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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://www.dnb.ddb.de

This is a WAITAWHILE book. Alle Rechte vorbehalten.

© 2007 bei Sigrid Hauff, Wartaweil 37, D-82211 Herrsching

Umschlaggestaltung: Dr. Anton J. Kuchelmeister

Umschlagfoto: Anita Geerken

Orthografie und Interpunktion dieses Buches wurden den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibreform nicht angepaßt. Gesetzt in Adobe Garamond Pro.

Layout und Formatierung: Dr. Anton J. Kuchelmeister.

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN 978-3-7386-8868-9

Inhaltsverzeichnis

Tagbuch

Unsere ganze Geschichte ist bloß Geschichte

des wachenden Menschen; an die Geschichte

des schlafenden hat noch niemand gedacht.

(Christoph Lichtenberg)

Sprachlos

Die Zeit, die du mit deiner Rose verloren hast ist es, die deine Rose so wichtig macht. Wirst du zerstören, was dich berührt?

Unausgesprochenes. Ob der eisige Mond weiß, dass ihn die Sonne bestrahlt? Nichts ist nicht, sagt Parmenides. Geh nicht den Weg des Nichts. Ein Alptraum. Klare Sätze, dann überschnell überstürzt eine Wortflut, Gedanken drehen durch als ob ein Tonband zu schnell läuft. In den Momenten, in denen ich etwas verständlich von mir geben kann, rufe ich um Hilfe. Verwirrung. Die Gedanken überlagern sich, sind nur noch Brüche. Nichts als Lärm im Kopf. Dass ich noch warte auf ein winziges Etwas, wenn alles vorbei ist? Das Nichts, das Alles ist – und umgekehrt? Es muss eine Sprachlosigkeit geben, die in Sätze gerinnt. Literatur als Resignation. Loslösung. Gefolgschaft und Eigenständigkeit können nicht zusammengehen. Die uns verlassen haben werden uns fremder von Tag zu Tag. Holz und Stein. Jedes Wort, das mir auf der Zunge liegt, drückt mir die Luft ab. Am schwersten wiegt, dass kein Wort mehr Gewicht hat. Die Falter am Abend drängen zum Licht. Die Glasscheibe, an der sie sich verzweifelt stoßen, hindert sie daran, sich die Flügel zu verbrennen an der Lampe. Den Toten ist es erlaubt, die Lebenden zu besuchen im Traum.

Sie scheint schwer zu tragen an ihrem Kopf, die Rose, die zu welken beginnt.

Ein Wort also, damit ich, wenn du willst, ein Wort von dir bekomme. 27 Jahre Verbindung durch Briefe, mit Unterbrechungen, aber immer noch mehr als Zärtlichkeit für dich, meine Jugend, mein Versagen. Ein Bedauern, das anders ist als sonst.

 

Es besteht kein Zwang, unter Zwang zu leben. Lachen und philosophieren und sein Haus verwalten und alles Übrige tun. Auf das Leben spucken und auf jene, die sinnlos an ihm kleben. Schmerzen aushalten, wenn sie erträglich sind, wenn aber nicht, mit gleichmütiger Gesinnung aus dem Leben wie aus einem Theater weggehen. Uralte Weisheit, dass Gesundheit von Körper und Seele zusammenhängen. Philosophie als Medizin. Allein in dieser verrückten brutalen Welt, Gedanken, Lasten hinter sich lassen. Gegensätze bedingen sich wechselseitig. Anfang und Ende. Tun, was ich tue, ohne mich bewusst anzustrengen, heiter, aufrichtig. Am Atem lässt sich ablesen, wie es um uns steht. Tiefes Atemholen kostet Kraft. Ich hänge durch. Die Gedanken verfangen sich. Kaum eine Bewegung, kaum eine Regung. Riskierst du Worte, stehst du wehrlos da und verwundbar. Den Dolchstoß kannst du nicht abwehren, indem du in Deckung gehst. Der Kopf wehrt sich. Hände und Füße frieren. Eine Kränkung macht krank. Als ob die Verständigung mit der Welt von der Verständigung mit dem einen abhängt.

Heute Morgen deine Handschrift. Gibt es Zeiten im Leben, wo man Bilanz macht? Jedes Jahr das vergeht, versteckt und verschiebt das Bild von einem Glück, das nicht kommen will. Sicher kann ich es mir nicht ausmalen, oder aber ich bin zu wählerisch. Wieder ganz allein, die Jahre vergehen. Ich denke zurück an 26 oder 27 Jahre mit Begegnungen, 26 oder 27 Jahre mit verpassten Treffen. Zwei Leben nebeneinander. Kein Bedauern, das wäre zu leicht. Du weißt sehr wohl, dass meine scheinbare Wankelmütigkeit immer eine Angst versteckt hat, Angst zu enttäuschen, Angst vor einem weiteren Versagen. Erinnere dich. Frickenhausen. Paris. Algerien. Wieder Paris. Kabul. Wieder Paris. Wieder Schweigen. Wieder rufe ich dich. Wieder Schweigen. Kennst du jemanden, der so treu ist in seinem Verschwinden und Wiederkommen? Habe ich das Recht, oder die Schamlosigkeit, dir das zu sagen?

 

Als ob die Welt sich nie aus den Angeln heben könne. Ein nichthysterisches Verhältnis zur möglichen Apokalypse. Die falsche Bewegung durchschauen. Frist bis zum Schlussakt. Bis dahin: sprachlose Gegenwart. In einem Alter, wo die Lehrer sterben und die Eltern gebeugt gehen. Ein Philosoph, der nach der Tragödie des Lebens auch die Komödie des Lebens erfasst hat, lacht. Logische Notwendigkeit gibt es nicht in den menschlichen Verhältnissen. Aber es ist ein traumatisches Erlebnis, den Traum zu verlieren. Das Du, dem keiner Du werden kann. Hier ist der Rand des Lebens. Ein Unerfülltes ist hier in den wahnwitzigen Schein einer Erfüllung geflüchtet; nun tastet es in den Irrgängen umher und verliert sich immer tiefer. C’est sans issue. Der Weg nach draußen führt durch die Tür. Wer schafft noch irgendetwas und ist von vornherein einverstanden, dass es vergeht, vergänglich ist, flüchtig, Ausdruck eines einzigen Augenblicks, der sich nicht festhalten lässt.

Nicht mehr 25 Jahre alt. In meinem Kopf habe ich von uns beiden das Bild von einem Hund, der sich in den Schwanz beißen will, der es schafft, dann nicht mehr, dann wieder, dann nicht mehr. Ein Hin und Her. Es ist nicht mehr schlimm, da das Leben allmählich dem Ende zugeht und die Zukunft hinter uns liegt. Die einzige positive Eigenschaft die ich habe ist, dass ich mir meiner Unbeständigkeit bewusst bin und Angst habe, diejenigen, die ich liebe, mit in den Abgrund zu stürzen.

 

Zurückblicken. Die Wunde schmerzt nicht mehr, wenn sie dir wohl gefällt. Der Mensch ist von Natur still. Aber nur das lebendige Wort hat magische Kraft, bewegt. Mitmenschen erkenne ich an winzigen Gesten. Nicht verlogen, sondern verschwiegen. Zwiespältig? Den Spalt schließen. Ich sitze da und verjage die Fliegen. Jeder bewirkt selbst seinen Himmel und seine Hölle, hier und jetzt. Leiden ist Widerstand gegen Umstände, ein Problem der Einstellung zu dem, was passiert. Jeder kann die Welt nach seiner Vorstellung verändern und gestalten, er braucht nur sich selbst zu ändern.

Dass ich den Mut nicht finde, den Faden abzuschneiden, der mich an dieser Welt festhält, die man ‚zivilisiert’ nennt. Ich glaube, es ist der Schritt der Menschheit nach vorn, der meinen nach rückwärts so schrecklich schwer macht. Meine Träume sehe ich jeden Tag ein wenig zusammenschmelzen, wie Eiswürfel in einem Glas Schnaps.

Außerordentliche Kraft der Feder und der Schrift. Ich kann Stunden mit dir sprechen, da du da bist, auch wenn du nicht da bist. Heute Abend werde ich mich neben dich hinlegen, wie oft, meinen Kopf auf mein Kissen legen als ob es deine Brüste seien, dein Bauch, oder dein Geschlecht, ganz einfach so, den Kopf in deiner Körperwärme – ohne mich zu rühren.

 

Krankheit und Leiden als ein Zustand der körperlichen und psychischen Transformation, Schmerz als Mittel der Bewusstseinsveränderung. Die Sprache der anderen Wirklichkeit ist Poesie. Tanz. Energie. Um möglichst viel wahrzunehmen, muss man sich selbst vergessen können. Wir besitzen keine Sprache für die innere Welt. Ich stolpere jeden Schritt über meinen Kopf. Es sei denn, ich tanze. Was bildet sich der Mensch ein, er dürfe den Schafen zwei Beine zusammenbinden, dass sie sich derart durchs Leben plagen müssen. Wandel der Perspektive.

Bin ich wie der Esel, der nichts frisst, weil er weiß, dass er stirbt, ganz gleich, ob er den Hafer aus dem rechten Kübel frisst oder die Körner aus dem linken? Will ich alles, und drei oder vier Zielen nachlaufen ist unmöglich oder außergewöhnlich oder höheren Wesen vorbehalten? Was du mir geben kannst? Das fragst du mich? Wenn du wüsstest.

 

Auf jede Frage kann ich mit ja und mit nein antworten. Hilflose Koseworte, zur Probe, aus Mitleid. Nicht am Alleinsein verzweifeln wir, sondern dass wir den andern nicht in unser Alleinsein hineinziehen können. Ich falle in mich zurück. Immer fluchtbereit. Daher die ständige Suche nach Auswegen. Ich will freiwillig bleiben. Wir wissen voneinander, was der See vom Berg weiß, der sich in ihm spiegelt. Wir treffen uns. Unsere Welten treffen sich nicht. Sie bleiben zurück. Wir bleiben zurück. Wir verlassen unsere Welten und treffen uns. Der Dialog wird zum Monolog. Scheitern schweigend hinnehmen? Die eigentliche Versuchung des denkenden Menschen ist die, zu verstummen. Sprachlosigkeit zwingt sich in Worte. Löcher in der Mauer. Der Heilungsprozess beginnt mit der Trostlosigkeit, die wir in Sätze füllen. Eine überschaubare Welt aus Papier, das rundum brennt, so dass zu erwarten ist, dass das Feuer sich immer mehr zur Mitte hin durchfrisst. Hörst du wie ich verstumme? Sprachlos warte ich auf Antwort.

Ich glaube nicht, dass du ein Traum bist. Drei Jahre vergehen und ich nehme das Gespräch wieder auf, als ob nur drei Tage vergangen wären. Treu wie ein alter Hund. Keine Zeit mehr zu lügen, uns zu verstellen. Es wäre leicht, morgen Abend schon bei dir zu sein. Zu leicht. Ich genieße dieses Warten. Es ist mir ein Vergnügen, zu warten, mich vorzubereiten.

 

Eine Frage der Perspektive, ob wir das Leben als Kreislauf oder als Einbahnstraße sehen. Die Frage ist, ob Ausgangspunkt und Endpunk nicht ineinander fallen. Es liegt mir nicht, zurückzublicken. Wenn ich in der Sonne stehe, wünsche ich mir nicht, im Schatten zu sein. Als wäre die Welt ein Paradies ohne die Fußspuren der Vergangenheit. Clarifies itself in turning. Begreifen in Ableitungen. Der Verkehr rast auf der Überholspur vorbei. Aus der Vogelperspektive betrachtet gibt es kein Ziel. Ich fliege, unberührt. Ein Weg, bis an den Horizont. Staubig. Mit Radspuren. Rechts und links Steppe. Weit. Still. Sonne brennt auf den Wanderer, und er erinnert sich an eine Quelle, die so fern liegt, dass die Erinnerung daran schon fast versickert ist.

Es ist fast so, als ob wir einer Katastrophe entkommen wären, als einzige Überreste der Menschheit. Eine andere Welt kommt zum Vorschein, ein anderes Theaterstück wird gespielt. Mache ich die Reise in umgekehrter Richtung zu den andern? Auch wenn die Zeit die Wirklichkeit ein wenig in Falten legt, bin ich sicher, dich aus einer Menschenmenge herauszufinden. Die Jahre vergehen, und ich werde als alter Mann mit weißen Haaren ankommen, mit einer Haut, die so faltig ist wie ein alter Apfel.

 

Ich fühle mich sehr in die eigene Falle gegangen und sage mich los. Breche aus. I found a thing that made me think I could die if I wanted to. Ein Balkon zum Hinabstürzen. Ein Fenster zum Hinausspringen. Löcher in der Mauer, durch die man Neuland sieht. Als ob ich, wenn mich die Vernunft auch nur einen Moment im Stich lässt, vom Turm springe oder mich irgendwo fallenlasse. Was hält mich zurück? Der Ruck, der noch fehlt. Warum stehe ich da mit hängenden Armen? Ich habe immer Mühe, mir selbst nachzukommen. Panischer Widerwille gegen Unveränderliches, Eingefrorenes. Wahrscheinlich auch gegen Glück, denn das ist ähnlich. Alle Bürden lege ich ab auf diesem letzten Weg. Ich kehre von Drüben zurück, eine Existenz auf willkürlichen Abruf. Lastfrei, leicht, heiter.

Dass ich endlich den Schritt auf dich zu mache. Dieses Mal. Wie ich dieses Geheimnis für mich behalten habe, um dir nicht zu schaden. Ich habe dich mit so viel Leidenschaft, mit solcher Kraft geliebt, dass ich Angst hatte, dich in ein Leben hineinzuziehen, zu dem ich kein Vertrauen hatte. Wie kann ich dir begreiflich machen, dass man aus Liebe fliehen kann. Dass man aus Liebe wehtun kann, um den Menschen zu bewahren, den man liebt. Dein Gespenst aus Fleisch, Knochen, Blut.

 

Dass es irgendwo ein Du gibt, das noch immer alles bestimmt, beeinflusst, verändert, anstößt. Das vielleicht dumpf vor sich hin lebt und von seiner Rolle nie erfährt. Nicht überbrückbare Entfernungen. Imaginäre Beziehungen oder reale? Ob ich mir Gewissheit verschaffen soll? Nachschauen? Das Zelt aufschlagen und sesshaft werden, nein. Die Herausforderung, nichts Genaues zu wissen, wurde lebensnotwendig. In-der-Luft-Hängen Existenzgrundlage. Balance schöpferischer Akt. Also: weiterhin in der Luft hängen. Nur reflektieren, wie weit vom Boden ich fliege, wie haltlos ich bin und wie wenig mir nach Halt ist, wie ich mich dagegen wehre. Wie weit oder tief mir alles geht. Losgelöstsein als Zustand. Fliegen als Zustand.

Keine ernsten Probleme. Nein. Nur Lust zu lachen, wie Kinder. Mein Auge tut weh, aber ich bin glücklich. Glücklich. Was für eine phantastische Reise habe ich in all den Jahren mit dir gemacht, und, abwesend wie du warst, hast du alles akzeptiert.

 

Einen nötigen Schritt tun ohne zu wissen, wohin er führt. Ein Vogel hebt ab vom Zweig. Der Zweig bewegt sich kaum So wenig an etwas hängen wie ein Vogel. Entscheiden. Alle Energie ist aufgefressen davon bis auf den letzten Rest, so dass sich etwas wie Lähmung einstellt und der Körper macht, was er will. Er wird heiß und kalt. Stundenlang bin ich nicht ansprechbar. Das Gefühl, nein, die Gewissheit, dass die Entscheidung nur in diesem einzigen Moment möglich war. Irgendwann kommt es auf jeden Augenblick an.

Ein alter Schrotthaufen wird dir demnächst begegnen. Ich habe dich lieb, weil du mich nicht gekreuzigt hast, auch wenn du nicht verstehen konntest, warum ich dir davonlief. Meine alten Beine sind ein wenig müde, weißt du, die Jahre vergehen und die Anstrengungen werden mühsamer. Große Ruhe im Haus, ab und zu knarrt ein Balken. Kein Auto, kein Lärm auf der Straße – diese Zeit absoluter Ruhe, wo man sich fast atmen hört, überrascht, vor allem in einer Stadt wie Paris. Ich, der ich immer vor dir geflohen bin, um nicht Verantwortung übernehmen zu müssen, ich spreche, spreche, spreche, als ob das Leben zu Ende sei und ich dir noch tausend Dinge zu sagen habe.

 

So lebst du jenseits der Reichweite meiner Sätze, außerhalb. Die Mauer zu durchschlagen waren die Worte zu schwach. Wandernd sehe ich mit verschränkten Armen zu, wie alles seine festen Bahnen geht. Ein Vogel fliegt und hinterlässt keine Spur. Das allmähliche Verstummen. Ein Weg. Geschichten. Episoden. Stationen. Wenn dunkle Trauer so weit ausschwingt wie jenes farbige Hochgefühl.

Dass ich dir endlich ohne irgendein Bedauern sagen konnte, was du für mich warst, hat mir neue Kraft gegeben. Ich habe einen heiteren Rhythmus wieder gefunden. Ich bin glücklich in diesem Augenblick, glücklich, dass ich dir gestanden habe, was ich ‚uns’ seit Jahren verschwieg. Ich habe immer gedacht, dass ich unfähig wäre, dich glücklich zu machen. Das ist die einzige Entschuldigung, der einzige Grund. Du bist zweifellos der Mensch, den ich mehr als mich selbst, mehr als alles in der Welt geliebt habe, und es war einzig deshalb, dass ich zwanzig Jahre vor dir geflohen bin. Schon fast komisch. Dein Gespenst braucht dich jetzt, weit, nah, wie auch immer, ob du willst oder nicht, zuhörst oder nicht.

 

Unveränderliche Situationen in den sich verändernden. Scheitern. Möglich, dass man eines Tages auf seiner eigenen Spur zurückgehen muss bis zu dem Punkt, wo noch Halt war, und dann neu anfangen, nicht dieselben Fehler machen. Warten auf Unerwartetes. Ich möchte wissen, was Menschen am Leben hält. Was ihnen die Kraft gibt, weiterzuleben. Hoffnungslosigkeit im Großen, und unzählige kleine Hoffnungen ohne Belang. Wie mancher Fisch immer wieder auftaucht, um Luft zu holen. Ich weiß nicht, ob ich dich so verstehe, wie du dich meinst. Ich meine, dass du so bist, wie ich dich verstehe.

Ich erinnere mich, dass ich weder in Deutschland noch in Frankreich mit dir geschlafen habe, es gab noch keine Empfängnisverhütung und die Achtung vor dir hat mich zurückgehalten. Später gab es diese Zurückhaltung nicht mehr. Ich glaube, ich könnte immer noch vierundzwanzig Stunden mit dir im Bett verbringen, dich streicheln, lieben, von deinen Lippen und deinem Bauch trinken, dein Geschlecht durchwühlen. Als ob dein Speichel meiner wäre, dein Geschlecht mein Mund, dein Geschlecht meines. Lust am Leben, Lust weiterzumachen.

 

Die Welt – mein Spiegelbild. Sich nicht aus den Augen verlieren ist ein schönes Bild für einen Wunsch. Ob wir eine Traumwelt über Katastrophen wegretten können? Schulterzucken. Tagelang ein Tagedieb. Sätze als Rettungsring vor dem Untergehen. Die Zeit der Verweigerung ist zu Ende. Spielen was man nicht hat. Still sein und doch eine Antwort erwarten auf eine nicht laut gewordene Frage. Kein Wort mehr, nur noch Gesten. Warten. Nichts erwarten. Nichts tun was etwas Mögliches unmöglich machen könnte. Etwas einen Wert geben durch Verzicht.

Du sagst, ich soll dich so sehen wie du bist? Du bist eine Frau von vierzig und ein paar Jahren mehr, deine Augen haben sich nicht geändert, die Figur ist nicht mehr die eines zwanzigjährigen Mädchens – aber ich bin ja auch nicht mehr zwanzig Jahre alt. Der Reichtum deiner Erfahrungen ist ohne Zweifel wichtiger als die drei Fältchen in deinen Augenwinkeln. Es wäre ein leichtes, wie ein junger Mann gleich in den Zug oder ins Flugzeug zu sitzen, aber nein – spürst du den Unterschied und seine Bedeutung? Kein Telefon, solange ich dich nicht leibhaftig vor mir gesehen habe.

 

Schatten. Alles wirft Schatten. Je nachdem, woher das Licht kommt, ergibt sich ein anderes Abbild, je nach Abstand eine andere Verzerrung. Verrückt normal. Normal verrückt. Man kann sich selbst fremd werden. Die erste Liebe ist doch vielleicht von Natur aus zur einzigen angelegt. Wenigstens bewegt später wohl kaum etwas so heftig. Weil er fliegen kann, kann der Adler nicht gehen. Wie andere mein Leben beurteilen ist gleichgültig. Wenn ich den Blick von anderswo noch nicht verkrafte, wechsle ich meinen Standpunkt. Dass aber diese menschliche Gestalt tausend Wandlungen durchmacht, ohne jemals ans Ende zu kommen?

Fest steht, dass wir jetzt, mit den Jahren, mit meiner Erfahrung und deiner Erfahrung tatsächlich hätten miteinander leben können, mit Hochs und Tiefs, wie alle auf der Welt. Eine Feststellung ohne Bedauern. Das Rad dreht sich nie zurück. Was für eine Reise. Ich konnte die verrücktesten Dinge mit dir treiben, und du hast während vieler Jahre alles geschehen lassen ohne Widerspruch. Ohne dass du es willst, übrigens auch ohne dass ich es wollte, leben wir schon ein Jahrhundert zusammen.

 

Lebenslust und Todesfreude. Das Leben feiern bis zum Ende. Sich ausgeben. Dionysische Lust und Selbstverschwendung. Lachen, Anschauen, Händehalten, Umarmen – in der Weise der Insekten, Eintagsfliegen. Jede Sekunde ist Teil dieses einzigartigen Tages. Wunderbarer Reichtum und wunderbare Leere. Geburt. Tod. Die Stadt ohne Mauern. Sprachlos gegenwärtig. Dürres Gras. Steine. Königskerzen. Das Schiff hat abgelegt. Was ist Wüste? Unausgesprochenes. Weltdurchquerung. Gehen, gehen, im Regen, und nirgends erwartet werden. Gedanken werden irre auf ihrem gewohnten Weg. Ungereimtheiten am Wegrand.

Künstler – wenn auch einer, der sich nie als Künstler hat realisieren können. Eine Erziehung, so streng, dass der Gedanke, miserabel zu leben, um Gedichte schreiben zu können, um zu malen, um auch nur zu träumen, mich nicht einmal gestreift hat. Was für ein Skandal in der Familie, wenn ich von Gedichte Schreiben, von Malen gesprochen habe!

Dann kommt das Leben und stößt dich in die Richtung, in die man dich gedrängt hat. Wenn der Schwung, den man dir am Anfang versetzt hat, schwindet, machst du die Augen auf und siehst den Weg, den du zurückgelegt hast. Du stellst fest, dass du vierundvierzig, fünfundvierzig Jahre alt bist und nicht mehr schreiben kannst, sondern rechnen, nicht mehr malen, sondern ein Geschäft führen, das dich ankotzt (sehr vulgär!) ...

 

Niemand, nichts, nirgends, niemals. Willkürlich zu träumen, gleichsam mit Absicht, ist die Kunst aller Künste. Entbehren, um zu verschwenden. Der Tanz der auf sich selbst Zurückgeworfenen. Eros schützt die Liebenden. Dionysos begünstigt die Freuden. Alles auf einmal. Materie tanzt. Gleiches erkennt sich gegenseitig. Versuche ich um mich zu schlagen, treffe ich nur mich selbst. Ich halte mich in der Schwebe. Das Wort tötet. Alles, was fest ist, tötet. In einer Herde, in der die meisten Schafe die Nase am Boden halten, erkennen sich die wenigen, die mit erhobenem Kopf gehen, von weitem.

Je älter ich werde, umso stärker bemerke ich dieses Gefühl, versagt zu haben, das mich in das restliche bisschen Leben hineindrängt wie in eine Sackgasse. Abende, wo ich die Banalität und die Leere, die ich gelebt habe, und auch die Leere, die ich bewusst um mich herum geschaffen habe, registriere.

Wie schwer ist es, den Clown zu spielen, wenn einem nicht danach ist.

 

Wie nah am Lächerlichen wir lavieren, wenn wir uns ernst nehmen. Ungehorsam. Impulse nicht zensiert. Ich lebe, was ich von mir selbst verstanden habe. Auch wenn ich mich aus der Vogelperspektive beobachte. Margeriten wachsen im Salatbeet. Ich bin voller Achtung vor denen, die glücklich sind. Vielleicht richtet einer, der sucht, die Augen immer so weit in die Ferne, dass er gar nicht mehr bemerken kann, was nahe kommt.

Was für einen alten Affen gebe ich ab. Falten im Gesicht, wie eine Landkarte, auf der alle Bäche eingezeichnet sind. Mein Arabergesicht ist mager, das lässt die Nase hervortreten, so dass sie jetzt einem Papageienschnabel gleicht. Ich kann es nicht erwarten, dich in meine Arme zu nehmen. Ob sich nun diese Arme im April, Mai oder Juni um deine Schultern oder deine Hüften schließen, sie wollen nichts als dich liebkosen.