Chira Brecht (geboren 1970) ist Managerin, Autorin und Übersetzerin und lebte bis vor kurzem mit ihrer Partnerin, zwei Katzen und einem Zwergpinscher in den USA.

Mittlerweile sind sie nach Deutschland zurückgekehrt und Katze Lilli hilft fleißig beim Schreiben.

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Prolog

Ein kleines Mädchen war von seiner Mutter Pilze sammeln geschickt worden; nicht ohne die Ermahnung, am Waldrand zu bleiben, damit es sich nicht verirre. Nun fand das Mädchen aber so viele schöne Pilze, dass es darüber die Worte der Mutter ganz vergaß. Erst als über ihr ein Buchfink zwitscherte: "Was machst du denn hier, Eva?", schreckte es auf und sah, dass es mitten in den dichten Wald geraten war. Doch als es das Vögelchen nach dem Weg fragen wollte, war es verschwunden. Verwundert und erschrocken stellte Eva fest, dass in dem Teil des Waldes, in dem sie sich befand, die Bäume prächtiger aber auch dunkler und unheimlicher waren, als sie sie in Erinnerung hatte. Voller Angst schlug sie eine Richtung ein, aus der sie meinte, gekommen zu sein, und siehe da, der Wald begann sich tatsächlich zu lichten. Eva kam zu einem kleinen See, aus dem bereits die Nebel aufstiegen, und auf der gegenüberliegenden Seite bemerkte sie ein kleines Häuschen. Schon fast wieder erleichtert machte sie sich auf den Weg und bald klopfte sie schüchtern an der Tür der heimelig aussehenden Behausung.

Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und das Gesicht einer hübschen Dame erschien. "Ach bitte", begann des kleine Mädchen furchtsam. "Ich habe mich im Wald verlaufen, und..."

"Und nun möchtest du fragen, ob ich dir helfe", unterbrach eine sanfte, singende Stimme Evas Gestammel. "Komm erst einmal herein, mein Kind. Du bist sicher müde und hungrig."

Dankbar nickte das Mädchen.

Die Dame nahm sie an der Hand und führte sie in ein behaglich eingerichtetes Zimmer. Der Tisch war bereits gedeckt, so als ob sie Eva erwartet hätte. Eva war jedoch viel zu hungrig, um diesen sonderbaren Umstand zu bemerken. Als die Kleine sich satt gegessen hatte, führte die schöne, freundliche Dame Eva ins Bad und wusch sie mit duftendem Wasser. Danach trug sie das halb schlafende Kind in ein weiches, warmes Bett und zauberte ihr gute Träume, denn sie war - Ihr werdet es Euch bereits gedacht haben - eine Zauberin.

Als das Kind am Morgen erwachte, wusste es zuerst nicht, wo es sich befand. Doch sobald die Dame in ihr Zimmer getreten war, um ihr einen guten Morgen zu wünschen, fiel es ihr wieder ein.

"Ich muss sogleich nach Hause", rief es. "Meine arme Mutter wird sich große Sorgen machen."

"Bleib", antwortete die Fee ruhig. "Ich habe gestern Abend noch eine Taube ausgesandt, die deiner Mutter Nachricht bringt, wo du dich aufhältst. Sie ist einverstanden, dass du ein paar Tage bleibst."

Eva war zuerst misstrauisch, doch die Dame schenkte ihr ein solch bezauberndes und gütiges Lächeln, dass Eva alle ihre Bedenken vergaß. Es gab ein herrliches Frühstück und danach ruderte die Fee mit Eva ein wenig auf den See hinaus. In der Mitte zog sie plötzlich die Ruder ein und ließ das Boot in der Sonne ruhig vor sich hin treiben. "Erzähle mir ein wenig von dir, mein Kind", forderte sie das Mädchen auf.

Und Eva begann zu reden, von ihren Eltern und von ihrem kleinen Bruder, von der Schule und den Klassenkameraden. Die schöne Dame hörte so aufmerksam und intensiv zu, dass Eva gar nicht mehr merkte, was sie alles sagte, und zuletzt kannte die Zauberin all ihre Gedanken, Ideen und geheimen Wünsche, die Eva manchmal gleich wieder vergaß, nachdem sie sie erwähnt hatte. Die Fee jedoch merkte sich jedes Wort des kleinen Mädchens ganz genau.

Erst als die Nacht herein brach, wusste Eva nichts mehr zu erzählen. Sie wurde plötzlich furchtbar müde und fühlte sich seltsam leer. Das lag daran, dass die Zauberin ihr die Erinnerung an alles, was sie erzählt hatte, genommen hatte. Leicht und beschwingt kletterte sie am Ufer aus dem Boot und fiel gleich nach dem wiederum sehr üppigen Abendessen in einen seligen Schlummer. Sie träumte von einem kleinen Mädchen und einer schönen jungen Frau in einem Boot auf dem See. Das war die einzige Erinnerung, die ihr geblieben war.

Viele Tage und Wochen unternahmen Eva und die Zauberin aufregende und schöne Dinge. Sie gingen in dem großen Wald spazieren. Es gab einen Wasserfall, Felshänge, alte Steine und Ruinen zu erkunden. Eva war ein Kind mit blühender Phantasie und sie erzählte der Fee alles, was ihr in den Sinn kam. So verbrachten sie den ganzen Sommer und Eva dachte nicht einmal an ihre Familie. Dann kam der Herbst und eines Tages sagte die Fee zu Eva. "Du musst heute alleine spielen, Kleines. Ich muss Besorgungen machen. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Vor Einbruch der Nacht werde ich zurück sein." Eva nickte. Sie war noch nie ein ängstliches Kind gewesen.

Die Dame spannte die Kutsche an, und Eva winkte ihr noch einmal hinterher. Dann ging sie ins Haus zurück, um zu spielen. Doch seltsamerweise konnte sie nicht so ganz bei der Sache bleiben. Immer wieder stand sie auf, um aus dem Fenster zu sehen, aber das Wetter war zu schlecht um hinauszugehen. Eva wollte dennoch nicht still sitzen bleiben. Sie wanderte im Haus umher und besah sich alle Zimmer so genau, wie sie es noch nie getan hatte. Dabei bemerkte sie Türen, die ihr noch nie zuvor aufgefallen waren. Auch dies lag an dem Zauber, den die Fee über Eva gesponnen hatte. In ihrer Abwesenheit jedoch war er weniger stark.

Sie hatte ihn ein wenig zu schwach gemacht, damit er Eva nicht schaden würde. Daher meinte Eva heute auch, ein merkwürdiges Klopfen hinter ihrer Stirn zu spüren. Neugierig öffnete das kleine Mädchen eine der unbekannten Türen. Sie stand in einem prächtigen Raum, an dessen Ende sich eine weitere Tür befand. Ein wenig verwundert fragte sich Eva, wie denn der große Saal in das kleine Häuschen passte. Sie durchquerte den Raum, um hinter die andere Türe zu blicken. Wohl hatte sie erwartet, dass diese sie ins Freie führte, stattdessen stand sie in einem noch größeren und noch prächtigeren Saal. Überall an den Decken hingen riesige Kronleuchter, die bunte und manchmal seltsam bizarre Bilder an den Wänden beleuchteten. Eva kamen sie alle ein wenig bekannt vor, doch sie ahnte nicht, dass es ihre Träume waren, die die Fee im Laufe des Sommers gesammelt und auf Bilder gebannt hatte. So kam Eva durch viele Zimmer und Säle und sie wunderte sich längst nicht mehr, über ihre Proportionen im Vergleich zur Größe des Häuschens. Ihr war klar geworden, dass sie in eine andere Welt eingedrungen war. Sie bewegte sich ganz ungezwungen und ohne Angst. Fast, als wäre sie schon oft hier gewesen und träfe in den Bildern alte Bekannte. Eva befand sich in ihrer eigenen - von der Zauberin aufbewahrten - Gedankenwelt.

Endlich kam sie in einen riesengroßen Saal, der keine weitere Tür mehr hatte. Außer Bildern gab es hier noch Figuren, Gerüche und Stimmen. Eva war in dem Raum angelangt, in dem die Fee die Erinnerungen aufbewahrte, die Eva ihr am ersten Tag gegeben hatte. Das Pochen hinter Evas Stirn wurde stärker und sie glaubte, der Kopf müsse ihr zerspringen. Lange stand sie vor dem Bild von einem Mann und einer Frau. Sie wusste, dass etwas an diesen Bildern für sie sehr wichtig war, doch so sehr sie sich ihr Gehirn auch zermarterte, sie konnte den Zusammenhang nicht herstellen. Plötzlich erklang eine Stimme. "Eva!" Das Kind fuhr herum. Es war nicht die Stimme der Fee. Hinter ihr stand eine durchsichtige, aus Gedanken geschaffene Gestalt und lächelte sie freundlich an. Eva wusste, dass sie vor Fremden Angst haben sollte, doch an der Gestalt war etwas, das das Kind wie magisch anzog. Langsam näherte sie sich der Frau. Als Eva nahe genug war, streckte die Frau vorsichtig die Hand aus, um dem Mädchen liebevoll über den Kopf zu streichen. Diese einfache Geste zerriss den Schleier, den das Kind noch vor Augen hatte. Mit einem Schlag waren alle Erinnerungen zurückgekehrt und weinend wollte das Mädchen in die Arme der Mutter sinken, doch sie griff ins Leere. Die Gestalt der Mutter war wie alles im Raum nur eine Reproduktion. Nichts war wirklich.

"Hier bist du also", sagte plötzlich eine kalte Stimme hinter ihr. Die Zauberin war zurückgekehrt und hatte sofort die offenen Türen entdeckt.

"Das alles gehört mir", sagte das Mädchen leise aber mit fester Stimme. "Du hast es mir weggenommen. Aber das hier sind nur die Bilder, nur der Widerschein. Wo sind meine Gedanken und Erinnerungen?"

"Warum willst du das wissen? Ist es dir nicht gut bei mir ergangen?" fragte die Fee böse.

"Doch, aber ich gehöre nicht hierher. Mein Platz ist anderswo", antwortete Eva tapfer. "Gib mir meine Gedanken zurück!"

Die Fee hielt mit einem Mal einen großen Spiegel in ihren Händen. "Hier, mein Kind, hier sind deine Gedanken und Gefühle. Ich habe sie mit diesem Spiegel aufgefangen."

"Bitte, gib mir den Spiegel", weinte Eva und wollte danach greifen.

Die Fee aber schlug ihr auf die Finger. Eva heulte entsetzt auf und ganz plötzlich bemerkte sie, dass nicht mehr die schöne und gepflegte Dame vor ihr stand, sondern eine hässliche, alte Frau, die böse lachte. "Sieh her, was ich mit deinem Spiegel mache." Und mit diesen Worten ließ sie den Spiegel fallen, dass er in tausend Scherben zerbrach.

"Nein!" Eva warf sich verzweifelt auf den Boden, um die Splitter einzusammeln. Doch da kam ein heftiger Sturmwind auf, und wirbelte die Glassplitter durcheinander. Er nahm sie auf und verteilte sie in der ganzen Welt.

Eva lag weinend am Boden. Sie sah zu der Frau hoch. "Warum hast du das getan?"

Das Weib kicherte nur böse. "Ich werde dir eine Chance geben, die Splitter einzusammeln. "Mit diesen Worten verwandelte sie Eva in eine schneeweiße Möwe.

"Flieg, kleine Möwe. Wenn du alle Splitter beisammen hast, wirst du wieder zu einem Menschenkind werden."

Sie scheuchte den Vogel zur Türe hinaus und die Möwe Eva machte sich auf die ausweglose Suche nach Tausenden in der ganzen Welt verstreuten Glassplittern.

Manchmal fanden Kinder die Splitter und hoben sie auf, weil sie glaubten, eine Stimme zu hören oder den Widerschein von bunten Bildern zu sehen. Dann hatten sie einen Glimmer von Evas Gedanken erhascht.

Darum, liebe Kinder, wenn ihr eine solche Glasscherbe findet, die ihr mit nach Hause nehmen wollt, und über Euch schreit eine kleine, weiße Möwe, als würde sie weinen, dann legt sie zurück, denn es könnte der Gedankenglimmer eines kleinen Mädchens namens Eva sein.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Reifen quietschen. Ein Auto. Kommt direkt auf mich zu. Bremsen, bremsen, ... rotes Metall schiebt sich auf mich zu, wird immer größer. Schlittert langsam heran, Zeitlupe. Vor Angst verzerrtes Gesicht. Ein Schlag. Autoskooter. Metall auf Metall. Glas, Splitter, Schmerz. Nacht.

***

"Sie kommt, Verena. Wir haben sie."

"Frau Sanders, können Sie mich hören? Öffnen Sie bitte die Augen."

Was ist das für eine Stimme? So weit weg. Ich bin müde! Watte.

"Frau Sanders, nicht wieder einschlafen!"

Was will die Stimme von mir? Wo kommt sie her?

"Geben Sie mir Ihre Hand, Frau Sanders."

Die Finger zu schwer. Lasst mich in Ruhe! Lasst mich schlafen!

"Frau Sanders, machen Sie die Augen auf."

Warum? Wer ist die weißgekleidete Frau? Gehört sie zu dieser Stimme, die mich nicht in Frieden lässt?

"Sehr gut. Gut so."

Licht in meinen Augen. Blendet. Nicht.

"Schon gut. Alles kommt in Ordnung. Haben Sie Schmerzen?"

Nein, ich habe keine Schmerzen. Ich will schlafen. Ich will nicht zurück.

***

Viele Stimmen. All diese Menschen in Weiß. Was mache ich hier? Es stimmt nicht. Es ist ganz falsch. Ich sollte hier nicht sein.

***

Sie haben mich zurückgeholt. Ich liege in einem weißen Zimmer in einem weißen Bett. Um mich herum nur weiße Menschen. Alles ist weiß. Und ich bin nicht tot.

"Guten Morgen, Frau Sanders. Wie fühlen Sie sich?"

Wie ich mich fühle? Fühle ich? Zerschlagen, zerquetscht, todmüde. Alles falsch. Ich gehöre nicht hierher. Sie wollen mich gesund machen, und ich will sterben. Warum lasst ihr mich nicht tot sein?

Immer die helle Stimme dieser jungen Ärztin. Immer stellt sie mir neue Fragen. Will etwas wissen, hakt nach. Nie lässt sie mich in Ruhe.

Und sie hat mir gestern gesagt, dass ich schon seit sechs Wochen hier bin.

Sie hat gesagt, dass ich schon viel zu lange hier wäre. Dass ich demnächst auf Reha gehen müsse. Dass ich nur gesund werden könne, wenn ich das selbst wolle.

***

Ich muss aufpassen, dass sie nichts merkt. Niemand darf es wissen. Sie hat schon zu viele Fragen gestellt, und zu wenige Antworten bekommen.

Wieder diese fragenden grauen Augen. Ich will sie nicht sehen. Glaubt sie, in meinen Augen lesen zu können? Was will sie darin sehen? Was will sie von mir?

Sie greift nach meiner Hand. Ich merke, dass ich zusammenzucke.

"Ich wollte Sie nicht erschrecken. Haben Sie Schmerzen?"

Sie erwartet eine Antwort.

Ich schüttle den Kopf.

"Okay, dann versuchen Sie jetzt bitte, Ihren linken Arm zu heben."

Meine Augen sagen nein.

"Haben Sie es heute schon versucht?"

Kopfschütteln.

"Gut, dann tun versuchen wir das jetzt gemeinsam!"

Nein.

Schweigen.

"Frau Sanders, warum wollen Sie nicht gesund werden?"

Was redet sie da?

"Ich will doch gesund werden!"

"Sagen Sie das bitte noch einmal ganz laut." Die Stimme leise. Fordernd.

Ich tue ihr den Gefallen. Muss es tun.

"Okay, dann versuchen Sie bitte, Ihren Arm zu heben."

Wenn ich nicht will, dass sie mich durchschaut, muss ich tun, was sie von mir verlangt.

"Gut so, fassen Sie ein bisschen höher. Fassen Sie nach dem Griff über Ihren Bett. Sehen Sie, das geht. Und nun legen Sie die andere Hand an den Halter."

Ich gehorche.

"Sehr schön. Und nun versuchen Sie, sich hochzuziehen."

"Ich kann das nicht!"

"Doch, doch, Frau Sanders, Sie können das."

Es tut weh. Plötzlich fühle ich einen stechenden Schmerz im Arm. Ich wusste, dass ich es nicht schaffe. Sie will mich nur quälen. Warum tut sie das?

"Nur noch ein kleines Stückchen. Sie haben es gleich geschafft."

Nicht heulen! Ich muss mich hochziehen. Sie wird es merken. Sie ist ja bereits misstrauisch geworden!

Plötzlich sind stützende Hände in meinem Rücken. Ich lehne mich erschöpft dagegen. Mein Gesicht ist nass von Tränen und Schweiß.

"Sehr gut. Ich wusste, dass Sie das können."

Ihr freundliches Lächeln tut weh.

"Morgen machen wir das zweimal hintereinander. Ab jetzt versuchen wir jeden Tag ein bisschen mehr, und bis zum Ende der Woche werden Sie aufstehen, ja?"

Nein!

"Nun schauen Sie nicht so erschrocken."

Warum sieht sie plötzlich so besorgt aus? Was hat diese Frau für Augen?

Warum geht sie nicht? Was will sie noch?

"Warum wehren Sie sich so gegen jeglichen Versuch, Sie weiter zu bringen? Ihre Werte sind vollkommen in Ordnung. Wenn es nach Ihrem Organismus ginge, hätten Sie dieses Bett längst verlassen."

Sie haben alles untersucht, was es zu untersuchen gibt. Meinen Kopf, mein Gehirn, meine Gehirnströme mit allen zur Verfügung stehenden Maschinen und Apparaten geröntgt, fotografiert, gemessen, aufgezeichnet. Was sehen sie da? Zellen und Nervenstränge? Gefühle und Gedanken?

"Was soll das heißen?" fauche ich. Wut muss Erschrecken überspielen.

"Das soll heißen, dass Sie nicht gesund werden wollen. Und ich möchte von Ihnen wissen warum."

Sie ist sehr ruhig. Graue Augen mustern mein Gesicht.

Sieh mich nicht so an!

"Soweit ich weiß, ist es Ihr Job, mich gesund zu machen."

"Was erwarten Sie von mir, Frau Sanders? Eine Infusion, die Ihnen neuen Lebenswillen einträufelt? Damit kann ich leider nicht dienen."

Mein Erschrecken ist so heftig, dass sie es merkt. Ich sehe es an ihrem Gesicht.

Meine Stimme ein ärgerliches, jämmerliches Krächzen: "Was soll dieser Unsinn! Ich verbitte mir diese idiotischen Behauptungen!"

Sie bleibt vollkommen ruhig.

"Ist die Behauptung wirklich so idiotisch?"

"Wie können Sie es wagen?" fauche ich.

"Frau Sanders, was werden Sie tun, wenn Sie aus dem Krankenhaus entlassen sind?"

"Was geht Sie das an?"

"Kaufen Sie sich ein neues Auto, betrinken Sie sich und fahren dann noch mal gegen die Felsen? Sind Sie in zwei Monaten wieder hier?"

Das Zimmer fängt an, sich zu drehen. Das kann sie nicht wissen!

"Sie wollen doch nicht etwa sagen..."

"Doch, Frau Sanders. Doch. Ich will genau das sagen. Dieser Unfall war keiner. Nur dass Sie wahrscheinlich nicht ein anderes Auto rammen wollten, sondern die Felsen hinabstürzen."

Nein!

"Wie kommen Sie dazu, so etwas zu behaupten! Das ist eine ... Unverschämtheit."

Ihr Blick, ich möchte mich krümmen unter diesem Blick, verschwinden. Bisher stand sie an meinem Bett. Nun zieht sie sich einen Stuhl heran.

"Wissen Sie nicht mehr, was Sie unmittelbar nach dem Erwachen aus Ihrem Koma gesagt haben?"

Ich starre sie feindselig an. "Ich habe gar nichts gesagt." Mir wird plötzlich sehr kalt. Dann bemerke ich noch etwas anderes: Verena Gessners Blick wandert prüfend zwischen meinem Gesicht und den Apparaturen an meinem Bett hin und her. Hat sie das die ganze Zeit schon getan? Tut sie das jetzt erst?

"O doch, Sie haben etwas gesagt, und zwar folgendes." Ihre Stimme wird zu einem Flüstern: "Wo bin ich? Bin ich tot? - Ich habe geantwortet, keine Angst, Sie sind am Leben, und Sie werden am Leben bleiben. Woraufhin Sie gesagt haben: Ich will nicht leben. Warum bin ich nicht tot?"

"Das habe ich nicht gesagt“, protestiere ich schwach. "Ich kann mich nicht erinnern."

"Es ist nicht ungewöhnlich, dass Sie nicht mehr wissen ob oder was sie gesagt haben, Frau Sanders“, antwortet sie sanft. "Aber das waren so ziemlich die exakten Worte."

"Woher wollen Sie das noch so genau wissen? Das ist lange her! Waren Sie allein?"

Sie schüttelt den Kopf. "Nein, Schwester Annette und Dr. Kersten waren dabei. Sie haben es ebenfalls verstanden. Und ich habe es mir aufgeschrieben."

Ich will nicht vor Scham in den Boden versinken. Ich möchte wütend sein. Ich möchte etwas zerbrechen.

"Haben Sie die Zeitungen schon verständigt?"

"Sie wissen, dass das Krankenhauspersonal absolute Schweigepflicht hat. Von unserer Seite aus besteht kein Interesse daran, Ihre Geschichte zu vermarkten."

"Schade, nicht wahr? Ist das der Grund, warum Sie mir das jetzt vorhalten? Wollen Sie sich rächen?"

"Welches Interesse sollte ich haben, mich an Ihnen zu rächen, Frau Sanders?"

Lässt sie sich durch nichts aus der Ruhe bringen?

"Was wollen Sie noch von mir?"

"Möchten Sie, dass ich gehe?"

"Ja." Ich will niemanden sehen. Lasst mich in Frieden.

Wieder der Blick auf die Apparaturen hinter mir. "Okay, ich habe Ihnen für den Augenblick genug zugemutet. Wir sprechen später darüber."

"Wir sprechen überhaupt nicht darüber." Ich funkle sie an.

Sie verlässt das Zimmer, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

***

Die Ärztin Verena Gessner schloss die Tür hinter sich und lehnte sich an die Wand. Sie hatte also Recht gehabt mit ihrer Vermutung. Kathrin Sanders hatte tatsächlich versucht, mit diesem Autounfall einen Selbstmordversuch zu vertuschen. Keiner hatte ihr geglaubt, weder ihr langjähriger Mentor Haverkamp noch der Klinikpsychologe Kochanski. Sie hatte es in ihren Augen gesehen, der abwesende, leere Blick, die Abwesenheit von Trauer, Angst und Freude.

Verena schluckte. Irgendetwas an Kathrin Sanders Tragik zog sie an. Sie wusste nicht, warum sie sich ausgerechnet um diese Patientin so sehr bemühte.

***

Lieber Gott, ich halte das nicht aus! Wenn es dich irgendwo da draußen gibt, dann mach, dass das alles nur ein böser Traum ist!

Es ist kein Traum! Sie hat es mir gesagt. Ich habe mich kaum dem Koma entrissen verplappert, den Rest hat sie sich zusammengereimt.

Verzweiflung hilft nicht weiter. Ich muss mir überlegen, wie ich mich verhalten soll, muss auf der Hut sein. Als erstes muss ich herausfinden, was sie nun vorhat.

Ich bin schon wieder so müde. Diese verfluchten Beruhigungsmittel! Ich darf jetzt nicht einschlafen. Ich muss nachdenken!

***

Jemand ist im Zimmer. Habe ich doch geschlafen?

"Was ist mit Ihnen, Frau Sanders? Haben Sie schlecht geträumt?"

Klingt die Stimme besorgt? Ihre grauen Augen bohren sich in meine. Ich bin überzeugt, dass sie meine Gehirnwindungen sieht.

"Was wollen Sie noch von mir? Reicht Ihnen nicht, was Sie mir heute Morgen genommen haben?"

"Genommen?" Sie scheint überrascht. Versteht mich nicht. Wie auch!

Ich schließe die Augen und versuche, sie weit wegzuwünschen.

"Frau Sanders, ich möchte Ihnen meine Frage von heute Vormittag noch einmal stellen."

Sie ist immer noch da!

"Was?"

"Was wollen Sie tun, wenn Sie aus dem Krankenhaus entlassen sind?"

"Ich werde mir ein neues Auto kaufen und noch einmal gegen die Felsen rasen, aber ich werde nicht hier auf Ihrer Station landen, sondern ein paar Stockwerke tiefer. Sie werden sich mit mir nicht mehr plagen müssen, Frau Dr. Gessner." Ich lege alle Verachtung, die ich aufbringen kann, in meine nächsten Worte. "Und das ist ein Versprechen!"

Ich warte gespannt auf Ihre Reaktion, hoffe, dass sie angemessen geschockt ist.

Doch sie sieht mich nur wortlos an und steht dann langsam auf.

"Na, dann viel Glück!"

Und geht auf die Tür zu.

Wie kann sie!

Klack. Die Tür fällt ins Schloss.

Das Teeglas zersplittert mit einem lauten Schlag und hinterlässt einen hässlich rotbraunen Fleck an der weißen Wand.

Die Tür bleibt geschlossen.

Meine Tränen schmecken salzig. Die Schluchzer, die aus meiner Kehle kommen, verursachen körperliche Schmerzen. Ich kann nicht aufhören zu weinen.

Allein! Ich bin schon wieder ganz allein! Ich bin jedem egal, auch dieser scheinheiligen Ärztin. Geh zum Teufel, Verena Gessner!

***

"Wie geht es Ihnen heute, Frau Sanders?"

"Warum fragen Sie mich das?"

"Es interessiert mich."

"Warum sollte Sie das interessieren?"

"Ich bin Ihre Ärztin."

"Ihnen ist doch egal, wie es mir geht."

"Haben Sie Grund zu glauben, dass ich nicht an Ihrem Befinden interessiert bin?"

Ich drehe mich weg, so gut ich kann. Ohne zu stöhnen.

Ihre Stimme dringt unerbittlich an meine Ohren. "Sind Sie böse, weil ich mich gestern Abend nicht mehr umgedreht habe? Obwohl Sie das Glas an die Wand geworfen haben, und obwohl Sie danach fast eine Stunde geweint haben, ehe Sie eingeschlafen sind?"

Obwohl ich es nicht will, wende ich ihr mein Gesicht zumindest teilweise zu.

"Woher wissen Sie das?“

"Ich habe mehrmals nach Ihnen gesehen."

Ich habe es nicht mitbekommen! "Warum?"

"Warum brauchen Sie so lange, bis Sie zugeben können, dass Sie Hilfe benötigen? Wovor haben Sie solche Angst?"

"Ich brauche keine Hilfe, und ich habe keine Angst."

"Frau Sanders, wenn das stimmen würde, hätten Sie gestern Abend nicht so lange geweint."

Etwas in mir geht zu Bruch. Ich kann nur stammeln: "War das ein Test? Wollten Sie ein bisschen mit meinen Gefühlen spielen? Benutzen Sie mich für irgendein perverses Experiment, und bin ich ein Stück Fleisch, mit dem man tun kann, was man will, nur weil..." Ich will nicht weinen. Nicht jetzt. Überhaupt nie mehr.

"Frau Sanders, sehen Sie mich bitte einmal an."

Wozu?

"Frau Sanders, bitte."

Was will sie? Warum tue ich immer, was sie von mir verlangt?

"Bitte hören Sie mir zu. Ich halte Sie für einen sehr wertvollen Menschen. Jeder Mensch ist wertvoll. Mir liegt nichts ferner, als mit Ihren Gefühlen zu spielen, und die Szene gestern Abend hat mir vermutlich so wehgetan wie Ihnen. Wenn Sie mir vorwerfen, dass das ein Test war, frage ich Sie, was dann Ihre Antwort auf meine Frage war? Wollten Sie mich erschrecken oder nur schockieren? Was haben Sie erwartet? Dass ich mich um Kopf und Kragen rede, um Sie davon zu überzeugen, es nicht zu tun, obwohl ich genau wusste, dass es überhaupt keinen Sinn hatte.

Sie sagten mir eben gerade, dass Sie keine Hilfe brauchen, obwohl es mehr als offensichtlich ist. Was hätten Sie mir gestern erzählt? Dass ich mich um meinen eigenen Kram scheren und dorthin gehen soll, wo der Pfeffer wächst? Sie dürfen mich jederzeit austesten, Frau Sanders. Aber Sie dürfen nicht erwarten, dass ich in offensichtlich gestellte Fallen tappe, oder dass ich nicht entsprechend reagiere."

Ich weine, ich bin nackt, ich bin müde. "Das war keine Falle. Ich habe das, was ich Ihnen gesagt habe, sehr ernst gemeint."

Ihr ernster Blick: "Ich habe also einen Fehler gemacht. Das tut mir leid. Welche Antwort haben Sie dann von mir erwartet?" Wieder diese sanfte Stimme.

"Jedenfalls keinen blöden Kommentar."

"Nun verstecken Sie sich nicht schon wieder hinter Bissigkeiten. Was wollten Sie von mir hören? Was möchten Sie jetzt von mir hören?"

"Lassen Sie mich in Ruhe!"

"Nein, diesmal nicht. Sie haben mir gerade zu verstehen gegeben, dass ich gestern Abend falsch reagiert habe, als ich gegangen bin. Was haben Sie von mir erwartet? Was hätten Sie gebraucht?"

Ich habe diesen Streit längst verloren. Sie hat zu viele Punkte gemacht, und mit jedem Wort, das sie sagt, trifft sie einmal mehr ins Schwarze. Ich schließe die Augen. "Ich brauche nichts. Von niemandem!"

"Was ist mit ein bisschen Verständnis, Mitleid, Zuneigung, Zuhören?"

"Warum wollen Sie das tun?" Warum kann ich nicht einfach meinen Mund halten! Wieso durchschaut sie mich so schnell? Sie macht mir Angst. Sie weiß zu viel über mich.

"Brauche ich einen anderen Grund als den, dass ich sehe, wie schlecht es Ihnen geht?"

"Tun Sie das für jeden?"

"Ist das wieder so eine Testfrage? Und wenn, macht das einen Unterschied?"

Mir fällt keine Antwort ein. Ich will keine Antwort geben. Ich will dieses Gespräch nicht!

"Wenn ich spüre, dass jemand Hilfe braucht, versuche ich zumindest, sie anzubieten. Normalerweise ziehe ich mich schneller zurück, wenn jemand so massiv abblockt, wie Sie es tun. Aber in Ihrem Fall geht es um Leben und Tod. Ich habe sehr wohl verstanden, dass das keine panikartige Kurzschlusshandlung war, sondern ein sorgfältig geplanter und überlegter Selbsttötungsversuch, Wiederholung nicht ausgeschlossen, eher wahrscheinlich."

Ich schweige. Weil ich nicht mehr weiß, was ich ihr entgegnen soll und aus Angst, dass sie noch weiter in mich dringt.

"Glauben Sie nicht, dass es Ihnen gut tun würde, wenn Sie sich bei jemandem aussprächen? Wenn Sie nicht mit mir reden möchten, schicke ich unseren Klinikpsychologen zu Ihnen."

"Nein!"

Sie soll mir bloß mit Ihrem Seelenklempner vom Hals bleiben!

"Gibt es jemanden, mit dem Sie sprechen möchten? Kann ich jemanden für Sie anrufen?"

Sie muss doch wissen, dass ich lediglich von meiner Agentin Besuch hatte, seit ich hier war.

"Ich will mit niemandem reden. Lassen Sie mich in Ruhe!"

Das ist endgültig. Das merkt sogar Verena Gessner.

"Also gut, dann möchte ich, dass Sie eines wissen: wenn Sie es sich anders überlegen, und jemanden zum Reden brauchen, können Sie mich jederzeit holen lassen. Egal zu welcher Tagesoder Nachtzeit, okay?"

Ganz bestimmt nicht, Frau Dr. Gessner!

Sie seufzt. Endlich geht sie.

***

Kaum eine Stunde später ist sie wieder da. Wir üben aufsetzen, wie sie mir gestern prophezeit hat. Sie ist ungewöhnlich schweigsam. Erst am Schluss sagt sie:

"Morgen komme ich zusammen mit Herrn Kayanka. Er ist unser Krankengymnast."

***

"Was ist mit dir, Verena? So schweigsam habe ich dich schon lange nicht mehr gesehen."

Verena zwang sich, die Augen von ihrem Weinglas zu heben und ihrer Freundin in die Augen zu sehen. "Hm?"

"Bist du unglücklich verliebt?"

"Unsinn."

"Ach komm, Frau Doktor, auch für dich wird es mal wieder Zeit. Du kannst dich doch nicht nur in deiner Arbeit verkriechen."

Lisbeth sah sie verschmitzt an. "Und du weißt, dass ich in der Hinsicht jederzeit für dich da bin."

Verena wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Wein zu. Lisbeth war ihre Freundin aus Kindertagen, hatte ihr vor langer Zeit gestanden, dass Frauen ihre große Leidenschaft waren, und vor nicht allzu langer Zeit, dass sie sich mit Verena mehr als nur eine Freundschaft vorstellen könne. Verena hatte ihr daraufhin sehr behutsam klar gemacht, dass sie dieses Gefühl nicht erwidern könne. Dass sie Lisbeth sehr mochte, aber sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, mit einer Frau etwas anzufangen. Freundinnen waren sie dennoch geblieben, sehr gute sogar. Aber musste Lisbeth dieses Thema ausgerechnet jetzt anschneiden?

Als Lisbeths Hand sich über ihrer schloss, zuckte sie zurück, als hätte sie sich verbrannt. Einen entsetzlich langen Augenblick starrten sich beide erschrocken an.

Verena fing sich als erste. "Bitte, entschuldige ... ich ... es tut mir leid." Sie biss sich auf die Zunge.

Lisbeth schüttelte den Kopf. "Nein, Verena. Mir tut es Leid, sorry."

Verena schloss die Augen. Konnte ein Tag noch schlimmer werden? Erst die Szene mit Kathrin Sanders am Morgen, dann Haverkamps Anschiss, dass sie nicht Psychologin spielen solle, dazu wären Experten im Haus, und nun Lisbeth. Sie widerstand dem Drang, ein paar Münzen für den Wein auf den Tisch zu legen und einfach zu gehen.

"Hey, was ist los? Kann ich dir helfen? Ärger im Job?"

"Mhm, auch", antwortete sie undeutlich. Lügen kann ich auch nicht, dachte sie verächtlich.

"Und sonst?" Lisbeth würde nicht locker lassen, so wie sich das für eine beste Freundin gehörte.

"Und wenn ich nicht drüber reden mag?"

"Dann schweig mich nicht so beredt an, Verena."

Verena zuckte schuldbewusst zusammen. Schließlich war sie diejenige gewesen, die vorgeschlagen hatte, auf ein Glas Wein in ihre Lieblingsbar zu gehen. Sie drehte das Weinglas zwischen ihren Fingern. Vielleicht würde Lisbeth sie für verrückt erklären, aber sie würde auf jeden Fall zuhören.

***

"Kayanka, guten Tag. Sie können mich Sascha nennen", sagt der junge Mann neben Verena Gessner.

"Na, dann wollen wir mal."

Was heißt, wir?

Wir üben Beine kreisen, Füße kreisen, Arme heben, Arme kreisen, Beine heben, Beine...

"Sehr gut", grinst der junge Sonnyboy. "In zwei Monaten können Sie bei den Stadtmeisterschaften mitlaufen."

Knalltüte!

"Was ist, haben Sie da keine Ambitionen?"

Woher weiß er?

Und wer weiß überhaupt noch Bescheid? Die ganze Klinik?

"Hey, das ging doch bis jetzt ganz prima, was ist denn auf einmal los? Haben Sie Schmerzen? Sind Sie müde oder haben Sie keine Lust mehr?"

Halt die Klappe, du Arschloch!

"Frau Sanders, sind Sie noch bei uns, oder schweben Sie auf einem anderen Planeten?"