Ich danke Peter Kiehlmann für

die freundliche Überlassung einiger Fotos.

Seine sehenswerte Webseite:

www.ddghansa-shipsphotos.de

Weitere Seefunk-Sdeiten:

www.seefunker.de

www.seefunknetz.de

www.ddg-hansa.de

www.peterhobby.de

Inhalt:

Ein Vor-Wort

Die erste Reise

Wie kommt ein Binnenländer zur See?

Nordmeer und Ostsee

Onkel Johann

SOS in der Nordsee

Mittsommer am Polarkreis

Poseidon und Eros

Jaffa-Orangen

Deutsche Dampfschifffahrtsgesellschaft – Hansa

Trauerfall auf See

Indienreise

Auf der „Reeperbahn nachts …”

Meine Entdeckung Amerikas

Kreuzfahrt durchs Mittelmeer

Di di di da di da

Auf „MS CONTAINERSHIP III“

Ein Technischer Anhang

Der Maschinentelegraf.
Der Maschinentelegraf.

Ein Vor-Wort

Wozu ein Vorwort, wo ich selbst der Meinung bin, es hält mich nur vom Lesebeginn einer Geschichte ab, auf die ich gespannt bin. Deshalb will ich es hier kurz machen.

Ich habe bei meinem Buch das Gefühl, ich müsste erklären, warum ich mit den Erinnerungen an meine Seefahrtzeit in den 1960er Jahren erst jetzt herauskomme und meinen Lesern damit so olle Kamellen zumute.

Das hat verschiedene Gründe. Einer ist ganz praktischer Natur: Erst seit die Computerprogramme zum Schreiben, Fotobearbeiten und Redigieren allgemein verfügbar sind, kann man sich als Laie an ein solches Buchprojekt heranwagen. Und erst seitdem ich nicht mehr im Berufsleben bin, habe ich Zeit und Muße dazu gefunden.

Vielleicht ist der zeitliche Abstand aber auch ein Vorteil. Die Ära der Handelsschifffahrt ohne Container und die der Morsefunkerei ist endgültig vorbei und kann nun als so etwas wie die „gute alte Zeit der Seefahrt“ aus sicherer Entfernung betrachtet werden.

Aus dieser großen Zeit der Deutschen Nachkriegs-Handelsschifffahrt will ich einen kleinen Ausschnitt erzählen und zeigen – mit Wort und Bild.

Also:
VOLLE FAHRT VORAUS
zu meiner ersten Geschichte!

“MS Herta Engeline Fritzen”, in der Mitte auf Warteposition. Sie wartet auf einen Entladeplatz und auf mich, ihren neuen Funkoffizier.
“MS Herta Engeline Fritzen”, in der Mitte auf Warteposition. Sie wartet auf einen Entladeplatz und auf mich, ihren neuen Funkoffizier.
Mein neuer Arbeitsplatz, die Funkstation. Nicht die modernste Technik, aber funktionstüchtig und gemütlich wie das ganze Schiff.
Mein neuer Arbeitsplatz, die Funkstation. Nicht die modernste Technik, aber funktionstüchtig und gemütlich wie das ganze Schiff.

Die erste Reise

Willkommen an Bord

Da lag sie vor mir – meine langersehnte große Liebe. Im etwas abgetragenen, grauen Kleid, ein bisschen gedrungen, nicht besonders attraktiv, wie ich fand. Und dann ihr Name: „Herta Engeline Fritzen“! Die Erklärung? Die „Herta“ war mein erstes Schiff, auf dem ich als Funkoffizier anheuerte. Und Schiffe sind nun mal immer weiblich. Aber wie es oft mit einem ersten Eindruck ist, er täuschte auch hier: Meine maritime Freundin wurde mir schon bald überaus sympathisch.

Im Augenblick schien es, als kokettierte mein Mädchen ein wenig mit mir. Ich konnte es sehen, doch noch nicht zu ihm kommen. Mein Vater und ich waren im Hafen von Bremen mit unserem alten Mercedes auf der falschen Pier gelandet. Die Herta lag ein Hafenbecken weiter an den Pfählen in Warteposition, den Bauch voll Eisenerz aus Rio de Janeiro.

Nach einigem Herumfahren erreichten wir unser Ziel und ein Boot brachte uns zur Gangway. Der Matrose, der oben an der Treppe gestanden hatte, kam herunter, schnappte sich meinen Koffer und eilte leichten Fußes wieder hinauf. Über die Schulter rief er, ohne ein Fragezeichen in der Stimme:

„Sie sind der neue Funker, Sie werden von Ihrem Kollegen schon sehnsüchtig erwartet!“

Wir hatten Mühe, dem jungen Mann über all die Außentreppen zum obersten Deck zu folgen. Von außen betraten wir direkt die Funkstation, meinen neuen Arbeitsplatz. Hier begrüßte uns der bisherige Funker, der offensichtlich schon für die Heimreise angezogen war. Wir begannen ohne Verzögerung mit der Übergabe der Station. Mein Vater hatte sich inzwischen diskret verzogen.

Auf der Seefahrtschule hatten wir oft über diesen so bedeutsamen Beginn einer Seefunkerlaufbahn gesprochen. Die Lehrer und die Kollegen, die schon zur See gefahren waren, hatten die abenteuerlichsten Geschichten auf Lager. Da waren die Schränke voll leerer Schnapsflaschen und die Kartons für die Senderöhren ohne Inhalt – eingetauscht für Alkohol. Hier dagegen war alles an seinem Platz; die Station sauber und gepflegt, die Ringordner mit den Nachrichten für Seefahrer auf dem neuesten Stand und das Funktagebuch nach Vorschrift geführt. In diesem Dokument unterschrieb ich nach kurzer Zeit die entsprechende Passage und war damit Chef der Seefunkstation – wie mein neuer Arbeitsbereich offiziell hieß.

Ich setzte mich in den Stuhl mit den hölzernen Armlehnen vor die Funkempfänger und Sender. Meine Junker Morsetaste hatte ich schon ausgepackt und steckte den Stecker in die entsprechende Dose an der Wand. Probehalber gab ich ein paar V (· · · –). Dann schnaufte ich einmal tief durch und sagte mir: ‚ Jetzt bist du Seefunker, Funkoffizier auf einem deutschen Handelsschiff!‘ Das war ein erhebender Augenblick in meinem Leben, nach all dem Bangen und Fürchten der letzten Monate vor der entscheidenden Prüfung und der Anstellung bei einer Reederei!

Wie ich gerade gehört hatte, würde das Schiff noch drei Tage in Bremen liegen bleiben, und ich hätte Zeit genug mich in mein neues Reich einzuarbeiten.

Nachdem mir mein neuer Lebensabschnitt zum ersten Mal richtig bewusst geworden war, machte ich mich auf zu einem Erkundungsgang durch das Schiff und wollte mich bei dieser Gelegenheit auch dem Kapitän vorstellen.

Die Kapitänskammer befand sich eine Etage unter dem Brückendeck, an Steuerbord. Nach Schiffstradition stand die Tür weit offen. Mein Vater saß in einem Vorraum bei Frau Kapitän, trank guten Whisky und unterhielt sich blendend. Als ich weiter zum Kapitän vordringen wollte, sah ich diesen im Gespräch mit dem Reederei-Inspektor und zögerte etwas, um ihr Gespräch nicht zu stören. Dabei bekam ich noch einen Satz mit, der meine gute Stimmung vorerst abrupt dämpfte. Der Kapitän sagte, mit leicht sorgenvoller Stimme:

„Also, so ganz wohl ist mir nicht mit einem neuen Funker frisch von der Schule, auf der Fahrt im Mai mitten durch das Eisberggebiet.“

Da habe ich erstmal ganz still kehrt gemacht, um später einen neuen Anlauf zu nehmen.

Wieder oben in der Station fand ich nicht viel Zeit zum Grübeln. Ein Mensch von der Post erschien und verlangte die Funkgenehmigungsurkunde zu sehen. ‚Ja wo mag die denn wohl sein?‘ dachte ich.

„Da ist sie ja“, rief der Postmann auch schon und deutete auf ein gerahmtes Dokument mit Unterschrift und Stempel, das etwas verdeckt an der Wand hing. Er war damit zufrieden, schüttelte mir die Hand, wünschte Gute Reise und weg war er.

Kurze Zeit später stand ein Matrose im Türrahmen und sagte:

„Funker, Ihr Bier ist da.“„Bringen Sie’s rauf“, sagte ich etwas geistesabwesend. Er lachte:

„Schauen Sie mal raus“, und deute nach unten auf die Pier. Da parkte ein Kleinlaster mit Kleinanhänger auf denen in großen Buchstaben stand: „BECK’S BIER“. Jetzt fiel mir ein, dass ich als Funker auch für die sogenannten Kantinenwaren wie Bier, Schnaps und Zigaretten, zuständig war. Natürlich wusste der Matrose schon, dass ich ein Neuling war und beruhigte mich:

„Der Bootsmann kümmert sich schon drum und verstaut das Bier in der Vermessungsluke.“

Was war denn das schon wieder? Vermessungsluke? Mir wurde bewusst, dass ich noch einige Zeit brauchen würde, um all die vielen Schiffsbegriffe verstehen zu lernen. Im Geiste notierte ich mir: ‚Muss mich gelegentlich erkundigen, was eine Vermessungsluke ist.‘ Ich ging hinunter und stellte mich dem Bootsmann vor, einer der wichtigsten Figuren an Bord – gleich nach dem Koch! Man klärte mich auch auf: Die Vermessungsluke ist ein nur wenige Meter langer Raum, der aber durch die ganze Breite und Höhe des Schiffs geht. Sie hilft den Behörden, die genaue Bruttoregistertonnage auszumessen. Ich dachte bei mir, wenn diese Luke voll Bier und Coca Cola ist, macht das Vermessen auch nicht viel Sinn.

Als das Bier verstaut war blieben noch ein großer und ein kleiner Karton übrig. Im großen befanden sich zehntausend Zigaretten und in dem kleineren Whisky, Weinbrand und – Floridawasser. Letzteres war nicht zum Trinken bestimmt – normalerweise – sondern für die Haare. Da es Alkohol beinhaltete, kam es mit dem übrigen Hochprozentigen in den Zoll-Verschlag. Und noch ein Karton wurde mir übergeben.

„Das sind die Präsente“, sagte der Bootsmann. Dabei handelte es sich um besonders kostbare Spirituosen als Zugabe für den Kapitän und den Kantinenverwalter.

Damit war mein ereignisreicher erster Bordtag noch lange nicht zu Ende. Ich hatte meinen Vater – mit einer Flasche 12-jährigem Whisky – verabschiedet und auch den Kapitän begrüßt, der sich nichts hatte anmerken lassen, seine Bedenken die Eisberge betreffend.

Bremen war zwar nicht der Heimathafen unseres Schiffs – das war Emden – aber viele Seeleute wohnten hier an der Küste und waren für ein paar Tage nach Hause gefahren. An Bord geblieben war der Zweite Offizier, Harry Backer, von der Insel Juist. Deshalb nannte er sich „Insulaner“. Ich sollte ihn bald kennenlernen. Er kam in seiner flotten, jugendlichen Art in die Station geschossen, streckte die Hand aus und rief:

„Sie sind also der neue „Operateur“, französisch ausgesprochen, abgeleitet von Radio Operator, was sein Lieblingsausdruck für den Funker war. Weitere Bezeichnungen an Bord für meinen Berufsstand waren: Sparks oder Funkenpuster. Im Ausland hießen wir Telegraphista, Marconista oder kurz Marconi. Heinrich Hertz hatte da keine Chance.

Herr Backer – wir wurden sehr gute Bordkollegen, aber immer per Sie – hatte auch gleich einen „ganz kleinen Auftrag“ für mich. Er erklärte ihn mir:

„Sie gehen rüber zur Berufsgenossenschaft und holen einen Karton Präservative ab – „Verhüterli“, fügte er mit gespielter Verlegenheit hinzu. Der Verlegene war aber eher ich, ließ mir aber nichts anmerken. An Land hatten wir ja schon feuchte Hände bekommen, wenn wir beim Drogisten ein Kondom kaufen wollten, geschweige denn einen ganzen Karton.

Ich zog munter los, betrat genanntes Büro der Seeberufsgenossenschaft und sagte forsch:

„Guten Tag, ich möchte die ‚hygienischen Artikel‘ für MS Herta Engeline Fritzen abholen.“ Die junge Dame griff ins Regal und überreichte mir eine 400er Packung Kondome, ließ sich den Empfang quittieren und schon war ich wieder draußen, nicht ohne ein gewisses Gefühl des Stolzes.

In meinem neuen Wirkungskreis an Bord hatte ich es aber nicht nur mit dieser verhütenden „Software” zu tun. Nach meiner Rückkehr traf ich zwei Techniker von der DEBEG an, der Firma, die die „Hartware” wie Sender und Empfänger betreute. Sie brachten ein kleineres Teil für den Spannungsumformer der Station.

Bei all diesen Aktivitäten hatte ich gar nicht viel darüber nachgedacht, wie sehr sich mein Alltag plötzlich verändert hatte. Vor gut drei Wochen hatte ich mit der Funkerprüfung mein karges Studentenleben beendet und nun versah ich mit immerhin einem goldenen Ärmelstreifen den Dienst als geachteter Schiffsoffizier auf einem seegehenden Frachter.

Rückschauendes Fazit: Gib den Menschen eine gescheite Aufgabe und sie wachsen daran! Während ich hier im Hafen bei der Erledigung meiner neuen Aufgaben noch jemanden fragen konnte, war ich später auf See in meinem eigentlichen Funkerjob auf mich ganz allein gestellt. Eine Einarbeitungszeit mit einem erfahrenen Kollegen gab es bei der Fritzen Reederei nicht.

Darüber dachte ich aber noch nicht nach, als die Schlepper und der Lotse kamen, um uns aus dem Hafen zu bringen. Natürlich waren inzwischen die etwa 10 000 Tonnen Erz aus Brasilien an der Pier gelöscht worden. Das Schiff war, außer mit Bier und Lebensmitteln, auch mit Diesel und Trinkwasser versorgt worden. Die Behörden – Polizei und Zoll – hatten einen kurzen Besuch abgestattet. Wir waren ausklariert, konnten Bremen verlassen und die große Reise beginnen.

Für mich als Funker kam nun der lang erwartete Moment, wo ich zum ersten Mal echte Funksignale in die Welt hinaus senden würde. Allerdings sollten wir von Bremen erstmal nur nach Bremerhaven fahren, um dort noch Ladung aufzunehmen. Deshalb hatte ich auch noch keinen Wetterbericht auf die Brücke gegeben. Aber ich wollte der Küstenfunkstelle Norddeichradio das Verlassen unseres Hafens mitteilen – ein so genantes TR, wie „travel report” – senden. Das hätte auch bis zum Verlassen von Bremerhaven Zeit gehabt. Doch ich wollte die Vorschriften genau einhalten.

Dieser kurze Funkspruch wäre normalerweise keine große Angelegenheit gewesen. Aber zum Senden brauchte ich die Langdrahtantenne und die lag an Deck, weil sie den Hafenkränen im Weg gewesen war. Nun musste sie hochgezogen und zwischen die beiden Masten gespannt werden. Der Bootsmann fluchte, weil dieser 50 Meter lange Draht in Bremerhaven wieder herrunter genommen werden musste.

Dann war es soweit: Die Antenne war oben. Nun also Sender und Empfänger einschalten, den Sender auf die Antenne abstimmen: Tut sich da was?, ja die Glimmlampe am Kupferrohr, das vom Sender zur Wanddurchführung führt, leuchtet hell auf beim Druck auf die Taste. Alles klar!

Für die funkbegeisterten Leser will ich hier den genauen Verlauf dieses Funkspruchs wiedergeben.

Als Sendefrequenz hatte ich nicht die internationale Not- und Anrufrequenz 500 kHz eingestellt, sondern wie bei Norddeich Radio üblich, dessen Arbeitsfrequenz. Das Rufzeichen von Norddeich war DAN. Drei Buchstaben, wie bei Landstationen vorgesehen. Mein Schiffsrufzeichen war DCWE, also vier Buchstaben für „bewegliche See-Funkstellen“, wie es im Gesetz hieß.

Nun gab es kein Zurück mehr. Noch einmal tief Luft holen und meine ersten Funksignale gingen hinaus in die Welt:

DAN DAN DAN DE (von) DCWE DCWE DCWE K (kommen)

Norddeich kam sofort, mit riesigem Signal:

DCWE DE DAN K

Ich hatte mir den kurzen Funkspruch aufgeschrieben:

QTO BREMEN 0300 GMT BND BREMERHAVEN K

(Auslaufen Bremen 03.00Uhr – Bestimmungshafen Bremerhaven – kommen)

Die Antwort: R

Nur ein einzelnes kurzes R (· – ·) wie Roger, Meldung empfangen. Und dann noch AR (· – · – ·) Ende der Meldung und als letztes Wort gewissermaßen SK (· · · – · –), ich schaltete meinen Sender ab.

Ich war glücklich und erleichtert, wischte mir meine feuchten Hände ab. Erst etwas später fiel mir auf, es hätte nicht 0300 sondern 1500 GMT heißen müssen. Wir waren nachmittags ausgelaufen und nicht morgens um 3Uhr.

Weiter Horizont

10. Mai 1960. Mein Start in ein neues Leben. Gestartet war eigentlich mein Schiff, die Herta Engeline Fritzen. Sie war aus Bremerhaven ausgelaufen in die hier schon mächtig breite Weser, die bald in die Deutsche Bucht überging. Meine erste Seereise hatte begonnen.

Ich war nun schon fünf Tage auf dem Schiff, hatte den Bordbetrieb einigermaßen kennengelernt, und auch die Menschen, die ihn in Gang hielten. Sie waren nach und nach von ihrem kurzen Heimaturlaub an Bord zurückgekommen. Bei etwa 40 Mann Besatzung war es gar nicht so einfach, sie alle richtig einzuordnen. Das wurde überschaubarer, als sich die Offiziere ihre Uniformen angezogen hatten. Mit den Rangabzeichen waren sie erheblich besser ihren Funktionen zuzuordnen.

Während die Ingenieure hauptsächlich in Khaki-Jacken herumliefen, mit einem Zahnrädchen auf dem Ärmel und entsprechender Anzahl von Streifen auf den Schultern, hatten die Nautiker, jetzt Anfang Mai, noch Blau angezogen mit goldenen Ärmelstreifen.

Ich hatte mir in Bremen Maß nehmen lassen für eine blaue Uniform und mir fürs Erste eine Khakijacke und Uniformmütze gekauft. Als Rangabzeichen hatte ich einen Blitz gewählt. Später sagte man mir, der sei eigentlich für den Elektriker gedacht, die Funker trügen auch ein Rädchen. Den funkensprühenden Blitz fand ich aber viel passender.

Außer bei den ganz illustren Reedereien wie dem Norddeutschen Lloyd, waren Uniformen bei uns kein großes Thema. Die blauen waren schwer und steif, mit einem Wort unbequem und man trug sie auch nur in den Häfen, damit die Behörden wussten mit wem an Bord sie es zu tun hatten. Außerdem sah man in einer gepflegten Uniform mit Mütze auch etwas Respekt gebietender aus.

Wenn man aus der Weser oder der Elbe in die Deutsche Bucht hinausfährt, stellt sich die Umgebung unterschiedlich dar. Je nachdem ob Niedrig- oder Hochwasser herrscht, ist man von weiten Landflächen oder von endlosem Wasser umgeben. Wir waren also noch tief in deutschen Hoheitsgewässern, doch ich dachte schon an unsere weitere Reiseroute, die ich hier kurz vorstellen will:

Von der Deutschen Bucht aus würden wir zum Ärmelkanal fahren, den Nordatlantik überqueren, vorbei an Grönland und Neufundland. Dann die gewaltige Mündung des St. Lawrence Rivers in Kanada ansteuern und diesem gewaltigen Fluss zu den Großen Seen folgen. Als Häfen waren Montreal, Toronto, Muskegon und Chicago vorgesehen.

Bevor wir aber die Neue Welt erblickten, sollten noch etwa vierzehn Tage vergehen. In der Deutschen Bucht war die See ruhig und ich konnte meinen ersten Seetag gelassen angehen. Dachte ich.

Querab vom Feuerschiff Elbe 1 kam doch tatsächlich ein Boot längsseits und brachte einen Posttechniker, der gleich darauf mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ meine Station betrat. Eine „Funkbeschickung“ der Peilanlage stand auf seinem Programm. ‚Aha‘, dachte ich, ‚Funkbeschickung, davon habe ich schon mal gehört‘, sagte mir im Moment aber nicht viel.

Der Sinn dieser Maßnahme war das Justieren unseres Funkpeilers. Ich hielt mich mit meinen Aktivitäten etwas zurück. Der Postmann übernahm den Platz am Empfänger und ein Matrose stand auf dem Peildeck am optischen Peiler. Unser Schiff fuhr in Sichtweite vom Feuerschiff einen 360-Grad-Kreis. Dabei wurden alle 10 Grad die optische und die drahtlose Peilung miteinander verglichen. Die Abweichungen des Funkpeilers trug man in eine Tabelle ein, die später beim Peilen berücksichtigt wurden.

Nach dieser Aktion und den vorhergegangen hektischen Hafentagen kehrte jetzt Ruhe im Schiff ein. Wie ich später immer wieder feststellte, war das ein toller Moment. So gern der Seemann an Land ist, so sehr genießt er die Rückkehr zu dem gemächlichen, geregelten Leben auf See. Hier hat jedermann seine genau umrissenen Aufgaben, er bekommt Essen zu festen Zeiten, kann und muss nicht irgendwo hinreisen und wird auch nicht von oft zweifelhaften Landgängen angefochten. Und er hat massenhaft Zeit. Hört sich ein wenig nach “klösterlichem Leben” an!

Ich hatte schon den ganzen Tag lang dem Augenblick entgegen gefiebert, von dem an man endlich kein Land mehr sehen würde – und ringsherum nur noch das weite Meer zu sehen wäre. Vor dieser Reise war ich noch nie auf See gewesen. Nicht einmal zu einer Fahrt nach Helgoland hatte es gereicht.

Und dann war es soweit: überall nur Wasser! Es schien, als ob unser Schiff auf einer riesigen, waschwasserfarbenen runden Fläche schwimmen würde, die ringsum vom Horizont begrenzt wurde. Gigantisch!

Allerdings konnte ich nicht den ganzen Tag wie ein Passagier an der Reling stehen und das Meer betrachten. Dabei wäre „Meer“ schon ganz falsch gewesen. Bei der Seefahrt heißt das Meer die See. Damit ich mich als Neuling nicht gar so sehr blamierte, hatte ich mir schon eine Menge maritime Ausdrücke gemerkt. Zu dieser Grundausstattung gehörten natürlich auch Bezeichnungen wie: Vorne und Achtern, Steuerbord und Backbord und Begriffe, die das Laufende und Stehende Gut betrafen. Dazu gehörten Stagen, Leinen, Trossen, Festmacher, Springs und Bändsel. Was es auf gar keinen Fall an Bord gab, waren Seile – und noch viel schlimmer – Stricke. An denen konnte man sich nach ihrer falschen Benennung höchstens aufhängen! Eine Menge von diesem Seemannslatein hatten wir schon auf der Seefahrtsschule mitgekriegt – und dann auch gleich das englische Pendant dazu gelernt.

Ich trennte mich also von der guten Aussicht, um meine Hörwache wahrzunehmen. Das geschah auf Großer Fahrt im Zweistunden-Rhythmus, im Ganzen 8 Stunden Wache am Tag.

In der Funkstation schaltete ich den Empfänger auf 500 Kilohertz, die internationale Not- und Anruffrequenz. Hier tummelten sich Schiffe, die andere Stationen anriefen, hier wurden „Nachrichten für Seefahrer” angekündigt und hier würde der Notverkehr mit SOS stattfinden. In jeder Stunde zweimal – von 15-18 und von 45 bis 48 Minuten – erstarb dieses Morse-Gezwitscher, dann war Pause, SP genannt, für „silence period”, Funkstille. Das hatte den Sinn, dass man dann auch das schwächste SOS-Signal noch würde hören können.

Auf der Schule hatte man uns immer wieder eingebläut, diese Pausen genauestens einzuhalten; also erst auf die Uhr zu schauen bevor man auf die Taste drückte. Bei Nichtbeachtung drohte ein Blauer Brief von der Funkkontrollstelle in St. Peter-Ording.

Wir hatten den Funkverkehr immer wieder geübt, mit richtigen Funkstationen, die zwischen den Klassenzimmern in kleinen Kammern, angeordnet waren. Auch der echte Verkehr wurde abgehört und aufgenommen, um uns an die sehr unterschiedlichen „Handschriften” der Kollegen auf See zu gewöhnen. Unsere Sender sendeten auch ganz normal; ihre Energie wurde allerdings an einer „Dummy-Antenne” verbraten, so dass kein Mikrovöltchen nach draußen gelangte. So kam es, dass wir erst bei unserer „Jungfernfahrt“ echte Hochfrequenzsignale in den Äther pusteten.

Meine nächste Herausforderung an diesem ersten Tag auf See, war die Vermittlung eines Telefongesprächs. Mein Kapitän – ein netter Mann aus dem Binnenland – kam in die Station und überreichte mir einen Zettel:

„Ich möchte nach Zuhause telefonieren, hier ist die Nummer.“ Ich sagte:

„Ich melde das Gespräch sofort an und sage Ihnen dann Bescheid.“

Da wir fast querab von Norddeich Radio waren, sollte die Funkverbindung kein Problem sein. War sie auch nicht. Ich schaltete den Grenzwellensender ein, stimmte den Antennenkreis ab und rief Norddeich Radio – diesmal per Sprechfunk.

NORDDEICH RADIO (3 x) HIER IST HERTA
    ENGELINE FRITZEN – DELTA CHARLY WHISKY
    ECHO (DCWE, mein Rufzeichen) ICH HABE EIN SEEFUNKGESPRÄCH – BITTE KOMMEN
    Die Antwort ließ nicht auf sich warten, sie kam laut und deutlich:

HERTA ENGELINE FRITZEN VON NORDDEICH RADIO – DIE RUFNUMMER BITTE – KOMMEN

Ich gab nun die Vorwahl und die Telefonnummer durch und wartete. Die Vermittlung dauerte nicht lange und das Gespräch war da. Ich rief den Kapitän von der Brücke nebenan und drückte ihm den Hörer in die Hand. Später ging ich während eines solchen Gesprächs hinaus und wartete bis mein Kunde die Tür aufmachte und mir sagte, dass das Gespräch beendet sei. Die Anrufer fühlten sich damit ein bisschen weniger „abgehört“. Bei diesem ersten Mal blieb ich sitzen und überwachte die Verbindung. Nach Beendigung des Gesprächs rief ich Norddeich und bat um die festgestellte Gesprächsdauer für unsere Abrechnung. Der Funker am anderen Ende sagte:

HERTA ENGELINE – DAS WAREN 5 MINUTEN – NOCH EINE FRAGE HERR KOLLEGE – SIND SIE NEU?

Ich antwortete:

JA – DAS IST MEIN ERSTER TAG HEUTE – WAR WAS NICHT OK?

Die Antwort:

NEIN – ALLES BESTENS – SIE HABEN NUR SO UNGE -WOHNT KORREKT GESAGT – EIN SEE FUNKGESPRÄCH – ALSO – ICH WÜNSCHE IHNEN ALLZEIT EINE GUTE FAHRT – NORDDEICH RADIO OVER AND OUT+

Obwohl sich Küsten- wie Seefunkstation normalerweise genau an den Buchstaben des Gesetzes hielten, nur rein dienstliche Dinge zu übermitteln, gestatteten sich beide, wie hier, manchmal eine Verkürzung des Procederes oder eine kleine private Bemerkung. Besonders dann, wenn die Verbindung so einwandfrei lesbar war wie hier.

Mehr Sendeenergie habe ich an diesem Tag nicht verbraten. Meine Arbeit beschränkte sich auf das Aufnehmen von Wetterberichten und Nautischen Warnnachrichten.

Bei meinen Besuchen auf der Brücke und natürlich bei den Mahlzeiten lernte ich die Kollegen kennen. Wieder kam ich in ein lebhaftes Gespräch mit dem II. Offizier Harry Backer. Obwohl „Insulaner“ von Juist, also so eine Art Edel-Ostfriese, war er lustig und aufgeschlossen und ein großer Schauspieler.

Ich weiß noch, wie er einmal in meine Kammer gestürmt kam, mit wilden – gespielten – Gebärden und rief:

„Wo ist der verdammte Schnaps versteckt?“ und wüst an meinen Kojenschubladen zerrte. Er beruhigte sich dann aber rasch, als er sah, dass ich seine Späße noch nicht kannte. Statt Hochprozentigem nahm er mit einem Bier vorlieb.

Am nächsten Tag hatte ich mit ihm einen kleinen, bordinformativen „Klönschnack“ in seiner Kammer. Dann hatte er plötzlich, ohne große Überleitung gesagt, etwas schroff wie mir schien, ich müsse jetzt gehen er habe zu tun.

Später beim Essen entschuldigte er sich. Der Grund für den Rauswurf war folgender:

„Mir war plötzlich eingefallen, dass ich meine Millionäre noch verarzten musste.”

„Millionäre?” fragte ich.

„Ach, das wissen sie ja nicht. Millionäre nenne ich die Kandidaten, die bei mir täglich eine Spritze gegen Tripper kriegen. Jeder von ihnen ist eigentlich schon Multimillionär – in Internationalen Penicillin-Einheiten!”

„Deshalb immer Verhüterlis nehmen, Sparks”, beendete Harry das Thema.

Ausfahrt Kanal – SOS

Den ersten Tag auf See waren wir die deutsche und die holländische Küste entlang geschippert, immer brav den Tonnenweg entlang. Jede dieser Fahrwassertonnen hatte eine Nummer. Wenn man die eine querab hatte, konnte man die nächste schon ausmachen. Da brauchte man für die Navigation weder Peiler noch Sextant. Ausschau halten musste der wachhabende Offizier auf der Brücke trotzdem sehr umsichtig, da in dieser Gegend überaus reger Schiffsverkehr herrschte. Da fuhren neben den großen Frachtern, jede Menge kleine Fischerboote und noch kleinere Segelyachten kreuz und quer durch die Gegend.

Am Morgen des zweiten Tages passierten wir die Meeresenge zwischen Dover und Calais, die etwa 40 km breit ist. Das ist auf der Seekarte soviel wie nichts. Trotzdem sieht man bei der Durchfahrt höchstens ein Ufer. Wegen des Tonnennwegs und der Strömung fahren die Schiffe auch nicht genau in der Mitte dieser Wasserstraße – einer der meistbefahrenen der Welt – sondern sind je nach Richtung dem einen Ufer näher.

Später weitet sich der Ärmelkanal so sehr, dass man das Gefühl hat, schon auf dem offenen Meer zu sein. Als Funker hat man dagegen einen ganz anderen Eindruck. Beim Abhören der Seenotfrequenz 500 kHz registrierte ich die unzähligen Land- und Schiffsstationen. Die stärksten waren die englischen Küstenfunkstationen. Am Anfang des Kanals wurde man von North Foreland Radio/ GNF begrüßt. In der Mitte, bei Portsmouth war Niton Radio/GNI zuhause. Bei der Ausfahrt in den weiten Atlantik wurde man dann von Land’s End Radio/ GLD verabschiedet.

Diese drei Stationen waren nur für den jeweiligen engeren Bereich zuständig, mit Wetterberichten, Warnmeldungen und auch Telegrammen. Die übergeordnete Hauptstation, vor allem für den weltweiten Verkehr auf Kurzwelle für ganz Great Britain zuständig, war Portishead Radio/GKA – so wie es Norddeich Radio für Deutschland war. Diese Küstenfunkstelle war wohl auch die einzige, der man einen bekannten Popsong gewidmet hat: „Portishead Radio“ von Mike Bat.

Auf dem Kurs nach Nordamerika kamen die Schiffe aber statt mit dem felsigen Kap Land’s End eher mit dem südöstlich davon gelegenden Lizard Point in Berührung, dem südlichsten Punkt Englands. Diese „Berührung” war vor der Erfindung des Schiffsradars für viele Schiffe tödlich.

Bei guter Sicht konnte man vom Schiff aus schon mal die Leuchttürme der Halbinsel Lizard sehen. Spätestens hier machte man sich mit den sowieso schon arg geschundenen neu an Bord gekommenen Schiffsjungen früher einen Spaß. Einen Tag vorher sagte ihnen der Bootsmann, sie sollten doch noch einen Brief an die liebe Mama schreiben. Dieser würde dann in die „Brieftonne“ am Ende von England eingeworfen. Da stand dann der arme Matrosen-Anwärter frierend an der Reling und hielt – vergebens – Ausschau nach dem Briefkasten auf weiter See.

Mit mir als jungfräulichem Funkoffizier wagte man dieses Spielchen aber nicht. Als dann Stunden später die früher nicht weniger gefürchteten Scilly Island hinter uns lagen, hatten wir den ganzen großen Nordatlantik vor uns – ziemlich genau 5000 km Wasser bis zur Einfahrt in den St. Lorenz Strom.

Das Passieren von Land’s End war bei der Seefahrt eine bekannte Wegmarke. Sie hieß allgemein „Ausfahrt Kanal“. Für den Funker bedeutete das, zwei Telegramme zu senden. Eins über Norddeich zur Reederei in Deutschland und das andere via Chatham Radio zur amerikanischen Agentur der Reederei. Inhalt beider Funksprüche:

Der oft raue Atlantik zeigt sich von seiner ruhigeren Seite - mit nur Windstärke 3-4.
Der oft raue Atlantik zeigt sich von seiner ruhigeren Seite - mit nur Windstärke 3-4.
Unser II. Offizier lehnt an der Ruderkonsole, die auch das Selbststeuer enthielt.
Unser II. Offizier lehnt an der Ruderkonsole, die auch das Selbststeuer enthielt.

 

LANDS END PASSIERT 11.05 1800 GMT – MASTER+

Nach Deutschland hatte ich kein Problem, die Kurzwellenverbindung herzustellen. Für Amerika brauchte ich länger. Ausfahrt Kanal galt unter Seefunkern als schwierige Gegend für den Kurzwellenverkehr mit Nordamerika. Schließlich war auch das erledigt. Die große Station Chatham Radio/WCC verabschiedete sich nicht nur mit dem üblichen Morse-Schlusszeichen sondern mit einem freundlichen gemorsten deutschen „AUFWIEDERSEHEN.”

Nachdem unser altes Europa endgültig hinter uns lag, änderten sich die Bewegungen des Schiffs ganz deutlich. War es im Kanal von kürzeren Wellen ab und zu seitlich oder von vorne angeschubst worden, so fiel es jetzt in einen langsamen, gleichmäßigen Rhythmus. Die Atlantikdünung hatte uns erreicht. Sie kam aus nordwestlicher Richtung und ließ das Schiff sanft hin und her rollen. Dabei hatten wir einen sonnigen Maitag und kaum Wind.

Diese Bewegungen verursachten bei mir nach einigen Stunden eine leichte Übelkeit. Am Nachmittag hatte der Steward eine große Tasse Kaffee in die Station gebracht. Ohne besonderen Appetit hatte ich sie halb ausgetrunken – und nach einer Viertelstunde wieder von mir gegeben. Obwohl mir auch bei späteren Schiffsreisen, nach längeren Landaufenthalten, am Anfang schon mal leichte Seekrankheitsymtome ankamen, war diese halbe Tasse Kaffee das Einzige, das ich auf See auf diese Weise jemals von mir gegeben habe.

Die Seekrankheit betreffend habe ich folgende Erkenntnisse gewonnen. Etwa zehn Prozent der Menschen werden immer seekrank, gewöhnen sich nie richtig an die Schiffsbewegungen. Und zehn Prozent werden nie seekrank. Der große Rest gewöhnt sich spätestens nach anderthalb Tagen an die Schaukelei und kann danach wieder alles essen.

An diesem Tag gab es noch ein bemerkenswertes Funk-Ereignis. Ich hatte um 14.00 GMT meine Wache angetreten; den Empfänger ein-, und das Autoalarmgerät ausgeschaltet, den Kopfhörer auf die Ohren getan und den Empfänger auf 500 kHz abgestimmt. Das übliche vielstimmige Geräusch aus Morsezeichen unterschiedlichster Tonhöhe und Lautstärke, das mir jetzt schon sehr vertraut war, ertönte.

Dann beugte ich mich wie elektrisiert vor. Nicht sehr laut, aber in dem allgemeinen Gebrodel gut zu unterscheiden, erklangen diese für den Funker so magischen drei Buchstaben: SOS (· · · – – – · · ·). Jeder Funker der das Notsignal sendet, bemüht sich um eine saubere, gut zu lesende Morse-Handschrift. Und er gibt das Notzeichen langsam, damit jeder es auch wirklich mitkriegt. Gesendet wurde das SOS-Signal wohl mit einem dieser betagten Mittelwellensendern, die einen etwas rauen Ton erzeugten. All das bewirkte, dass das SOS in diesem Fall so unverwechselbar und in seiner tiefen Tonlage einen so bedeutungsvollen, fast dramatischen Klang hatte.

Ich war zuerst wie gelähmt. Ich konnte einfach nicht glauben, dass ich am ersten Tag auf dem Nordatlantik schon in einen Notverkehr verwickelt sein sollte. Als ich endlich anfing, die Nachricht mitzuschreiben war sie schon fast zu Ende. „ … fire on bord“ war das Einzige, was auf meinem Block stand.

Übermäßig folgenschwer war mein Blackout nun auch wieder nicht. Die Meldung war um 14.08 GMT hereingekommen und in der nächsten silens period von 14.15 bis 14.18 würde sie wiederholt werden. Und so war es auch. Der Zeiger meiner Stationsuhr war gerade in den roten Sektor gewandert, der Funkverkehr ebbte ab und verstummte schnell. Nun kam die SOS-Meldung klar und deutlich rein – wenn auch von weit entfernt und lautete etwa so:

SOS SOS SOS DE GXXX – POS 55.00 N 10.00 W – FIRE

ON BOARD – NEED IMMIDIATE HELP – MASTER – SOS SOS SOS +

Ich gab die Meldung auf die Brücke. Wir hatten den Notverkehr auf der Seefahrtschule oft geprobt, mit unseren echten Funkstationen, an der Dummy-Antenne. Jetzt hingegen war es Ernst – und das war doch ein erheblich anderes Gefühl.

Das Verfahren bei einem Notruf lief folgendermaßen ab: Die Funker, die einen Notruf aufgenommen hatten, gaben nacheinander eine knappe Empfangsbestätigung ab. Wenn man offensichtlich so weit weg war wie wir, hielt man sich so lange zurück bis die näheren Stationen ihre Meldungen gesendet hatten.

Die Funkstation in Not rief nun die hilfsbereiten Schiffe der Reihe nach an. Die bei ihr mit dem stärksten Signal ankommende zuerst. Diese Schiffe hatten inzwischen ihre Funksprüche mit Standort und Geschwindigkeit vorbereitet, die der Funker an das Schiff in Not übermittelte.

Auf diese Weise fanden sich schließlich Schiffe, die dem havarierten Schiff zur Hilfe eilen konnten. Für uns kam in diesem Fall eine Kursänderung nicht in Frage, da das brennende Schiff irgendwo in der Irischen See stand und wir etwa 24 Stunden bis dahin gebraucht hätten.

Das Verfahren des Notverkehrs hatte sich in den 60er Jahren geändert. Danach durfte SOS nur noch von dem Schiff in Not verwendet werden. Die hilfswilligen Schiffe sendeten stattdessen DDD wie distress als Prefix.

Übrigens – die Übersetzung von SOS gleich „save our souls” wurde von den Seefunkern nicht verwendet. Im Sprechfunk wird noch heute statt SOS das Wort MAYDAY benutzt. Dieses heißt nicht Maitag, sondern wird vom Französischen m’aider – hilf mir – abgeleitet.

Diese beiden Notsignale wurden nur dann verwendet, wenn unmittelbare Gefahr für Schiff und Mannschaft bestand. Hatte man etwa „nur“ einen Brand an Bord, den man in den Griff zu bekommen hoffte, gab der Kapitän erst mal eine Bitte um Hilfe heraus, der statt SOS das Dringlichkeitszeichen XXX voraus ging. Im Sprechfunk heißt das Äquivalent PAN.

Dann gab es noch das Sicherheitszeichen TTT, im Sprechfunk SECURITÉ. Damit wurden Sicherheitsmeldungen eingeleitet, dringende Wettermeldungen oder Hinweise auf losgerissene Fahrwassertonnen.

Der Vollständigkeit halber will ich noch das „Autoalarmzeichen“ erwähnen. Dieses bestand aus zwölf Strichen von 4 Sekunden Länge und einer Sekunde Pause. Es wurde von einem Gerät zum Aufziehen erzeugt und wie die Morsetaste mit dem Sender verbunden. Es diente dazu, die auf allen Schiffen installierten Autoalarmgeräte anzusprechen. Da es auf den Frachtern nur einen Funker gab und der nur acht Stunden Wache ging, wurde in seinen Ruhepausen dieses Gerät eingeschaltet. Es sprach auf das vor dem SOS-Ruf gesendete Alarmsignal an und ließ eine Klingel ertönen.

Eine zweite, riesige Klingel war bei mir an der Sperrholzwand meiner Koje angebracht. Wenn sie losschepperte – meistens mitten in der Nacht – saß ich urplötzlich senkrecht auf der Matratze.

Nachdem ich mit dem SOS-Verkehr um eine gute Funkererfahrung reicher war, widmete ich mich wieder den Routineaufgaben. Dazu gehörten das Aufnehmen der Wetterberichte und der täglichen Funkpresse. Das war eine auf anderthalb DIN A4-Seiten eingedampfte Ausgabe des Hamburger Abendblatts. Dieser Text, für dessen Aufnahme man etwa eine Stunde brauchte, wurde von Norddeich Radio gesendet.

Die Wetterberichte für den östlichen Teil des Atlantiks nahm ich von Portishead Radio auf. Von dort kam auch das Zahlenmaterial, nach dem ich die tägliche Wetterkarte auf vorgefertigte Blätter zeichnete.

Wie in meinem kleinen Reich, hatte sich auch in allen anderen Bereichen des Schiffs eine gleichmäßige Tagesroutine eingespielt. In der Nordsee waren bei dem ruhigen Frühlingswetter noch Arbeiten an Deck erledigt worden. Große Mengen von Abfall waren einfach über Bord gekippt worden. Das war damals üblich und nicht verboten. Wir schmissen auch unsere leeren Bierflaschen einfach über die Reling. Ich stellte mir später vor, auf dem Meeresgrund des Tonnenwegs müsste schon ein dicker, gläserner Wall angewachsen sein.

Nun fuhren wir auf dem weiten Atlantik dahin. Das Leben an Bord war routiniert und ruhig geworden. Die Zeit verlangsamte sich gewissermaßen. Ein Seemann, der auf seiner Wache vier Stunden auf das Meer schaut, darf nicht hektisch und ungeduldig sein. Auch ich gewöhnte mich an diesen Rhythmus. Aber ganz ohne Probleme ging das bei mir nicht.

Wir hatten den “point of no return” erreicht. Das heißt, wir waren an einem Punkt angekommen, an dem es nach Amerika näher war als nach Europa. Ich stellte mir einen Globus vor, bei dem unser Position ganz oben lag. Unser Schiff befand sich also auf einem riesigen Wasserberg, der durch die Kontinente weit hinter dem Horizont begrenzt wurde: Auf der einen Seite meine bisherige Heimat und auf der anderen die vor mir liegende Neue Welt.

Ich kann mir heute noch die Stimmung zurückrufen, die ich an einem dieser Tage mitten auf dem Atlantik gespürt hatte. Nach dem Aufstehen stand ich an meinem kleinen Waschbecken. Das vom Rasierschaum laugig aussehende Wasser ähnelte in der Farbe dem des Atlantiks draußen. Es schwappte im Becken sachte hin und her. Einen Ausschnitt der unendlich weiten See konnte ich durch mein kleines Fenster sehen.

Plötzlich packte mich ein ganz eigenartiges Gefühl der Einsamkeit. Es war wohl eine Mischung aus Verlassenheit, Heimweh und dem Zweifel, ‚hast du wirklich den richtigen Beruf gewählt?‘ Eigentlich war ich erst jetzt, wo die Tage ruhiger verliefen, bereit, solche Gedanken an mich heran zu lassen. Es waren ja eine ganze Menge ungewohnter Dinge auf mich zugekommen: Der neue Beruf, der neue Arbeitsplatz und eine Umgebung, die einsamer nicht hätte sein können. Mir fiel so etwas Banales ein, wie: ‚Du kannst nicht mal eben ums Karree gehen oder zum Kiosk an der Ecke und eine Zeitung kaufen.‘

Diese trüben Gedanken verschwanden spätestens, als ich bei meinen gutgelaunten Kumpels am Frühstückstisch saß. Die hauten rein, nach dem Motto „Seeluft macht hungrig und Seegang erst recht.“ Vielleicht war sogar Donnerstag, der „Seemannssonntag“. Da gab es „Eier nach Wunsch“ und obendrein die schmackhaften Nürnberger Würstchen und frisch gebackenes Brot und guten Kaffee.

Eine kleine Geschichte von der Mitte des Atlantiks muss ich noch erzählen. Ich hatte meine Nachmittagswache beendet und wollte zu einem kleinen Plausch auf die Brücke gehen. Mir war kalt und da ich noch keine warme Uniformjacke hatte, zog ich mein taubengraues Tweedsakko an. Nichts Arges denkend betrat ich die Brücke. Der Kapitän hatte Wache, angetan mit dunkler Hose und Khakijacke.

„Tag, Herr Kaptän“, sagte ich artig. Der „Alte“ erwiderte meinen Gruß. Dann sah er mich von oben bis unten an, besonders mein Jackett, blickte hinaus auf die unendliche See ringsherum und wandte sich wieder an mich und sagte mit leicht mokantem Ton:

„Na, Funker, wollen Sie an Land gehen?!“

Erst jetzt wurde mir der doch sehr zivile Charakter meiner Kleidung bewusst. Wir mussten beide laut lachen.

Eisberge vor Grönland

Mitte Mai kamen wir in die Gegend, in der fast 50 Jahre früher die stolze „Titanic“ mit einem Eisberg kollidiert und Stunden später gesunken war. Nicht, dass bei uns an Bord irgendjemand von diesem Ereignis gesprochen hätte. Ich erwähne diese Katastrophe hier nur, um für meine weitere Erzählung etwas Spannung zu wecken!

Die Bedenken meines Kapitäns bezüglich des neuen Funkers während der Eisbergsaison hatte ich natürlich noch nicht vergessen. Bevor wir die Gegend der Eisberge, die im Frühjahr von Grönland nach Süden driften, erreicht hatten, war ich schon eifrig bemüht gewesen, den Eisbergbericht von Cape Race Radio auf Neufundland aufzunehmen. Je weiter wir nach Westen kamen, desto besser wurde der Empfang. Soweit ich mich noch erinnere, hatte der Bericht folgende Struktur: Nach einer kurzen Übersicht und Vorhersage wurden alle großen und kleinen Eisberge, mit ihren jeweiligen Positionen und Zugrichtungen aufgezählt. Da hieß es etwa: BERG 45.00 N 46.00 W DRIFTING SE. Es gab auch „growler“. Das waren ganz kleine Berge, die, wenn man sie übersah, dem Schiff auch wehtun konnten.

Dieser Eisbergreport war von der sendenden Funkstation auf einen Lochstreifen gestanzt worden, der dann automatisch ablief. Das erste Mal mit moderater Geschwindigkeit. Zum Vergleichen wurde das Tempo bei der anschließenden Wiederholung erhöht, und man konnte seine Zahlenkolonnen nochmals überprüfen. Heraus kam eine absolut verlässliche Aufnahme.

Am ersten Abend schritt ich mit meinem „ice report“ stolz auf die Brücke und übergab mein Werk dem Zweiten. Anstatt des Lobes voll zu sein, sagte er nach kurzer Durchsicht:

„Diese Position stimmt nicht.“ „Und ob die stimmt“, wagte ich zu erwidern, „ich habe alles nochmals überprüft.“ Im Stillen fragte ich mich, wie er denn überhaupt wissen konnte, dass eine der vielen Positionen nicht stimmte. Der Zweite sah meine Ratlosigkeit, lachte und klärte den Sachverhalt auf:

„Operator, hier steht 45 Grad und 89 Minuten. Aber bei Positionsangaben nach Grad und Minuten gibt es nun mal nicht mehr als 59 Minuten. Wahrscheinlich hat sich Ihr Kollege, der den Streifen gelocht hat, vertan“, milderte er seine Kritik ab.