach fließend deutsch, da er einige Jahre in Berlin gelebt und dort auch studiert hatte. Anfangs hatten sie täglich stundenlang telefoniert, und sie hatte sich immer wieder ein paar zusätzliche Urlaubstage gegönnt, die sie bei ihm auf der Insel verbrachte. Dann hatte er beschlossen, zu ihr zu ziehen. »Für die Kosten der Telefonrechnung kann ich auch einen Mietanteil bezahlen«, meinte er, als er eines Tages mit kleinem Gepäck vor ihrer Tür stand. Sein Hausstand hatte in eine Reisetasche gepasst.

Da er ein deutsches Ingenieursdiplom vorweisen konnte, hatte er schnell eine gute Arbeitsstelle gefunden. Der Fachkräftemangel war ihm dabei zugute gekommen. Auch Freunde hatte er bald gefunden. So, wie ihm alles im Leben leicht zu gelingen schien.

Sie war schwerfälliger. Sie liebte klare Verhältnisse und eine stabile Basis. Veränderungen mussten in ihrem Tempo geschehen, sonst verweigerte sie sich. Selbst der Einzug des Geliebten war nicht spannungsfrei verlaufen. Es war ihr schwer gefallen, ihre Routinen zu ändern, ihm zu gestatten, den gemeinsamen Alltag mitzugestalten. Das hätte zum Problem werden können, wäre Dennis nicht Dennis gewesen: Er hatte es mit Humor genommen und alle Krisen mit Sensibilität und Anpassungsfähigkeit bewältigt.

Im Herzen zu wissen, was sich der Partner wünscht und es aus seinem Mund zu hören, waren zweierlei Dinge. Barbara war kurz vor einer Panik. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, denn sie hatte ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen. Bislang basierte ihre Liebesbeziehung auf Dennis’ bedingungsloser Hingabe. Musste sie jetzt beweisen, dass sie nicht nur nehmen, sondern auch geben konnte? Griechenland war ein wunderbares Land. Doch für immer dort zu leben, konnte sie sich nicht vorstellen.

Fröstelnd zog Barbara die Schultern hoch. Jetzt im April war es manchmal noch regnerisch und kühl. Sie schielte zu Gerasimos hinüber, der fasziniert das heute so wilde Mittelmeer beobachtete. Er hatte seine Meinung gesagt, nun würde er warten, was sie daraus machte. Er würde es aussitzen. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass er nichts erreichte, wenn er sie bedrängte.

Als wüsste er, was sie dachte, begann er zu grinsen. Dann nahm er plötzlich die Beine von der Brüstung und sprang auf.

»Nein, ich habe mich nicht getäuscht! Barbara! Dort draußen sind Delfine!«

Sie fuhr hoch und trat neben ihn. »Wo?«

Er legte den Arm um ihre Schultern, zog sie an sich und deutete hinaus aufs Meer. »Da!«, rief er aufgeregt. »Siehst du sie? Pass auf, ich denke, sie kommen gleich noch einmal hoch… dort drüben.«

Als Barbara die Delfinschule entdeckte, schossen ihr die Tränen in die Augen. Nie zuvor hatte sie frei lebende Delfine gesehen. Es waren mindestens zehn Tiere. Sie schnellten aus dem Wasser, um kurz darauf erneut einzutauchen. Die Schule blieb bis zum Nachmittag in der Bucht. Immer wieder zeigten sie sich und jedes Mal freute sich Barbara, wenn sie hinaus aufs Meer sah. Einmal gelang es ihr sogar, sie mit dem Fernglas ganz nahe zu sehen.

»Delfine bringen Glück«, meinte Dennis, als sie am Abend bei Georgios am Hafen saßen. Er hatte feuchte Augen, als er das sagte.

»Ich weiß«, antwortete sie ernst. »Ich werde darüber nachdenken.«

Es war eine dieser Nächte, die so romantisch waren, dass es ihr den Hals eng werden ließ. Die Zikaden zirpten, das Meer schwappte an die Kaimauer. Die Musik aus den Lautsprechern klang dezent im Hintergrund. Dennis und sie feierten Abschied. Der Wirt hatte ein griechisches Menü für sie zubereitet, mit Gerichten, die er niemals auf die Speisekarte setzen würde. »Weil die Touristen den ‚Fiss‘ gegrillt und die Calamari paniert haben wollen, und dazu Knoblauchkartoffeln.« Georgios schüttelte sich. Er freute sich, als sie sein gutes Essen lobten.

»Schade, dass es hier so hell ist. Jetzt würde ich gerne die Sterne sehen.« Barbara hob das Glas und prostete dem vollen Mond zu, der soeben über die Hügel emporgestiegen kam. Sie dachte sich nichts dabei, als Dennis mit Georgios ein paar schnelle griechische Sätze wechselte und dieser schmunzelnd davonging.

Kurz darauf ging das Licht aus. Einige Gäste wurden unruhig, eine Frau schrie sogar auf. Dennis lachte, küsste Barbara und flüsterte ihr ins Ohr: »Ich habe zu ihm gesagt, dass mein Mädchen die Sterne sehen will.«

»Ihr seid verrückt!«, rief sie aus. Dann kuschelte sie sich an seine Schulter und bewunderte den Nachthimmel. »Es ist so schön!«, wisperte sie. »Was für ein glücklicher Moment. In Deutschland kann man nie so viele Sterne sehen. Immer und überall brennt Licht.«

»Dennis, es geht nicht«, sagte sie zu ihm, als sie im Flugzeug saßen. »Wir können nicht alles aufgeben und nach Griechenland ziehen. In einigen Jahren vielleicht, wenn ich in Rente bin. Wovon sollen wir leben, wenn wir jetzt umsiedeln? Ich werde in meinem Alter keine Arbeit mehr bekommen und du auch nicht – du kennst die Arbeitslosenquote in deinem Land besser als ich. Glaub mir: Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, habe hin- und herüberlegt…«

»Das Leben ist billig auf Kefalonia. Wir könnten bei meinem Bruder wohnen oder das Haus meiner Großmutter für uns herrichten. Ihr Garten hat dir doch immer so gut gefallen.«

Sie zog die Stirn kraus. »Dort gibt es nicht einmal Strom und Wasser!«

»Ich sage ja, wir müssten es herrichten. Wenn du wirklich mit mir in meinem Dorf leben willst, dann finde ich einen Weg, dir alle Wünsche zu erfüllen.«

Sie seufzte. »Dennis, das ist lieb gemeint, aber es hängt ein Rattenschwanz von Konsequenzen daran. Ich will nicht auswandern. Vor allem nicht im Alter. Ich habe Horrorvisionen, wenn ich mir vorstelle, in deinem Dorf einen Herzinfarkt zu erleiden. Oder du… auch dir könnte etwas passieren. Ich möchte im Alter an einem Ort leben, an dem ich mich sicher fühlen kann. Außerdem… ich kann doch nicht mein ganzes Leben hinter mich werfen und mich in ein Abenteuer stürzen, aus dem ich nie wieder herauskomme?«

Da sagte er unvermittelt: »Willst du mich heiraten, agapi mou?«

»Och Dennis, nein, das ist…« Sie wurde laut. »Nein, ich will dich nicht heiraten! Was soll das denn jetzt? Du nimmst meine Ängste nicht ernst! Du denkst, nach einer Heirat wäre ich sicher?« Sie lachte auf. »Ich brauche keinen Ritter auf dem weißen Pferd, der mich beschützt.«

Barbara sah aus dem Fenster. Tief unter ihr grüßte das tiefblaue Meer. Es war immer noch stürmisch. Man sah auch in dieser Höhe noch die Schaumkronen auf den Wellenkämmen. Die Maschine hatte anfangs stark gerüttelt und war in ein Luftloch gesackt, was ihrem Magen gar nicht gefallen hatte. Dann hatte der Pilot den Flieger nach oben gezogen und nun war es ruhig.

Es tat ihr leid, dass sie Dennis so angeraunzt hatte. Doch es fiel ihr schwer, sich zu entschuldigen. Warum wollte er sie heiraten? Heiraten war etwas für Spießer. Sie wusste, dass sie mit ihm alt werden wollte. Sie liebte ihn so sehr, dass es manchmal wehtat. Aber heiraten? Ihre Liebe brauchte keinen Trauschein.

Sie sprachen wenig bis zum Landeanflug auf Frankfurt. Während Dennis nach dem Essen einschlief, sah sie aus dem Fenster und beobachtete die Wolkenformationen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Am Ende war sie erschöpft, doch gleichzeitig seltsam überdreht. Erst als die „Fasten Seat Belts“-Anzeige aufleuchtete, kam sie zur Ruhe.

Dennis schlief immer noch. Sie überprüfte, ob er den Sicherheitsgurt angelegt hatte. Dann schnallte sie sich selbst an und sah wieder aus dem Fenster. Sie überflogen den Spessart und sie überlegte, wann sie das letzte Mal im Mühlental zum Wandern war. An einem sommerheißen Tag durch die schattigen Wälder und über blumenübersäte Wiesen streifen, Hunger und Durst in einer der Mühlen stillen…

Sie seufzte unwillkürlich. Waren diese Empfindungen mit jenen zu vergleichen, die sie beim Anblick der Delfine verspürt hatte? Nein, sicher nicht. Mal ganz davon abgesehen, dass sie seit Jahren nicht mehr gewandert war. Sie überlegte, was ihr ebenfalls nahe ging: am Fenster in der warmen Wohnung stehen und hinaussehen in den tief verschneiten Garten! Nein, auch diese Stimmung kam nicht gegen Delfine, Meerluft und den weiten Himmel in Griechenland an. Denn selbst wenn sie diesen Winterzauber für einige Momente genießen konnte, so dachte sie doch wenig später daran, ob die Straßen am Morgen glatt sein würden, wenn sie zur Arbeit fuhr. Und ob der Winterdienst zuverlässig den Schnee auf dem Gehsteig vor ihrem Grundstück räumte.

Der Pilot brachte die Maschine sanft herunter und die Passagiere applaudierten. Barbara beugte sich zu Dennis und weckte ihn mit einem Kuss. »Der Boden hat uns wieder.«

‚Lösungen statt Lamento‘, dachte sie plötzlich, als sie am Förderband auf ihr Gepäck warteten. Es gibt immer mehr als einen gangbaren Weg. Ich muss ihn nur finden.

Das nächste halbe Jahr tat alles, um in einem möglichst schlechten Licht zu erscheinen. Eine nahe Freundin starb, die Umsätze in ihrem kleinen Laden sanken, der Verkehrslärm um ihr Grundstück herum erschien ihr lauter denn je. Der Sommer war verregnet, sodass nicht einmal ihr Garten seine beste Seite zeigen konnte. Statt Frühstück unterm Apfelbaum und abendliches Grillen bescherte er ihnen nur viel Arbeit. Ständig musste der Rasen gemäht werden, in einigen Beeten breitete sich Mehltau aus und das Unkraut wucherte, während die Kübelpflanzen ertranken.

Dennis versank in eine seltsame Lethargie, die sie nie zuvor an ihm erlebt hatte. Er nahm rapide ab, war blass und oft schweigsam. Sie dachte, dass ihm sein Heimweh zu schaffen machte, aber sie scheute sich, das Thema anzuschneiden. Zu sehr fürchtete sie sich davor, dass ihr eine Lebensentscheidung abverlangt würde.

Kurz vor dem geplanten Griechenlandurlaub im Herbst bat er sie erneut, ihn zu heiraten. Diesmal bei einem Festessen mit Rosen und Champagner. Sie nahm seinen Antrag an. Ihre Liebe brauchte zwar keinen Trauschein, doch wenn sie ihm schon nicht seinen Lebenstraum erfüllte, so wollte sie ihm zumindest in diesem Punkt entgegenkommen. Ihr selbst bedeutete die Hochzeit nichts.

An diesem Abend legte sie ihm eine Pro-und-Contra-Liste vor, die sie in den letzten Monaten immer wieder ergänzt hatte. Jetzt, da sie ihn die Liste lesen sah, schämte sie sich plötzlich. Die Contra-Spalte zog sich über zwei Seiten hin. In der Pro-Spalte standen nur wenige Punkte: Sonne, Meer, Delfine, Dennis’ Glück und: kein Lärm.

»Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt«, meinte Dennis. Lächelnd bat er sie um einen Stift. »Die Pro-Seite ist nämlich länger als die Contra-Seite.«

Sie sah ihn fragend an.

Er strich energisch alle negativen Argumente durch und fügte eine dritte Spalte hinzu. In diese schrieb er: Angst, Sicherheit, Gesundheit im Alter. »Ich hatte befürchtet, dass da stehen würde: Sprachprobleme, Sich-fremd-fühlen, Wirtschaftskrise. Das wären Gründe gewesen, die ich hätte akzeptieren können. Aber das…«, er deutete mit dem Stift auf die mittlere Spalte, »sind keine wirklichen Hinderungsgründe. Barbara, du bist noch nicht einmal sechzig Jahre. Wer weiß, ob du überhaupt so alt wirst, um eine Pflege zu brauchen? Du könntest morgen hier vor dem Haus beim Versuch, die Straße zu überqueren, von einem Auto überfahren werden. Außerdem bin ich sicher, dass du bei meiner Fürsorge, der Ruhe und der Mittelmeerkost gesund bleibst und steinalt wirst.«

Er fasste nach ihrer Hand und drückte sie. »Ein weiterer Punkt: materielle Sicherheit. Du bist doch kein Luxusweibchen, das jeden Monat Klamotten kauft oder alle paar Jahre neue Möbel braucht. Hey… warum weinst du jetzt? Komm mal her.« Er zog sie auf seinen Schoß und küsste ihr die Tränen weg. »Bist du nicht im Grunde schon längst überzeugt?«

Sie schluchzte auf und umarmte ihn.

»Die einzig wahre Sicherheit liegt hier.« Er legte seine Hand auf ihr Herz. »Und hier.« Er stupste mit dem Finger an ihre Stirn. »Und das beste Mittel, ein Leben zu ertragen, das nicht perfekt ist, das ist die Liebe. Weil das so ist, halte ich es bei dir im kalten Deutschland aus.«

Endlich war der Damm gebrochen! Sie unterhielten sich bis spät in die Nacht und versuchten, all die Ideen einzufangen, die sie umschwirrten wie Schmetterlinge. Dennis Augen blitzten vor Unternehmungslust.

Der Herbsturlaub war aufregend anders. Das Haus der Großmutter wurde gründlich geprüft. Die Bausubstanz war gut, dicke Bruchsteinmauern gegen die sommerliche Hitze und - bei vernünftiger Heizung - auch gegen die feuchtkalten Winter. Die geräumige Küche lud zu Kochorgien mit Freunden ein. Barbara wünschte sich größere Fenster und vor der Küche eine Terrasse mit einer seitlichen Mauer gegen den allgegenwärtigen Wind. Von hier aus hatte man einen fantastischen Blick auf die Bucht und die dahinterliegenden Berge. Und dann der Garten! Was darin alles grünte und blühte, obwohl er seit Großmutters Tod nicht mehr gepflegt wurde.

Dennis Bruder Iannis schlug vor, den ehemaligen Stall zu einer separaten Wohnung auszubauen. Hier konnte ihre Schwester Teresa mit Familie wohnen, wenn sie aus Athen zu Besuch kam oder Freunde aus Deutschland.

»Im Sommer könnt ihr an Touristen vermieten; etwas zusätzliches Geld kann man immer gebrauchen.«

Dennis blühte auf. Am Liebsten hätte er sich um alles selbst gekümmert.

Aber Iannis lehnte ab: »Lass mich nur machen! Ich baue euch ein schönes Nest, das wird mein Hochzeitsgeschenk für euch.«

»Vor uns liegt das pralle Leben, agapi mou, das spürst du doch auch, nicht wahr?«, strahlte Dennis, als sie am Ende des Urlaubs auf der Fähre standen und Kefalonia hinter ihnen immer kleiner wurde. »Im nächsten Frühjahr beginnt der wundervolle Rest unseres Lebens.«

Von Dennis Krebserkrankung erfuhr sie durch Zufall. Die Klinik rief an, weil der Termin für eine Chemotherapie verschoben werden musste. Er solle sich umgehend mit seinem Hausarzt in Verbindung setzen. Für Barbara brach eine Welt zusammen. Er war sterbenskrank? Das konnte einfach nicht sein! Warum hatte er seine Krankheit vor ihr verheimlicht? Sie machte sich Vorwürfe, weil sie die Zeichen falsch gedeutet hatte. Nicht Heimweh hatte ihn belastet, sondern Krankheit, vielleicht Schmerzen und ganz sicher die Nachwirkungen der Chemo. Er wollte nach Kefalonia zurück, um dort zu sterben. Er wollte heiraten, um sie abzusichern.

Sie rief ihren gemeinsamen Hausarzt an, mit dem sie seit der Studienzeit gut befreundet war. »Komm vorbei«, meinte dieser. »Am besten gleich, wenn du das möglich machen kannst.«

Als sie weinend an seinem Schreibtisch saß, nahm er sie in den Arm. »Ich durfte dir nichts sagen. Er reagierte regelrecht mit Panik, als ich ihn darauf hinwies, dass das dir gegenüber nicht fair ist. Er war der Meinung, du würdest die Wahrheit nicht verkraften.«

»Seit wann weißt du es denn?«

»Ich dürfte dir das eigentlich nicht…«

»Komm mir jetzt bitte nicht mit ärztlicher Schweigepflicht, Hans! Du musst mir alles sagen! Bitte! Ich drehe sonst durch!«

Der Arzt dachte kurz nach, dann rang er sich eine Entscheidung ab. »Im März kam er wegen einiger Beschwerden zu mir und ich habe ihn sofort an einen Facharzt überwiesen.«

»Im März schon?«

»Ja, vor eurem Osterurlaub. So, nun hör‘ auf zu weinen! Ich habe nämlich Neuigkeiten. Der Krebs wurde früh erkannt und konnte erfolgreich therapiert werden. Die Kollegen und ich sind davon überzeugt, dass er geheilt werden kann. Die letzten Untersuchungen waren sehr ermutigend, der entsprechende Arztbrief war vorhin in der Post. Wahrscheinlich hat der Kollege Dennis auf dem Handy nicht erreicht, deshalb hat er bei euch zu Hause angerufen, um ihm die guten Nachrichten sofort mitzuteilen. Dein Dennis hat einen ungeheuren Lebenswillen. Er glaubte die ganze Zeit über, dass er die Krankheit besiegen wird. Griechenland wird ihm guttun. Ich bin mir sicher, dass er dort vollständig genesen wird. Ihr solltet allerdings regelmäßig nach Deutschland kommen, um sicherzustellen, dass das auch so bleibt.«

»Ist das wirklich wahr?« Barbara sprang auf und fiel ihm um den Hals. »Oh, Hans, dieser Vormittag war der schlimmste in meinem Leben. Und jetzt bin ich so glücklich!« Sie putzte sich die Nase und tupfte die Tränen ab. Wie ein Déjà-vu roch sie plötzlich Meeresluft und sah vor ihrem inneren Auge, wie die Delfinschule aus dem Wasser der Bucht schnellte. »Ich verstehe nur nicht, warum er mir seine Krankheit verschwiegen hat. Hat er so wenig Vertrauen zu mir?«

»Das hat nichts mit mangelndem Vertrauen zu tun. Er wollte dich zum einen nicht belasten. Zum anderen fürchtete er deine überbordende Sorge. Du hättest…«

»Ja, vielleicht hätte ich versucht, ihn zu erdrücken. Aber ich mache mir Vorwürfe! Ich habe im letzten halben Jahr nur an mich gedacht. Die Angst vor dem Auswandern war so groß… Ich zog die falschen Schlüsse, als er immer weiter abnahm. Und diese Lethargie! – Ich hätte die Zeichen deuten können, wenn ich mehr auf ihn geachtet hätte!«

»Ich glaube, er war froh, dass du abgelenkt warst. Sonst wäre es ihm schwergefallen, sein Geheimnis zu hüten. Was willst du nun tun?«

Barbara sah ihren Arzt lange an.

Schließlich zuckte sie mit den Schultern und sagte: »Ich werde schweigen. Vielleicht vertraut er mir sein Geheimnis an, wenn er vollständig geheilt ist. Ich werde mich zusammenreißen, auch wenn mir das schwerfallen wird. Ich werde die Auswanderung vorantreiben, aber… ich werde mein Haus nicht verkaufen, sondern vermieten und im oberen Stock einen Bereich behalten. Denn man weiß nie… Es gibt immer mehr als eine Lösung für ein Problem, nicht wahr?«

Als sie wieder zu Hause war, durchsuchte sie die Schmuckschatulle, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte.

Da war es!

Nur das Silber war schwarz angelaufen. Sie nahm es mit hinaus in den Garten, setzte sich unter den alten Apfelbaum und polierte das Schmuckstück mit einem Baumwolltuch, bis es glänzte.

»Unsere Liebe allein wird nicht reichen«, meinte sie am Abend. Sie legte ihm den Anhänger mit den springenden Delfinen um den Hals. »Ich glaube, wir brauchen auch ein kleines Quäntchen Glück!«

 

1 Agapi mou - meine Liebe

Ein neuer Tag

Sinje Blumenstein

März 2004.

Las Vegas ist ein Albtraum. Und ich bin arbeitslos.

Chris stößt mich unsanft in die Seite, als sie sieht, dass ich dem Zimmermädchen schuldbewusst nachschaue. Selbst ich habe gespürt, wie mein Gesicht zu einer sorgenvollen Maske einfror. Weil es mir schwerfällt, loszulassen. Auch hier noch, Tausende Kilometer von zu Hause entfernt. Im staubigen Licht des Tages stehe ich, die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, neben meiner Freundin vor unserem Motelzimmer, das mich so sehr an einen Tatort aus CSI erinnert, dass ich am liebsten mit Pfefferspray im Anschlag ins Bett gehen würde. Wenn ich welches hätte… Der Billig-Look unserer Absteige für die nächsten drei Tage dämpft meine Reiselaune enorm, macht er mir doch wieder bewusst, dass ich für diesen Trip meinen letzten in Festanstellung verdienten Cent verbraten habe und meinen vom Arbeitsamt bewilligten Jahresurlaub gleich mit. Hingeschmissen habe ich meinen Job, bevor er mich endgültig in die Anstalt bringen konnte. Dann sind Chris und ich trotz allem, wie seit Herbst geplant, in den Flieger gestiegen und haben den Alltagsärger hinter uns gelassen. Drei Wochen Kalifornien – mit Abstecher in den Nachbarstaat. Drei Wochen Roadtrip für Girls. Fast ohne Kompromisse.