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Stadt Esslingen am Neckar, Sommer 2000

„Die Sache ist soweit klar“, verkündete Hauptkomissar Herbert Streckle in der abendlichen Sondersitzung der Polizeidienststelle Esslingen am Neckar. „Der Täter ist vermutlich Deutscher und zwischen 25 und 35 Jahren alt. Er ist 1,85 bis 1,90 m groß, wahrscheinlich kahlköpfig und verfügt über erstaunliche Kräfte. Er hat eine Stahltür aus den Angeln gehoben, wofür er fünf Sekunden Zeit hatte, und das ohne Hilfsmittel.“

Streckle war das genaue Gegenteil dessen, den er beschrieb. Mittelgroß, mittelalt und plump. Niemals hätte er eine Stahltür aus den Angeln heben können.Ihm war es zuviel, wenn er seiner Frau am Samstag die Sprudel- und Bierkästen in den Einkaufswagen des Getränkemarktes heben musste und von dort in das Auto und vom Auto ins Haus. Niemals würde er begreifen, warum ein Getränkekasten so oft bewegt werden musste, bis man endlich an das Getränk herankam. Und dann die Flaschen. Aus dem Kasten in den Tragekorb, vom Keller in die Küche, von der Küche ins Esszimmer, dort endlich in ein Glas geleert, dann wieder zurück in die Küche und wenn die Flasche leer war, in den Tragekorb und zusammen mit anderen Flaschen in den Keller und in die Getränkekiste. Am nächsten Samstag ging alles wieder von vorne los. Leerer Kasten ins Auto, dann in den Getränkemarkt, den Einkaufswagen…

Streckle vernahm Räuspern und eine erwartungsvolle Stille. Seufzend kehrte er in die Wirklichkeit zurück. Sein Büro war voll von Streifenpolizisten, die darauf warteten, seine Instuktionen zu erhalten. Der Sitzungsraum war nicht zugänglich, da er seit Wochen renoviert wurde, und so standen die Mitarbeiter dicht an dicht in seinem Arbeitszimmer.

Streckle fuhr sich übers Haar, lockig und kräftig, wenn auch aus dem Blond ein Weiß wurde, rückte seine Brille zurecht und fuhr fort.

Im Landkreis Esslingen hatte es zwei Frauenmorde gegeben, den ersten im Dezember letzten Jahres, den zweiten jetzt im Juli, vor zwei Tagen. Beide Frauen waren zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt gewesen, verheiratet, Hausfrauen, die Kinder bereits aus dem Haus oder im Studium. Außer diesen Ähnlichkeiten gab es sonst keine. Die eine Frau, das erste Opfer, lebte in einem Hochhaus in der Esslinger Pliensauvorstadt und war nachts um 23.30 Uhr erdrosselt worden, als sie den Müll im Entsorgungszentrum des Hochhauses in einen Container legen wollte. Das Zentrum war durch eben jene Stahltür veschlossen, die der Täter in Sekunden lautlos beseitigt hatte, um sich auf die vor Schreck gelähmte Frau zu stürzen. Tatwaffe war ein rot-weiß gestreiftes Plastikband gewesen, wie es benutzt wurde, um Baustellen abzusperren. Es war vierfach genommen worden, vermutlich um eine hohe Reißfestigkeit zu gewährleisten, und am Tatort zurückgelassen worden. Natürlich gab es jede Menge Fingerabdrücke drauf, aber keine, die sich mit bekannten Tätern zur Deckung bringen lassen konnten.

Das zweite Opfer wurde in Plochingen ebenfalls nachts, um circa 3.15 Uhr ermordet. Die Frau konnte nicht schlafen und hatte beschlossen, noch einen kleinen Spaziergang im Garten zu machen. Es war einer jener Gärten, die ohne jede Begrenzung in die Nachbarsgärten übergehen und zur angrenzenden Straße keinen Zaun aufweisen. Dort überraschte der Täter die Frau und erdrosselte sie. Tatwaffe war diesmal ein zu einem Seil gedrehter Gelber Sack, der zur Abholung auf der Straße bereitgestanden und vom Täter kurzerhand ausgekippt worden war. Auch der Sack blieb neben der Leiche zurück. Natürlich gab es keine verwertbaren

Fingerabdrücke, keine Übereinstimmung auch mit den auf dem rot-weißen Band gefundenen Abdrücken. Den Frauen war sonst nichts angetan worden. Sie waren tot und es gab keine Hinweise auf die Beweggründe für ihren Tod. Die Täterbeschreibung, vage genug, stammte von einem ziemlich betrunkenen Spätheimkehrer, Nachbar der zweiten Ermordeten, der von dem vermutlichen Mörder angerempelt worden war.

Da so wenig bekannt war über den Mörder, er aber innerhalb von sechs Monaten zweimal zugeschlagen hatte und es vermutlich wieder tun würde, tat man bei der Kripo alles, um über Schlüsse und Täterpsychologie zu einem Hinweis zu kommen, wo man den Täter suchen solle. Aus dem angrenzenden Stuttgart war eine Polizeipsychologin hereingeschneit, bei deren Eintreffen sich Streckles Haare gesträubt hatten. Ein Mädchen, bestimmt jünger als seine eigene Tochter, die doch auch erst fünfundzwanzig war, mit rotgefärbten Haaren, Minirock und auffallendem Silberschmuck an den Fingern. Wie konnte ein dermaßen junges Mädchen Ahnung von Perversen, Mördern, Verdächtigen, ja wie konnte sie überhaupt Ahnung von den Menschen haben? Streckle hatte es rundweg abgelehnt, sich mit der Frau zu unterhalten, mochte sie nun Diplompsychologin, sogar Dr.psych. sein. Wie ging das nur an, diese Qualifikationen vorzuweisen und nicht älter als einundzwanzig auszusehen? Das ging über seinen Horizont, und er überließ die Dame seinem Assistenten Hoffmann.

Jedenfalls war bei dem Ganzen herausgekommen, dass der Täter einen Hass auf Frauen hatte (dies schien so offenkundig, dass Streckle stark daran zweifelte), vermutlich wegen Vernachlässigung oder Misshandlung durch die Mutter (Streckle war bereit zu wetten, dass der Täter eine liebevolle Mutter gehabt habe), und ohne väterliche Identifikationsfigur aufgewachsen, deshalb womöglich impotent oder homosexuell (Streckle stufte den Täter als das Übliche, nämlich heterosexuell, ein). Weiter gab die Psychologin eine Fülle von Vermutungen ab, alles in Psychologen-Deutsch, also schlicht unverständlich. Kein Mensch konnte aus diesem psychologischen Täterprofil einen handfesten Hinweis auf die mutmaßliche Gesellschaftsgruppe ableiten, in der der Täter aufgewachsen war oder sich noch befand. Streckle begriff nicht, dass Fersehserien wie „Für alle Fälle Fitz“ so beliebt waren und die Illusion vermitteln konnten, ein Psychologe könne der Polizei wirklich von Nutzen sein. Niemals, nicht ein einziges Mal in den letzten zehn Jahren, hatte ein Polizeipsychologe recht gehabt. Steckle hatte „Für alle Fälle Fitz“ nur einmal angeschaut, auf Drängen seiner Fau, die meinte, ein bisschen Fortschritt könne seiner Arbeitsweise nicht schaden, und es für puren Quatsch gehalten. Dabei war der Fernsehpsychologe ein gestandener Mann von über vierzig und nicht ein Teenager wie diese rothaarige Stuttgarterin.

Streckle schüttelte den Kopf. Alles vergebliche Liebesmüh, alles Schau und nichts dahinter. So konnte man keinen Frauenmörder fangen. Ein Serientäter wie dieser würde sich bei einer Tat verraten, früher oder später, und dann geschnappt werden. Das war die schlichte und grausame Wahrheit. Streckle wüde sich eher die Zunge abbeißen, als diese Wahrheit auszusprechen, denn dies käme einer Bankrotterklärung des gesamten Polizeisystems gleich. Aber tief im Inneren wusste er es und manchmal hatte er den Eindruck, auch seine Mitarbeiter wussten es, so sehr sie auch engagiert waren und Ideen produzierten, wer der Täter denn sei.

Steckle seufzte und merkte, dass um ihn wieder diese beredte Stille war. Mit seiner vernünftigen, leisen Stimme, die von Zeugen gewöhnlich als beruhigend, von seinen Mitabeitern als tödlich langweilig empfunden wurde, gab er den Polizisten, was an Anweisungen zu geben war, nämlich so gut wie nichts. Die Streifenleute sollten die Augen offenhalten, besonders nachts, und auf verdächtige Personen achten. Also nichts anderes tun, als sie jede Nacht taten.

Polizeiobermeister Rossi hatte nichts anderes erwartet von dieser Sondersitzung, aber er ärgerte sich über die vertane halbe Stunde, in der er viel Nützlicheres hätte erledigen können. Marco Rossi war neununddreißig und damit der älteste unter den Bereitschafspolizisten. Normalerweise hätte er längst in den Innendienst wechseln sollen, aber Rossi war der Außendienst lieber. Er scheute nicht den Schichtdienst und die Bereitschaften an Sonn- und Feiertagen. Rossi übernahm gern die unbeliebte Weihnachtsschicht, denn Rossi war geschieden. Seine Frau hatte ihn vor drei Jahren mit den beiden Kindern verlassen, weil sie sich in einen Amerikaner verliebt hatte, und lebte jetzt mit ihrer neuen Liebe in den USA. Rossi hatte seine Kinder nach der Scheidung nur noch einmal gesehen, denn er konnte sich die Reise nach Kalifornien nicht oft leisten, und seine Kinder besuchten ihn nie.

Rossi hatte einen italienischen Namen und durchweg italienische Vorfahren, aber er war in Esslingen geboren. Als Marco mit sechs Jahren in die Schule kam, hatte er von einem Tag auf den anderen beschlossen, Schwabe zu werden. Er hörte auf, Italienisch zu sprechen, sich mit Italienern zu umgeben und sogar Italienisch zu denken. Seine Eltern und Geschwister konnten ihn auf Italienisch ansprechen, aber sie bekamen deutsche Antworten. Polizeiobermeister Rossi war Schwabe, und wäre nicht sein Nachname gewesen, so wäre an dem blonden, schnauzbärtigen, mittelgroßen Mann –denn seine Familie stammte aus Norditalien- nichts aufgefallen, was ihn von den zahlreichen einheimischen Marco Häberle, Marco Eisele oder Marco Raible unterschied.

Rossi lebte in einem Ein-Zimmer-Apartement, das er mied, solange er konnte. Alle Arbeit war ihm recht, wenn er nur nicht in seiner Bude sitzen musste, wo er nicht wusste, was er tun sollte. Rossi hatte sein Leben lang in einer Familie gelebt, zuerst in seiner Herkunftsfamilie, dann in seiner eigenen, sodass er ein Leben als Single gar nicht kannnte. Nachdem er sich im ersten Jahr nach der Scheidung immer wieder gefragt hatte, wozu er überhaupt noch lebte, war er dazu übergegangen, sich als Versager und Feigling zu sehen, der anderen vorführen sollte, was aus einem wurde, der seiner Frau vertraute und sich für seine Kinder aufopferte. Er fühlte sich als tragisch-lächerliche Figur und merkte, dass auch andere ihn so sahen. Sein Chef und seine Kollegen behandelten ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung, und darauf gab es keine angemessene Reaktion.

Was Rossi am meisten wunderte, wenn er allein zuhause saß oder allein auf Beobachtung saß, war, dass seine Lust auf Frauen vollkommen verschwunden war. Wenn seine Kollegen über die Kolleginnen pornografische Witze rissen und mit brutalen und verächtlichen Worten um sich warfen, verstummte er. Weder hasste er Frauen, noch war er scharf auf sie. Er hatte aufgehört zu begehren und dieser Mangel an Gefühl erschreckte ihn mehr als er sich eingestehen wollte. Über Nacht war er impotent, ja frigide geworden. Er war sexuell so verwirrt, dass er nicht wusste, ob er im Grunde homosexuell war und es nur sein Leben lang unterdrückt hatte.

Die heftigsten Witze wurden über eine neue Kollegin gerissen, so wie immer die Neuen den größten Spott zu ertragen hatten.Warum die Neuen traditionell bekämpft wurden, wurde in der Polizei ebensowenig in Frage gestellt wie der männlich-bestimmende Führungsstil überhaupt. Er war ein Überbleibsel aus der militärischen Anfangszeit der Polizei, und wenn er auch in der Gegenwart mehr hinderlich als nützlich war, so bedurfte es doch eindeutiger Bemühungen, ihn abzuschaffen, und diese Bemühungen gab es nicht.

Die Neue war nicht übel, fand Rossi, als er sie bei der langweiligen Besprechung betrachtete. Sie war ein pummeliges junges Mädchen, betont unattraktiv, und machte selten den Mund auf. Von ihren männlichen Kollegen hielt sie sich auf eine Art fern, die vermuten ließ, dass sie nicht allzuviel vom männlichen Geschlecht hielt. Rossi betrachtete die mittelgroße junge Frau, deren Hüfte ohne Verengung in die Taille überging, die in der kackbraunen Uniform völlig blass aussah und ihr dunkles Haar in einen Knoten zusammengedreht und festgesteckt hatte.

Evelyn Unger, so hieß sie, hatte eine helle Haut, die im Kontrast zu ihrem dunklen Haar stand und sie fast krank aussehen ließ. Ihre Augen waren braun und ihr Mund hatte volle blasse Lippen. Da das Haar zurückgenommen war, konnte man ihren schlanken Nacken und ihre zierlichen Ohren sehen, die irgendwie nicht zu dem fülligen Köper passten. Rossi erschrak, als ihm jemand den Ellenbogen in die Rippen stieß.

„Bist wohl geil auf sie?“ raunte sein Kollege Breitmann, der die verächtlichsten Witze kannte, und nun grinste.

Rossi musste einen Ekel unterdrücken, als er dessen kahlrasieren Schädel sah, und zischte „Halt‘s Maul, du Arschloch.“ Breitmann grinste breiter. Sein Frauenhass war bekannt. Was auch jeder wusste, aber keiner wissen wollte, war, dass Breitmann Neonazi war und regelmäßig an den Treffen und Übungen der Gruppe teilnahm. Horst Breitmann hatte die Schrankfigur und den groben, ungeschlachten Schädel, den man in Kriegsfilmen gern bei SS-Leuten sah. Rossi spürte seinen Zorn auf diesen Kollegen wachsen und wandte sich ab, um ihm nicht aus einem Impuls heraus ins Gesicht zu schlagen.

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Nachdem Streckle die Sitzung beendet hatte, packte er zusammen, denn es war spät geworden, und fuhr mit dem Bus nach Hause. Das war das Schöne an einer kleinen Kreisstadt wie Esslingen. Es gab keine großen Entfernungen. Er stieg nach einer Viertelstunde aus und ging noch hundert Meter zu Fuß zu seinem Häuschen am Stadtrand.

Die ehemalige freie und Reichsstadt Esslingen am Neckar grenzte im Nordwesten an die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart und war viel älter als diese. Esslingen lag in der alten Zeit an der Salzstraße, einem der wenigen bedeutenden Handelswege in Europa. Hier gab es die einzige Brücke über den Neckar und Esslingen scheute sich nicht, sich einen saftigen Brückenzoll von den Handelsreisenden zahlen zu lassen. Seine Blütezeit im Mittelalter gründete auf dem Wein, angebaut an den Hügeln, die östlich des Neckars steil zu diesem abfielen. Die Gesamtanbaufläche betrug ein 14-Faches derer heutzutage. Es gab etliche Klöster und Kirchen in der Reichsstadt und Pfleghöfe von bedeutenden deutschen Klöstern der damaligen Zeit. Diese Höfe waren Häuser, heute würde man sagen Filialen, in denen Esslingens Exportschlager, der Wein, gehortet und ins Ausland transportiert wurde. So war Esslingen umschwärmt, beliebt und bevorzugt gewesen und es war ein kurzer und bitterer Weg gewesen in die relative Bedeutungslosigkeit, die es nun neben Stuttgart hatte.

Dem Unwillen der Stadtväter und –mütter zu extensiver Werbung war es zu verdanken, dass Esslingen als Touristikort kaum bekannt war, und so bekamen nur wenige verirrte Fremde die unverändert erhaltene grandiose Innenstadt mit ihrer Fülle von Fachwerkhäusern, mit ihrem atemberaubend renovierten bemalten Rathaus, ihren gepflasterten schattigen Plätzen und den verschlungenen, zum Teil überbrückten Neckarkanälen zu sehen, die man außerhalb von Rothenburg ob der Tauber nicht in Süddeutschland vermuten würde. Die Innenstadt war unterhöhlt von Deutschlands ältester Sektkellerei und nur wenige wussten, dass hier unter dem Namen Sekt der beste Champagner gekellert wurde, den man außerhalb – manche meinen, auch innerhalb- der Champagne trinken konnte.

Esslingen hatte im Advent einen originalen mittelalterlichen Weihnachtsmarkt, der nachts lediglich von offenen Kohlefeuern in Eisenbecken beleuchtet wurde. Wachhunde strichen frei um die mit Stoffplanen bedeckten Holzstände. Man ging auf stohbedecktem Kopfsteinpflaster und atmete den Geruch des Strohs, des offenen Feuers und des zimtenen Glühweins und süßen Schmalzgebäcks ein. In gewebte Tuche gekleidete Händler und Händlerinnen boten ihre Ware in einem altertümlichen Deutsch feil, Schwertmacher zeigten im flackernden Schein der Feuer ihre Waffen, Musikanten durchbrachen die nächtliche Stille mit ihrem Spiel und Weinsieder bereiteten den gewürzten, dampfenden Wein zu.

Im Sommer gab es das traditionelle Zwiebelfest auf dem historischen Marktplatz im Schatten der Dionysius-Kirche, ein Ess- und Trinkfest unter freiem Himmel, wie es die Schwaben lieben. Das Zwiebelfest hieß so nach dem Spitznamen der Esslinger, die Zwiebler gerufen wurden. Zu diesem Spitznamen kamen sie angeblich im Mittelalter so: Der Teufel ging, um menschliche Beute für sein höllisches Reich zu fangen, durch die Lande und kam so in die Reichsstadt Esslingen. Er strich als Reisender verkleidet durch die Sträßchen und suchte Dumme, die er für sich rumkriegen konnte. Da kam er an den Marktplatz und es war an diesem Tag Markttag in Esslingen. Wie einladend leuchteten die Äpfel auf den Markttischen, so rotwangig und prall! Dem Teufel lief das Wasser im Mund zusammen, denn es war ein heißer Tag und er hatte lange nicht gevespert.

„Bitte, gebt mir doch einen eurer Äpfel, gute Frau“, sagte er zu der Marktfrau. Diese hatte den sich nähernden Kunden längst gemustert. Sie hatte den unter dem Umhang hervorlugenden Pferdefuß bemerkt und einen Hauch Höllenschwefel gerochen. Warte nur, dachte sie, dir geb ich’s. Laut sagte sie „Bitte schön, mein Herr“, und reichte dienstfertig dem Teufel die Frucht. Dieser biss gierig hinein. Es war aber kein Apfel, sondern eine große Zwiebel, und wer einmal eine Esslinger Zwiebel gekostet hat, dem tränen allein bei dem Gedanken daran die Augen. Der Teufel spuckte und prustete, die Augen gingen ihm über, er machte kehrt und bockte und galoppierte aus Esslingen hinaus wie der Leibhaftige, der er ja war. So war es einer wiefen Frau zu verdanken, dass Esslingen fortan vom Teufel verschont wurde, und die Esslinger hatten ihren Spitznamen weg.

Seit kurzem veranstalteten die Esslinger einmal jährlich das Bürgerfest in der gesamten Innenstadt mit Essen und Trinken und Musik. Hier wurde deutlich, wie viele Menschen hier lebten, die keine generationenübergreifenden Esslinger Vorfahren hatten. Man sah Stände der Griechen, Türken, Italiener, Kroaten, Russen, Rumänen, Ungarn und anderer Herkunftsländer. Griechen führten auf der Tribüne Volkstänze auf, Türken tanzten in Schlangen über den Marktplatz und man konnte an einer Ecke live Rockmusik, an einer anderen indische Meditationsmusik und an einer dritten Ecke Rapmusic mit Judovorführungen erleben. Ganz Esslingen war auf den Beinen und nie gab es für so wenig Geld so köstliche Schisch Kebabi und Lahmacun, Souvlaki und Baklava zu kaufen wie auf dem Bürgerfest.

Esslingens Widerwille, sich als die Perle darzustellen, die es war, war also schwer zu verstehen, aber das hatte den Vorteil, dass die Esslinger unter sich blieben und das Ihre selbst genossen, und offenbar reichte ihnen das.

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Streckles Frau kam in die Diele, als sie ihren Mann kommen hörte, und küsste ihn.

„Hallo, Schätzchen“, sagte sie fröhlich. Irene Streckle war eine energische Frau Mitte Vierzig, sah aber zehn Jahre jünger aus. Sie war angelernte Informatikerin und arbeitete als Programmiererin in einer Großbank in Stuttgart, teils aber auch an ihrem Computer zu Hause. Aus irgendeinem Grund, der nie in Frage gestellt worden war, erzählte immer seine Frau als erste, wie ihr Tag verlaufen war.

„Ich habe eine wichtige Sache in Java fertiggemacht“, begann sie befriedigt, und er wusste, dass die Aktion erfolgreich verlaufen war.

Streckle hatte keinerlei Interesse an Computern und beherrschte seinen PC im Büro nur soweit, wie es für die Arbeit nötig war. Er hatte nie die Aufregung verspürt, die andere überkam, wenn sie etwas Neues im Programm entdeckten oder einen Arbeitsschritt zum erstenmal ohne Pannen ausführen konnten. Er spielte keine Spiele auf dem Computer und versendete keine E-mails. Tapfer lauschte er dem Erlebnisbericht seiner Frau und bemühte sich, nicht zu gähnen. In der ersten Zeit, als seine Frau begann, sich für Computerarbeit zu interessieren, fing er automatisch an zu gähnen, sobald sie erzählte. Es war wie ein Zwang. Aber seine Frau hatte kein Verständnis dafür, zu Recht, wie er zugeben musste, und so kämpfte er gegen den Gähnzwang an. Es gelang ihm diesmal nur mit einem vorgetäuschten Kratzen am Kinn, aber er hoffte, seine Frau hätte es nicht bemerkt.

Müde gab er vor zuzuhören, ließ im Kopf jedoch noch einmal den Frauenmörderfall ablaufen. Irgendwann würde man den Mann schnappen, irgendwann. Er musste auch um seine Frau fürchten, solange dieser Kerl frei herumlief. Denn sie passte in die Opfergruppe: zwischen vierzig und fünfzig, verheiratet, Kinder aus dem Haus. Zwar war sie voll berufstätig, aber oft halbe Wochen zuhause, weil ihr Computer mit der Bank verbunden war.

„… natürlich nur, wenn du möchtest“, endete seine Frau gerade und Streckle bemühte sich auszusehen, wie wenn er jedes Wort gehört hätte. Er antwortete mit einem „Natürlich, Liebling“, das sie zufriedenzustellen schien. „Ich bringe gleich das Essen, ruh dich doch aus“, sagte sie warm.

„Danke, Liebling“, seufzte er und ging ins Schlafzimmer, um den Anzug aus- und seine Feierabendkleidung anzuziehen.

Klar, die Ehe sollte ein Austausch von Meinungen, Gefühlen und Ideen sein. Und nichts davon hatte in der letzten halben Stunde bei Streckles stattgefunden. Aber manchmal, dachte Streckle, ist die Ehe einfach das, was einem Leben Konstanz verlieh, was man als immer Gleiches zelebrierte, um den Halt nicht zu verlieren. Einigermaßen zuversichtlich begab er sich zu Tisch.

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Angie Zimmermann räumte den Abendbrottisch ab und ihre Tante machte es sich im Fernsehsessel bequem. Sie würde das Millionenquiz anschauen, das hatte sie Angie bereits beim Frühstück verkündet. Es hieß sicher nicht Millionenquiz, sondern irgendwie anders, aber für Angie war alles gleich. Ein paar Menschen trafen sich in einem Studio und benahmen sich möglichst blöd, um einen Geldgewinn einzuheimsen.

Welcher normale Erwachsene würde todernst Fragen beantworten zu Gebieten, die keinen Menschen wirklich interessieren konnten, wie lange vergangene Olympiaden und ihre Goldmedaillengewinner oder sogar die deutsche Politik der letzten fünfzig Jahre? Oder welcher Erwachsene würde allen Ernstes die Sendung mit der Maus auswendig lernen, alle Sendungen der letzten zwanzig oder dreißig Jahre, um dann in einer Quizshow fünf Melodien aus diesen unzähligen Sendungen zu erkennen? Angie kannte keinen, der das tun würde, aber die Antwort war klar: für Geld tun Menschen alles, aber auch wirklich alles.

Sie ging durchs Wohnzimmer auf die Terrasse, ließ ihre Tante mit dem Fernseher und den Geldgierigen allein und setzte sich in den Gartenstuhl. Apropos Geld. Morgen würde sie dem Gärtner siebenhundert Mark geben, weil er ihre marode Blautanne fällte.

Da stand der Baum, dreißig Jahre alt, wie der Gärtner vor einer Woche geschätzt hatte, als er den Baum besichtig hatte. Die Tanne war kränkelnd, seit Angie das Häuschen gekauft hatte, und das waren nun zehn Jahre. Es machte einfach keinen Spaß, einen ewig dürren Nadelbaum im Garten zu haben, noch dazu im Blickfeld des gemütlichsten Raumes im Haus, nämlich des Wohnzimmers, und noch dazu, wo sich seit dem Orkan Lothar im Jahre 1999 die Stürme mehrten. Eines Tages würde der schwache Baum umgeweht und fiele direkt aufs Haus. Die Nachbarin, deren zweijährigen Sohn Angie halbtags beteute, hatte ihr den Gärtner empfohlen.

„Er hat Muskeln und nicht zu wenig“, hatte Tülin Pereira ihn bewundernd beschrieben, „Und es ist ein Vergnügen, ihn mit der Motorsäge arbeiten zu sehen.“