AUS DEN SATZUNGEN DER GESELLSCHAFT

Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Ermittlungen, Nachforschungen und Expeditionen nur dann, wenn ihr der Auftrag moralisch gerechtfertigt erscheint.

§

Die Gesellschaft übernimmt Aufträge für Expeditionen in alle Teile der bewohnten und unbewohnen Erde, soweit deren Ausführung nicht den Gesetzen des betreffenden Landes widerspricht. Sollten aber die Gesetze eines Landes den Gesetzen der Menschlichkeit widersprechen, so wird die Gesellschaft bereit sein, übernommene Aufträge auch dort auszuführen.

§

Die Kosten einer Expedition werden vom Chef-Expeditionsleiter geschätzt. Die eine Hälfte des angesetzten Betrages ist vor dem Aufbruch der Expedition zu zahlen, die andere nach deren Beendigung. Überschreiten die tatsächlichen entstandenen Kosten den veranschlagten Betrag, so werden sie zur Hälfte vom Auftraggeber, zur Hälfte von der Gesellschaft getragen.

§

Betrifft eine Ermittlungs- oder Erforschungsaufgabe Menschen, die in Not sind und niemand haben, der sich ihrer annehmen kann, so übernimmt die Gesellschaft die Kosten der notwendigen Hilfs- oder Rettungsaktion.

§

Die Teilnehmer an einer Expedition haben sich über deren Ziel, Zweck und Ergebnis zu absolutem Stillschweigen verpflichtet. Berichte über Expeditionen werden nur dann veröffentlicht, wenn der Generaldirektor der Gesellschaft und der Auftraggeber damit einverstanden sind. Nichtveröffentlichte Expeditionsberichte werden im Geheimarchiv der Gesellschaft niedergelegt und dort dreißig Jahre lang aufbewahrt.

UBIQUE TERRARUM

(ÜBERALL IN DER WELT)

LIMITED COMPANY GESELLSCHAFT MIT BESCHRÄNKTER HAFTUNG

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EXPLORING AND RESEARCHING OF ALL KIND NACHFORSCHUNGEN UND ERMITTLUNGEN JEDER ART

EHRENPRÄSIDENT

LORD HAYSTACK, P.R.A., K.C.I.E.

GENERALDIREKTOR

ARTHUR MILLER

CHEFEXPEDITIONSLEITER

STEPHAN SLANTON, V.C.

EXPEDITIONSFORSCHER

DR. PHIL. DR. RER. NAT. PETER GEIST

EXPEDITIONSARZT: DOCTEUR EN MÉDECINE

GASTON DE MONTFORT

COMTE DE DARIFANT-CROY

EHRENRITTER DES SOUVERÄNEN MALTESERORDENS

UND IHRE MANNSCHAFT

PATRICK CROMBY aus Irland

BERTRAM KUNKE aus Deutschland

CYPRIAN BOMBARDON aus Frankreich

Weitere Informationen über HERBERT KRANZ und die UBIQUE-TERRARUM-SERIE finden Sie im Internet unter

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ISBN: 978-3-8482-7163-4

1. Auflage 2004

Alle Rechte vorbehalten

©2004 Lipcowitz/Kranz

Herausgeber:

Georg Kranz, Ostseeheilbad Zingst

Einband:

Willy Kretzer

Überarbeitung der Wort- und Sacherklärungen:

ASvonPio, Dresden

Georg Kranz, Ostseeheilbad Zingst

Rückseitentext:

ASvonPio, Dresden

Satz und Layout:

voigt&kranz GbR, Ostseebad Prerow

Herstellung und Verlag:

Books on Demand GmbH, Norderstedt

INHALT

Eine schlimme Nachricht

Von dem Mord in der Skelettschlucht hörten die Männer von Tombstone am Donnerstag früh, eine Stunde nach Sonnenaufgang.

Jedoch hatte sich in der Stadt selbst schon während der Nacht Bemerkenswertes ereignet.

Gegenüber dem freundlichen Holzhaus, das die Frau des Reverend Larrabee als Sonntagsschule hatte bauen lassen, stand die Wirtschaft, über deren Tür zu lesen war: „Komm rein, mein Junge: hier ist’s richtig!“ Auf das Schild waren Eichhörnchen gemalt, die über die Buchstaben hinwegsprangen, als seien es Baumäste, und danach wurde das Lokal kurz „Im Kaibab“ genannt; das ist nämlich der Name, den die Indianer Arizonas dem munteren Tierchen mit dem buschigen weißen Schwanz gaben, das nur dort vorkommt. So still es nun in der Sonntagsschule der Frau Reverend und so wild es in der Wirtschaft zuging, so störte doch der tolle Betrieb keineswegs die erbaulichen Stunden im Haus gegenüber. Denn noch nie hatte jemand am Tage etwas von den lauten Gästen gesehen. Es war, als ob sie das Licht der Sonne scheuten. Sie erschienen erst, wenn es dunkelte. Nur zu einer Zeit, wo die gute Frau Reverend und die braven, kleinen Besucher der Sonntagsschule längst schliefen, ging es im „Kaibab“ höchst lebendig zu, wobei es allerdings nicht ausblieb, dass sich das Leben eines Gastes durch einen Messerstich oder einen Pistolenschuss plötzlich verflüchtigte.

Daher wunderte sich der Sheriff Behan auch nicht weiter, als er in der Nacht vom Mittwoch auf den Donnerstag in das „Kaibab“ gerufen wurde. „Wendall Braham hat’s erwischt“, sagte der Mann, der ihn holte, und als der Sheriff in die Wirtschaft kam, sah er den Mann, den er als Wendall Braham kannte, regungslos am Boden liegen. Eine Wunde war nicht zu sehen, aber es konnte ihn ja auch der Schlag gerührt haben. Jedenfalls musste erst einmal festgestellt werden, ob Wendall Braham nur das Bewusstsein oder gleich das Leben verloren hatte. Der Sheriff war sich darüber klar, dass im zweiten Fall der Verlust für die Menschheit nicht erheblich gewesen wäre, aber er sagte trotzdem: „Also dann – holt den Doc!“

Jedoch die Männer kamen mit der Nachricht zurück, Doktor Paddington sei nicht zu Haus, sondern über Land. Da nahm sich Old Kellup der Sache an. Er war in seiner Jugend Kutscher bei einem Landarzt gewesen, dann aber auf die schiefe Ebene geraten und von der Polizei mehrerer Staaten gesucht worden, ohne dass ihn die Männer mit dem Blechstern am Rock hätten finden können. Jetzt war längst Gras über die Spuren seiner dunklen Vergangenheit gewachsen, er verbrachte seinen Lebensabend in Tombstone als Totengräber, verstand aber auch, kranke Zähne zu ziehen. Allerdings sorgte er bei dieser Prozedur dafür, dass seine Patienten vorher ihre sechsschüssigen Pistolen außerhalb des Raumes niederlegten, in dem er zu amtieren hatte, damit sie den herausgequälten Zahn in ihrem Schmerz nicht etwa mit einem lebensverkürzenden Schuss honorierten anstatt mit einem halben Dollar. Jetzt beugte sich Old Kellup sachkundig über den Liegenden, berührte die Hornhaut des Auges und stellte fest, dass das Lid sich nicht schloss.

„Der ist hin, Sheriff“, sagte er nicht ohne Stolz auf seine medizinischen Kenntnisse. Aber im Ton seiner Worte klang auch ein Bedauern mit, denn Wendall Braham hatte ihm so manchen Whisky bezahlt.

„Bring ihn in die Halle“, entschied der Sheriff. „Soll der Doc morgen feststellen, woran er gestorben ist.“

„Der ist nur ganz unglücklich gefallen“, sagte der Wirt vom „Kaibab“.

„Das wird sich alles zeigen“, antwortete der Sheriff und entfernte sich.

Zu den Neugierigen, die mit ihm zur Besichtigung des Verunglückten angelangt waren, gehörte auch Odysseus, arm Nigger Odysseus, wie er sich selbst nannte, ein farbiger Junge, der nicht sagen konnte, wie alt er war, noch wer seine Eltern gewesen waren. Vielleicht war er vierzehn, vielleicht sechzehn Jahre, und irgendwie war er hier nach Tombstone gekommen, wo er in der ,Alhambra’, dem besten Gasthaus der kleinen Stadt, als Hilfs-Tellerwäscher und Hausbursche untergekrochen war. Natürlich hatte er sich von den Männern, die den Sheriff begleiteten, in behutsamer Entfernung gehalten, denn man konnte nie wissen, auf was für Einfälle diese Weißen kamen, wenn sie mit einer gehörigen Portion Whisky im Leibe plötzlich einen wehrlosen Negerjungen zu fassen bekamen. Er betrat auch die Wirtschaft nicht, sondern erspähte von außen durch das Fenster, was drinnen vorging, und als der Tote von Old Kellup und einem seiner Kumpane in die Leichenhalle gebracht wurde, schlich er auch nur in gehöriger Entfernung nach. Aber er hatte einen großen Entschluss gefasst.

Seinen flinken Augen entging nichts von dem, was in Tombstone geschah, und so hatte er genau gesehen, dass der Mann, der jetzt still und stumm auf dem Karren in die Leichenhalle gerollt wurde, drei Tage lang in funkelnagelneuen Stiefeln einherstolziert war. Nun war Wendall Braham also tot – wozu brauchte aber ein Toter, da er doch keinen einzigen Schritt mehr ging, so prächtige Stiefel? Er, der arme Odysseus, musste noch viele Schritte tun, er musste laufen von morgens bis spät in die Nacht, und immer barfuss – daher war ein Paar prächtige Stiefel sein höchster Traum. Er hatte niemand, der für ihn sorgte, er war ganz allein auf sich und seinen klugen Kopf angewiesen – und so schlich er sich in die Leichenhalle, nachdem die beiden Männer sie verlassen hatten.

Allerdings war ihm dabei nicht ganz wohl, denn es gruselte ihn, nun so allein mit einem Toten zu sein. Doch er machte sich selber Mut, indem er laut mit sich redete. „Arm Massa Wendall sein gute Massa“, sagte er. „Arm Massa Wendall schenken arm Nigger Odysseus Stiefel“ – und da kam ihm ein neuer Gedanke. Wie, wenn er dem, was er da vorhatte, durch eine kluge Wendung den Anschein einer rechtmäßigen Handlung gab? „Arm Massa Wendall“, sagte er, „hier sein arm Nigger Odysseus. Arm Nigger Odysseus brauchen Stiefel. Arm Wendall haben gute Herz. Arm Massa Wendall schenken arm Nigger Odysseus ihm seine Stiefel. Aber wenn nicht wollen, Massa Wendall bloß sagen: No! Arm Nigger Odysseus nicht sein böse, wenn sagen no! Arm Nigger Odysseus sein traurig, aber nicht sein böse. Hallo Massa Wendall, wie dem sein: sagen no?“

Er horchte, und er war sehr befriedigt, dass der so umsichtig Befragte nichts von sich hören ließ, denn damit war die Rechtslage klar – Massa Wendall hatte ihm die Stiefel geschenkt. Er tastete sich an den Mann heran, der auf einer Bahre abgelegt worden war, er fühlte dessen Beine, und jetzt die Stiefel. Er fasste den linken mit beiden Händen und zog. Doch dabei ging der Stiefel nicht vom Fuß, wohl aber kam der ganze Mann ins Rutschen, und im selben Augenblick hörte Odysseus ein so entsetzliches Stöhnen, dass er wie von einer Meute Hunde gejagt aus der Halle lief, die Tür zuwarf und in irgendwelche Straßen rannte – nur fort, nur fort!

Aber es hatte ja keinen Sinn, einfach in die Nacht hina uszulaufen. Als er merkte, dass ihn kein Gespenst verfolgte, schlich er sich in die ,Alhambra’ zurück, wo er gewöhnlich im Pferdestall schlief. Jedoch war er noch zu verstört, als dass er jetzt sein Lager hätte aufsuchen können. In seiner vorsichtigen Art lugte er auch hier erst einmal durchs Fenster und sah vorn im Schankraum den Sheriff mit ein paar Männern sitzen. Das war ihm ein Trost, denn der Sheriff war ein genauer, aber guter Mann. Er würde ihn nicht hinausjagen, sondern ihn anhören – vor ihm konnte er seinem bedrängten Herzen Luft machen. Er trat in den Schankraum.

„Massa Sheriff“, stammelte er, „Massa Sheriff –“ Weiter kam er nicht. Aber seine weitaufgerissenen Augen machten allen deutlich, dass er Furchtbares gesehen hatte.

„Was hat denn der verdammte Nigger?!“

Eine schwere Hand packte den bedauernswerten Jungen am Hals wie eine Eisenklammer, aber Sheriff Behan winkte ab, die Hand ließ ihn los, stieß ihn aber noch einen Schritt zum Sheriff hin.

„Was ist denn, Odysseus?“ fragte der etwas ärgerlich.

„Massa Sheriff“, sagte der Farbige aufgeregt, „arm Nigger Odysseus gehen, wo arm Massa Wendall liegen. Arm Massa Wendall immer gut zu arm Nigger Odysseus, arm Nigger Odysseus auch gut sein zu arm Massa Wendall –“

„Mach’s kurz, oder ich helf dir,“ schrie eine böse Stimme.

Wieder winkte der Sheriff Behan ab. „Du warst an der Leichenhalle, Odysseus?“ sagte er.

„Massa Sheriff, arm Nigger Odysseus hören ein Gespenst! In der Halle stöhnen Gespenst!“

Und er machte den furchtbaren Laut nach, den er dort vernommen hatte. Er hatte sich in die Darstellung, die er den Männern vorsetzte, so hineingelebt, dass er selber der Meinung war, so sei es gewesen und nicht anders.

Wildes Hallo und Gelächter. Sofort brachen sie zu der Leichenhalle auf. Alle wollten das Gespenst sehen. Der Sheriff ging voran, neben ihm der zitternde Odysseus. Der Sheriff hatte die große Taschenlampe, ohne die er abends nicht ausging, in der Hand.

Die Männer machten die breite Tür der Holzhalle weit auf, und der helle Lichtschein fiel auf die Totenbahre. Aber auf ihr lag kein Toter. Wendall Braham hatte sich aufgerichtet, saß auf der Bahre und wunderte sich.

„Hallo, Wendall“, schrieen die Männer, „bist du noch nicht abgekratzt?“

„Warum soll ich abkratzen?“ antwortete Braham. „Aber welcher Idiot hat mich in die Leichenhalle gebracht?!“

Jetzt erschien, von dem Lärm aufgescheucht, Old Kellup. Sie überschütteten ihn mit Spott und Hohn. „Kein Augenreflex, Old Kellup“, so lachten sie ihn aus – „kein Augenreflex, aber er redet und ist kreuzfidel!“

„Ich habe seine Netzhaut berührt, und das Lid hat sich nicht bewegt!“ verteidigte sich Old Kellup empört.

„In welches Auge hast du mir denn geschaut, du Totenbeschauer?“ fragte Wendall Braham.

„Ins rechte natürlich, immer ins rechte!“

„Na Mensch, das ist doch mein Glasauge!“ schrie Wendall Braham.

Keine Leichenhalle der bewohnten Erde hat solch ein Gelächter erlebt wie das Bretterhaus in Tombstone.

„Tut mir leid, Old Kellup“, sagte Wendall Braham, „dass ich dich um deine Einnahme bringe – aber mir ist es lieber so!“

„Männer von Tombstone“, schrie einer von den lachenden Kerlen, „das muss gefeiert werden! Braham, Old Kellup, kommt mit! Was ihr sauft, zahle ich aus meiner Tasche!“

So zogen sie alle, auch der Sheriff, wieder in die ,Alhambra’, und die Nacht ging laut und lärmend hin. Sie saßen und tranken noch, als die Sonne aufging, und sie saßen da noch immer, als eine Stunde nach Sonnenaufgang Stephen Baker herangeritten kam und, ohne abzusteigen, ihnen durch das offene Fenster zurief: „Elias Willcox liegt tot in der Skelettschlucht – Schuss durch die Stirn!“

Da war es vorbei mit der wilden Lustigkeit. Hier im Land an der mexikanischen Grenze gingen die Pistolen noch leicht los, hier gab es mehr als einen Mann, den man lieber nicht nach seiner Vergangenheit fragte, hier galt ein Menschenleben nicht so viel wie anderswo – aber Elias Willcox war kein Desperado, sondern ein ehrenwerter Mann mit einer großen Ranch, und nun saß auf der Ranch eine Frau ohne ihren Mann, drei Kinder hatten keinen Vater mehr.

Stephen Baker war abgestiegen und erzählte. Er war heute noch im Dunkeln von Edshill aufgebrochen, er wollte früh in Tombstone sein, er hatte mit dem Sheriff zu reden – Sheriff Behan nickte –, er hatte aber auch bald wieder zu Haus sein wollen. Wie er durch die Skelettschlucht kommt, sieht er da einen Mann liegen. Es ist Elias Willcox. Sein Pferd, die braune Escalante, steht dabei, den Kopf gesenkt. Es sucht nicht etwa nach den spärlichen Grashalmen, die dort wachsen – nein, es steht neben dem toten Herrn, den Kopf gesenkt, ohne sich zu rühren.

„Es trauert“, sagte eine Stimme.

„Also dann“, sagte der Sheriff, „wir müssen hin!“

Sofort waren alle bereit. So sind die Männer hier an der Grenze. Sie hatten eine Nacht durchgezecht – aber jetzt holten sie ihre Pferde und ritten davon.

In dem Augenblick kam Frank Blinn. Der junge Mann war Tellerwäscher in der ,Alhambra’. Jetzt fing seine Arbeit an, und er war pünktlich. Ihm lag alles daran, dass er sie nicht verlor.

„Was ist los?“ fragte er, als er die Wegreitenden sah.

„Mord in der Skelettschlucht“, sagte Old Kellup. Er war natürlich nicht mitgeritten, er besaß kein Pferd.

„Wer?“ fragte Frank Blinn.

„Elias Willcox“, sagte Old Kellup. „Schuss durch die Stirn.“

Der verhängnisvolle Zettel

Es dauerte anderthalb Stunden, bis sie den Canon erreichten. Die Felsschlucht sah aus wie verflucht. Kein Baum, kein Busch, nicht einmal ein Kaktus irgendwo – nur Felsenwände, und der Boden übersät mit Blöcken, als hätte sie der Teufel aus dem Sack verloren.

Hier waren vor Jahren die Tschirikahua-Apatschen in dem erbarmungslosen Kampf um den Besitz des Landes eingekesselt worden, hier hatten die weißen Ansiedler sie dann abgeschossen, einen nach dem andern, bis keiner mehr sich regte, und wo sie lagen, hatte man sie liegen lassen. Coyoten und Geier hatten die Knochen abgenagt, Regen sie weiß gewaschen. Manch einer, der vorbeiritt, hatte einen Schädel mitgenommen und in seiner Ranch als Trophäe aufgehängt, aber noch immer lagen da und dort Gebeine herum.

Und jetzt lag da der Farmer Willcox tot auf dem steinigen Grund. Der Einschuss mitten auf der Stirn. Vorsichtig hob der Sheriff den Kopf und tastete ihn ab. Kein Blut im Haar. Kein Ausschuss. Das Geschoss saß also noch im Schädel.

„Arbeit für den Doc“, sagte der Sheriff. Er fasste in die Taschen des Toten. Seine Shagpfeife, Tabak. Aber keine Brieftasche.

„Die haben sie ihm abgenommen“, sagte einer.

Da – ein Zettel! Er war zusammengefaltet, der Sheriff faltete ihn auseinander und las vor, was darauf stand: „Sie kommen Donnerstag früh. Kommen Sie, ehe die andern kommen. H.R.D.“

Sie überlegten. Es dauerte nicht lange, da kamen sie darauf:

H.R.D. konnte niemand anders sein als Henry Robert Dodd auf der Drei-Zedern-Ranch.

Der Sheriff ordnete an, was zu geschehen hatte. Will Hunter ritt zu der Ranch, erkundigte sich da, was der Inhalt des Zettels zu bedeuten hatte, und brachte dann mit Dodds Auto den Toten nach Tombstone. Der Sheriff ritt hinüber zu der Willcox-Ranch, unterrichtete die Witwe über die schlimme Sache und fragte sie aus, ob sie am Ende irgendeinen Verdacht hätte. Die andern suchten die Skelettschlucht nach Spuren ab; sie hatten Jim Gurley bei sich, den es sauer ankam, wenn er seinen Namen schreiben musste, der aber Wild- und Menschenfährten zu lesen verstand wie kein zweiter, denn er war noch ein Old-Timer. Treffpunkt für alle: Alhambra.

Am Abend saßen sie wieder in dem Schankraum beisammen, in dem sie die letzte Nacht so vergnügt gezecht hatten, aber jetzt waren ihre Mienen so ernst wie ihre Gespräche. Der Sheriff hatte den ersten Ausbruch der Verzweiflung; den die Todesnachricht bei Frau Willcox hervorgerufen hatte, abwarten müssen, dann aber folgendes erfragen können: Ihr Mann hatte gesagt, er wolle zur Drei-Zedern-Ranch hinüberreiten und käme wohl mit Vieh zurück. Frau Willcox konnte nicht erklären, wo seine Brieftasche geblieben sein könne. Trotz genauem Suchen war sie im Haus nicht zu finden. Sicher habe ihr Mann viel Geld in die Tasche gesteckt, wenn er Vieh habe kaufen wollen. Wie viel Geld jetzt fehlte, ließ sich so rasch nicht feststellen. Willcox war ein eigenwilliger, schweigsamer Mann, der auch seiner Frau nicht alles erzählte, was ihn beschäftigte. Dass er mit irgend jemand Streit gehabt hätte, wonach sich der Sheriff auch erkundigte, konnte sie nicht sagen. Allerdings fiel ihr dann noch ein, dass er vor etwa acht Tagen den Coyote-Joe weggeschickt hatte, der bei ihrem Mann gefragt habe, ob er ihn nicht als Cowhand gebrauchen könne. Weil es aber immer hieß, Coyote-Joe hinge mit Schmugglern zusammen, von denen sich hier an der Grenze genug herumtrieben, habe ihr Mann nein gesagt; er wollte auf seiner Ranch nur ganz saubere Leute haben – lieber machte er alle Arbeit allein.

Die Männer stimmten zu. Ja, das war richtig. Elias Willcox war einer von den ganz Zuverlässigen, Knorrigen. Auf zweifelhafte Sachen hatte er sich nie eingelassen und sich allen Händeln ferngehalten, – und trotzdem hatte er jetzt so elend umkommen müssen. Er war ein Mann in seinen besten Jahren, Anfang der vierzig. Jeder hatte gemeint, er werde mit neunzig friedlich im Bett sterben und nicht in Stiefeln.

Von seinem Ritt zur Drei-Zedern-Farm gab Will Hunter folgenden Bericht: Der alte Dodd erwartete Herefords, die ihm von Mexiko aus zugetrieben werden sollten, und er hatte mit Willcox davon gesprochen, dass er ihm ein paar Mastochsen ablassen könne. Aber davon wusste er nichts, dass das Vieh heute am Donnerstag hätte kommen sollen. Er hatte auch den Zettel nicht geschrieben.

„Also“, sagte Sheriff Behan, „mit dem Zettel ist er von seiner Ranch weggelockt worden.“

„Wer hat denn davon gewusst, dass Willcox beim alten Dodd hat Vieh kaufen wollen?“

Will Hunter war ein umsichtiger Mann. Er hatte sich auch danach erkundigt.

„Sie haben vorigen Sonntag vor der Kirche davon geredet“, sagte er.

„Stimmt“, sagte Jim Gurley. „Ich stand dabei!“ Jetzt entsannen sich noch mehr, dass von einem kommenden Viehtransport die Rede gewesen war.

„Und ich will euch was sagen“, bemerkte Stephen Baker. „Der Coyote-Joe stand da auch unter den Männern. Er ging dann nicht mit in die Kirche. Ich habe gesehen, wie er abschob. Ich dachte noch: ,Na, dir könnte es auch nicht schaden, wenn du dir mal Gottes Wort anhörtest!‘“

Sie überlegten. Wer hatte Coyote-Joe noch später gesehen? Am Dienstag war er mehreren begegnet, danach aber niemandem mehr.

Und wie steht’s mit den Spuren in der Skelettschlucht, Jim Gurley? Schlecht stand es damit, sehr schlecht. Da waren die Hufspuren vom Pferde des Toten, da waren die von Stephen Bakers Wallach, der die Schlucht in entgegengesetzter Richtung durchritten hatte – aber sonst war nichts zu finden, gar nichts. Der steinige Boden nahm keine Eindrücke auf, und wenn sich da jemand noch besonders bemühte, keine Spuren zu hinterlassen, dann war das eine Suppe ohne Fett und Salz.

„Also dann“, sagte der Sheriff, „wir sind jetzt 36 Stunden in den Stiefeln. Alles haut sich hin und schläft bis morgen früh um fünf. Um sechs reiten wir los und suchen Coyote-Joe.“

„Dann hat er 24 Stunden Vorsprung“, sagte einer.

„Lässt sich nicht ändern“, sagte der Sheriff. „Besser, wir schlafen jetzt, als dass wir nachher vom Pferd fallen.“

Sie wollten schon auseinandergehen. „Noch eins, Männer“, sagte der Sheriff, „wer nimmt sich der Frau an? Es muss da einer nach dem Rechten sehen, und dass Willcox sauber in die Erde kommt. Wer weiß, wie lange wir unterwegs sind.“

„Der alte Dodd kümmert sich drum“, antwortete Will Hunter. Es war das erste, was er sagte.

„Also dann“, sagte der Sheriff.

Als sie am andern Morgen losritten, hatten sie Glück. Sie trafen zwei Cowboys, die Arbeit suchten, ordentliche, zuverlässige Burschen. Sie waren auf dem Wege zur Drei-Zedern-Farm, weil sie auch davon gehört hatten, da käme bald ein großer Viehtransport an, und sie hatten Coyote-Joe gesehen. Er war auf dem Weg in die Drachenberge gewesen, gut beritten, auf einem schwarzen Traber mit einer Blesse. Jetzt aber los! Die Nachricht stimmte: sie stießen auf Holzfäller, welche den einsamen Reiter auch gesehen hatten. Es dauerte nicht mehr lange, da hatten sie seine Spur in weichem Boden, und ganz deutlich war sie bis Tres Alamos. Da hatte der Kerl den San Pedro überquert. Dann lief die Spur der Pferdediebe-Öde zu, und die Männer sahen sich einen Augenblick an. Die Gegend war als echte Arizona-Wüste berüchtigt. Aber sie ritten weiter.

Hier gab es keine Ranch mehr, hier gab es keine Quellen.

Sie hatten nichts mehr zu essen, schlimmer – sie hatten nichts mehr zu trinken. Jim Gurleys Pferd fiel aus, der Sheriff musste ihn mit auf seinen starken „Cantar“ nehmen, aber unter der doppelten Last ging das Pferd langsamer, und dann überhaupt nicht mehr. Als sie endlich an eine Quelle kamen, waren sie 48 Stunden ohne einen Schluck Wasser gewesen. Die Spur war verloren. Es gab nur noch eins: umkehren.

In Tombstone kamen sie nachts gegen halb zwölf wieder an. Die Männer waren nur noch wie Schatten. Selbstverständlich hinderte sie das nicht daran, sich erst einmal in die ,Alhambra’ zu schleppen. Aber als sie eintraten, verstummte jede Unterhaltung. Nicht ein einziges „Hallo, Jungens!“ begrüßte sie, denn den Gästen war klar, dass die Männer in einer Verfassung waren, in der sie ein falsch angebrachtes Wort mit allen sechs Schüssen ihrer Pistolen beantworteten.

Der Sheriff und die heimgekehrten Verfolger fielen schwer auf die Stühle. Stumm saßen sie da, und stumm setzte Mister Brown, der Wirt, vor jeden ein großes Glas Whisky. Aber sie waren so erschöpft, dass keine Hand danach fasste.

Für alle, die das mit ansahen, war es ein schrecklicher Anblick.

Schweigend starrten die Menschen auf den Trupp, der offenbar ohne jeden Erfolg zurückgekehrt war. Aus der Küche waren die Wirtin und ihre Magd gekommen. Auch Odysseus hatte sich herangeschlichen, und Frank Blinn hatte seinen Abwaschraum verlassen. Er stand ganz allein im Türrahmen zum Schankraum.

„Und wenn wir ihn gefasst hätten“, sagte der Sheriff, „wer weiß denn, ob er überhaupt der Mörder war?“

Jetzt zog er einen Zettel aus der Tasche. „Der Zettel ist nicht mit der Post gekommen“, sagte der Sheriff. „Frau Willcox hat gesagt, sie hätten seit vierzehn Tagen nichts mit der Post erhalten. Den Zettel hat ihm einer gegeben und wenn wir wüssten, von wem er den Zettel hatte, dann wüssten wir auch, wer der Mörder ist!“

Frank Blinn trat aus dem Türrahmen in den Schatten des Korridors zurück. Er fühlte, dass er bleich geworden war. Er wusste, wer dem Elias Willcox den Zettel gegeben hatte, er war es selbst, er, Frank Blinn, achtzehn Jahre alt, Tellerwäscher in der ,Alhambra’.

Ankunft in Tombstone

Am andern Morgen hielt genau zur fahrplanmäßigen Zeit der Greyhound-Omnibus, der Tombstone auf seiner Strecke von Los Angeles nach El Paso berührt, da wo er immer hielt, am Cafe ,Zur Eule’ in der Allen-Straße, und ihm entstiegen drei Männer von ungewöhnlichem Aussehen. Der eine war athletisch gebaut, aber auf den mächtigen Schultern saß ein Kopf mit einem ganz kindlichen Gesicht und weißblondem Haar. Der zweite war von der Natur, die ihn geschaffen hatte, rundlich gehalten und hatte ein freundliches Vollmondgesicht und rotes Haar. Dem dritten, der schwarzhaarig war, nicht sehr groß, beweglich, mit dunklen Mausaugen, sah man seine südfranzösische Abkunft deutlich an. Aus dem Akzent, mit dem der zweite englisch sprach, hörte man den Iren heraus, aber seiner Sprache nach hätte man den ersten nicht ohne weiteres als Deutschen erkannt, denn er sprach sein Englisch wie ein Amerikaner und dazu wie einer, der sich im wesentlichen unter Hafenarbeitern, Matrosen und in Lokalen aufgehalten hat, in denen man keinen besonderen Wert auf feine Umgangsformen legt. Jeder hatte einen ziemlich schweren Seesack bei sich, und dieses Gepäck schleppten sie mit in die ,Eule’, wo sie sich sofort an die Theke begaben. Draußen donnerte der Greyhound-Omnibus davon.

„Für jeden einen Wanzensaft!“ bestellte der Deutsche, und mit diesem Schlüsselwort wies er sich als einer aus, der sich in Arizona auskannte, denn hier versteht man unter der empfindliche Gemüter doch etwas abschreckenden Bezeichnung einen Whisky. Sie tranken ihn nicht nur aus, sondern bezahlten ihn auch sofort und führten sich damit aufs beste bei der Wirtin ein. Sie hatte schon trübe Erfahrungen gemacht – ihr eigener Mann war von einer Fahrt über die mexikanische Grenze nicht wiedergekommen, und so musste sie mit der Wirtschaft ganz allein fertig werden. Die Männer baten sie, ihre drei Seesäcke aufzubewahren, und äußerten, nunmehr wollten sie „das gottverdammte Nest mal topographisch aufnehmen“ und nebenbei „ausbaldowern, wo sie hier eine passable Schlummermutter fänden“, denn für ein Hotel reichten ihre Peseten nicht. „Sagen Sie mal“, fragte der Deutsche noch, „auf wie viel Tombstoner haben Sie es denn nun mit Gottes Hilfe gebracht?“

Sofort fing die Frau zu jammern an. Jetzt habe das berühmte Tombstone nur noch 849 Einwohner, dabei würden es immer weniger, aber früher, ja früher –

Die Drei waren schon draußen. „Das habe ich ja nun ausgemacht gern“, sagte der Deutsche, „wenn ich irgendwo hinkomme und gleich vorgesetzt kriege, früher sei hier mal was los gewesen!“

Er hatte bis jetzt allein das Wort geführt, denn der Franzose sprach kein Englisch, und der Ire grundsätzlich nur selten.

Sie sahen sich um. Der Ort lag zwischen nackten rötlichgelben Höhenzügen, die aussahen, als ob sie ratzekahl abgefressen seien.

Im Westen zog sich der dunklere San-Pedro-Rücken hin, im Norden und Osten die Drachenberge, die violett aussahen. Der Himmel schien noch höher als sonst und war wolkenlos. Eine Dakotamaschine kreiste über der Erde. Sie blitzte im Sonnenlicht.

„Komisch“, sagte der Ire. „Seit wann lassen die Airlines ihre Maschinen Rundflüge machen?“

„Das ist kein Airliner“, sagte der Deutsche. „Das ist einer vom F.B.I. Der sucht hier was.“

Die Luft war heiß wie in einer Wüste. „Ich glaube, hier regnet es nie“, sagte der Franzose missmutig.

Vor einer großen Tafel blieben sie stehen. Aber der Franzose konnte nicht lesen, was darauf stand.

„Höchste Zeit, Neunauge“, sagte der Deutsche, „dass du endlich Englisch lernst!“

„Hab’ ich nicht mehr nötig“, sagte der Franzose, „dies ist Gott sei Dank meine letzte Reise in so elende Gegenden, und wenn ich erst wieder in Paris sitze, komme ich mit Französisch aus!“ Er wollte in der Weltstadt ein bezauberndes kleines Bistro aufmachen, „Zum vergnügten Neunauge“, und davon hatte er seinen Spitznamen.

„Los, Figur, übersetze!“

Der Deutsche hörte auf seinen Beinamen und übersetzte, was da in riesigen Lettern auf die hölzerne Tafel gemalt war:

Willkommen in Tombstone!

Wir haben auf Sie gewartet!

Denn auch Sie wollen doch unseren berühmten Friedhof sehen!

Dort liegen die Gebeine von

Tom MacLaury, Frank MacLaury, Bulle Clanton –

erschossen in der berühmten Revolverschlacht.

Weiter finden Sie dort die Ruhestätte von

Dan Sample, dem Roten Howard und Dan Kelly –

alle drei wegen siebenfachen Mordes

gesetzmäßig gehenkt durch den Sheriff J.E.Ward

Ferner können Sie ergriffen weilen an der

Grabstätte von John Herth

der vom Volk gelyncht wurde, weil er die schöne Rosa umgebracht

haben sollte, während sie nur verschwunden war, weil sie sich eine

andere Stelle in El Paso als Kellnerin gesucht hatte,

was aber für John Herth zu spät bemerkt wurde –

Endlich versäumen Sie nicht,

einen Blick auf die Gräber zu werfen, in denen Indianer-Bill,

die Brüder Brady und China-Mary ruhen – alle vier ermordet

von ruchloser, aber unbekannter Hand.

Und wenn Sie dann erschüttert den Friedhof verlassen, stärken

Sie sich in der ,Alhambra’, dem ersten Hotel am Platze.

Erstklassige Drinks – Prima Betten – Zeitgemäße Preise

„Offenbar eine bemerkenswert schöne Gegend hier“, sagte Neunauge.

„Hier scheinen die Pistolen von selbst loszugehen“, sagte Figur. „Gut, dass ich meine Smith-Wesson in der Hosentasche habe!“

Da nahm einmal der rothaarige Ire das Wort. „In der ,Alhambra’“, sagte er, „werden der Chef und GG und der Graf wohnen – aber für uns ist das nicht das Richtige.“

Sein Spitzname war Plumpudding, und wer ihn sah, begriff sofort, dass auf dieser Erde kein besserer Name gefunden werden konnte.

„Sehen wir also zu“, sagte Neunauge, „dass wir auch für uns das Richtige finden!“ Damit gingen sie weiter, – und hatte schon die merkwürdige Tafel ihre Verwunderung erregt, so mussten sie sich jetzt sagen, dass sie eine so sonderbare Stadt noch nie gesehen hatten.

„Herr du meines Lebens“, sagte Figur.

„Ich glaube, das ist eine Stadt für Tote“, sagte Neunauge, und Plumpudding schüttelte den Kopf, als könne er gar nicht glauben, was er hier mit eigenen Augen sah.

Alle die niedrigen Häuser hatten breite Vordächer gegen die Glut der Sonne, und im Schatten dieses Sonnenschutzes standen alte Bänke, aber kein Mensch saß auf ihnen. Es sah überhaupt aus, als habe hier schon seit Jahren niemand mehr auf einer dieser Bänke gesessen. Da und dort bewegten sich ein paar Leute, aber ohne Eile, als wäre gar kein rechtes Leben mehr in ihnen. Jetzt bemerkten die drei auch, dass nur die Hälfte aller Häuser bewohnt war – die andern standen leer, und als sie einmal durch die blind gewordenen Scheiben in das Innere eines der verlassenen Gebäude blickten, sahen sie, dass dort alles verfallen war. Unheimlich war auch, dass die Straßen, die rechtwinklig wie ein Schachbrett angelegt waren, einander völlig glichen: so wiederholte sich überall das Bild des Stillstands und Verfalls.

„Dies ist eine Gespensterstadt“, stöhnte Neunauge. „Was werden wir hier wieder Entsetzliches erleben?“

Jetzt hörten sie lautes, ja rasendes Hundebellen, und froh, einem Anzeichen wirklichen Lebens zu begegnen, gingen sie dem Lärm nach. Was sie dann erblickten, war wieder durchaus ungewöhnlich.

Auf einer Mauer, die den Hof eines Hauses von der Straße trennte, stand ein farbiger Junge in größter Angst. Denn von der Straßenseite her sprang ein wütender Bullenbeißer gegen ihn hoch und suchte ihn zu fassen. Aus seiner stumpfen schwarzen Schnauze troff der Geifer, er fletschte seine Zähne – mit einem Wort ein Höllenhund. Offenbar war der Junge vor dem rasenden Tier auf die Mauer geflüchtet. Er konnte sich aber vor seinem Angreifer nicht dadurch retten, dass er auf der anderen Seite in den Hof hinabsprang, denn auch von dort kam wildes Gebell.

In heller Angst blickte der Junge bald auf die Straße, bald auf den Hof, und jetzt sahen die Männer durch die Stäbe des eisernen Gittertores, das die Mauer unterbrach, dass aus dem Haus ein alter Mann in den Hof lief, eine Schrotflinte in der Hand. „Willst du von der Mauer runter, verdammter Nigger!“ schrie er.

„Arm Nigger Odysseus nicht können!“ schrie der Junge. „Böser Hund links – böser Hund rechts – böser Hund überall!“

„Pass auf, wie du springen kannst, wenn du ’ne Ladung Schrot in den Hintern bekommst!“ schrie der Mann und hob seine Flinte.

Neunauge vermochte nicht, das mit anzusehen, und er sprudelte heftige französische Sätze heraus. Sie konnten freilich keine Wirkung haben.

„Mann Gottes“, rief Figur dem Alten zu, „wenn der Boy springt, zerreißt ihn der Hund!“

„Das soll er auch!“ schrie der Mann zurück. „Dafür habe ich meine Hunde auf Nigger dressiert!“

„Na“, sagte Figur, „dann wollen wir mal mit dem alten Tombstoner tombstonisch umgehen.“ Er zog seine Smith-Wesson, zeigte sie dem Alten und rief durch das Gitter: „Wetten, dass der Köter mit dem ersten Schuss hin ist?“

Der Alte fluchte ausführlich. Aber entweder hatte Figur den richtigen Ton getroffen oder der Alte fühlte sich dadurch in der Zange, dass eine Schrotflinte gegen eine Smith-Wesson nicht ankam. Er pfiff und schrie: „Gog! Magog! Hierher!“

Mit einem Male waren die wilden Hunde wie verwandelt. Das Wort ihres Herrn machte anscheinend andere Wesen aus ihnen. Das Gebell verstummte. Der Höllenhund sprang nicht mehr an der Mauer hoch, sondern rannte davon, bog um eine Ecke und war dann verschwunden. Er wusste wohl ein Schlupfloch in den Hof.

„Jetzt kannst du von der Mauer“, sagte Figur, und der Junge sprang auf die Straße.

Vor Schrecken war er noch ganz grau im Gesicht. Er konnte kein Wort herausbringen.

Der Alte war an das verschlossene Tor getreten. „Der verdammte Nigger hat hier nichts zu suchen!“ sagte er.

„Aber hören Sie mal“, sagte Figur, „in der ganzen Welt hat jedermann das Recht, eine öffentliche Straße zu benutzen!“

„Ich bin ein freier Amerikaner“, sagte der Alte. „Wo ich wohne, will ich keinen Nigger sehen.

„Lieber wollen Sie sehen, wie Ihre Hunde so einen Jungen zerfleischen?“

„Lärm um einen Nigger“, sagte der Alte, „lächerlich!“ Er wandte den Männern auf der Straße den Rücken zu und ging langsam in sein Haus zurück.

„Liegt vielleicht am Klima hier“, sagte Figur.

Der Junge hatte seine gewohnte Farbe wiedergewonnen. Er lächelte Figur an. „Smith-Wesson sein gut“, sagte er, „aber Old Hatchcatch sein nicht sehr gut!“

„Hier, boy“, sagte Plumpudding und gab ihm einen Dime. Die Augen des Jungen wurden sehr groß. Sein Gesicht leuchtete. Er nahm das Geldstück. „Arm Nigger Odysseus heute haben Glück“, sagte er strahlend. Doch dann befiel ihn wieder Trauer. „Wenn arm Nigger Odysseus sein Old Hatchcatch“, sagte er, „und wenn Old Hatchcatch sein arm Nigger Odysseus, arm Nigger Odysseus nicht hetzen Gog und Magog auf arm Old Hatchcatch! Arm Odysseus wissen, wie das sein – Old Hatchcatch nicht wissen.“ Seufzend setzte er hinzu: „Oh dumme Ham! Warum müssen lachen über Old Noah?“

„Versteh’ ich nicht“, sagte Figur.

„Oh“, sagte der Junge, „Massa nicht wissen?!“ Und er erzählte ihnen in seinem schlechten Englisch, was ihn so bekümmerte: Als Old Noah aus der Arche stieg, froh, dass die Sintflut vorüber war, habe er sich in seiner Freude zu viel Whisky eingeschenkt –

„Hallo, Odysseus“, sagte Plumpudding, „Noah hat noch keinen

Whisky gekannt! Er hat Wein getrunken!“

„Arm Nigger Odysseus nicht wissen. Arm Nigger Odysseus damals nicht sein dabei. Arm Nigger Odysseus nur immer sehen, Männer trinken Whisky, aber Massa wissen besser –“ und er erzählte weiter: Noah sei dann herumgetorkelt, und sein Sohn Ham habe ihn ausgelacht. Aber Old Noah habe das wohl gemerkt und seinen Sohn verflucht: „Du und deine Kinder immer Holz hacken für deine Brüder und Kinder von deine Brüder! Du und deine Kinder immer Wasser holen für deine Brüder und Kinder von deine Brüder! Du und deine Kinder immer Stiefel putzen für deine Brüder und Kinder von deine Brüder“ Damit man aber Ham und seine Nachkommen von den andern Menschen, die sie bedienen müssten, unterscheiden könne, hätten sie eine dunkle Haut und krauses Haar bekommen. „Einmal dumm Lachen“, so schloss er, „und immer Elend – immer…“

Die Männer sahen sich an, und als Neunauge übersetzt worden war, wie im Kopf des Jungen uralte Kunde früher Menschheitsgeschichte nachklang, gab er ihm auch einen Dime.

„Arm Nigger Odysseus heute haben viel Glück“, sagte er ganz überwältigt.

„Hör mal, Odysseus“, sagte Plumpudding, „weißt du nicht, wo man hier für uns drei Betten hat?“

„Oh“, sagte Odysseus begeistert, „Alhambra sein prima prima!“

„Zu teuer für uns“, sagte Plumpudding, „nur für feine Leute! Gibt es hier nicht eine ordentliche Frau, die Zimmer vermietet?“

Der Junge dachte nach. Sein Gesicht wurde bekümmert, so angestrengt dachte er nach – aber dann leuchtete es wieder auf, was ihn, der für sein Alter viel zu ernst aussah, geradezu liebenswert machte. „Oh“, sagte er, „Missus Blinn sehr gute Missus. Missus Blinn sein richtig für die Massas!“

„Zimmer mit drei Betten?“ Der Junge nickte.

„Wanzen?“

Der Junge grinste: „Nix Wanzen bei Missus Blinn.“

„Los“, sagte Figur, „führ uns hin. Wir wollen die Dame besichtigen.“

Sie hatten nicht weit zu gehen, denn ganz Tombstone war nicht groß, Odysseus zeigte ihnen das Haus und verschwand. Er hätte schon längst in der ,Alhambra’ sein müssen, aber der unvorhergesehene Aufenthalt durch Gog und Magog hatte ihn Zeit gekostet.

Das Haus, auf das sie jetzt zuschritten, hatte ein flaches Dach, nur ein Geschoss zu ebener Erde und war klein. Sie versprachen sich daher nicht viel von der Sache, dachten aber, zum mindesten gäbe die Besichtigung einen Witz ab. So riefen sie ziemlich munter: „Hallo, wo ist denn hier die Bedienung?“ – und waren dann recht betreten, als Mistress Blinn aus dem Hause trat, denn sie sahen eine Dame zwischen fünfzig und sechzig vor sich, der gegenüber sich jede Spaßmacherei verbot. Sie war sehr einfach gekleidet, trug als einzigen Schmuck an der rechten Hand die beiden Ringe, die sie als Witwe kennzeichneten, und hatte offensichtlich im Leben viel Schweres durchgemacht. Es ging eine Würde von ihr aus, die aus ihrem Wesen kommen musste, denn ihre Lage schien nicht die beste zu sein.

Es war Neunauge, der sich als erster der unerwarteten Situation gewachsen zeigte. „Madame“, sagte er mit der ganzen eleganten Höflichkeit des Franzosen, „wir haben erfahren, dass Sie vielleicht die Güte haben würden, uns drei für einige Zeit in ihrem reizenden Hause aufzunehmen!“

„Wer hat Ihnen das gesagt?“ erwiderte sie in einem ausgezeichnet französischen Tonfall, so dass Neunauge entzückt war – zugleich aber war ihm die Frage peinlich: dieser schmutzige Straßenjunge war doch keine Referenz für eine so vollendete Dame.

Deswegen suchte er sich vor einer klaren Antwort zu drücken.

„Oh, Madame“, sagte er so gewinnend wie nur möglich, „man kommt in einer fremden Stadt an, nicht wahr, man erkundigt sich, nicht wahr, man hört dies und man hört das, nicht wahr –“

„Und wer hat Sie hergeschickt?“ fragte sie bestimmt.

„Ein Negerjunge“, sagte Plumpudding.

„Ach Odysseus“, sagte sie und lächelte. „Er arbeitet im selben Haus wie mein Sohn“, setzte sie hinzu. „Mein Sohn Frank arbeitet in der ,Alhambra’ als Tellerwäscher.“ Sie sagte das ohne jede Scheu, aber auch ohne jeden Ton einer Klage. So war das eben, und man machte davor die Augen nicht zu.

Das Haus, das sie ihnen zeigte, enthielt eine Küche, ein Bad und drei Zimmer. Das eine war das Wohnzimmer, in dem andern schlief sie mit ihrer Tochter, im dritten standen zwei Betten, und hier konnte ohne Schwierigkeit auf einer Couch ein drittes Lager gerichtet werden. Der Sohn Frank schlief in einem winzigen Häuschen, das im Garten stand. Die Räume waren nur mit dem Allernötigsten möbliert, aber man sah den wenigen Stücken an, dass sie die Reste eines reichen Besitzes sein mussten.

Über den Preis wurden sie sich leicht einig. Die Zeit? Einige Wochen vielleicht…Mistress Blinn fragte nicht, was die drei Männer veranlasste, nach Tombstone zu kommen. An diesem Ort der Erde fragte man niemand nach seinen Absichten, denn jeder nahm an, dass der andere die Wahrheit nicht sagen würde.

Aber die Männer fragten. Das Gespenstische der kleinen Stadt war ihnen doch zu deutlich begegnet. „Was leben denn hier in Tombstone für Leute? Und wovon leben sie?“

Die Dame gab ihnen eine klare Antwort. Alles, was sie sagte, war wohl abgemessen und überlegt. „Hier wohnen Leute“, sagte sie, „die noch mit dabei gewesen sind, als in Tombstone mit Gold- und Silberfunden ungeheure Vermögen gewonnen und verspielt wurden. Hier wohnen Viehzüchter, die sich zur Ruhe gesetzt haben. Und die Viehzüchter, die eine Ranch in der Umgebung besitzen, kommen in die Stadt, um mit den Old-Timern zusammenzusitzen.“

Damit war die erste der beiden Fragen beantwortet. Aber die zweite nicht. Hatte Mistress Blinn sie vergessen? Aber das hätte gar nicht zu ihrer bestimmten Art gepasst. So musste sie die Frage wohl absichtlich überhört haben.

Sie verabschiedeten sich, um ihr Gepäck zu holen. In dem Augenblick ging die Gartentür, und ein junges Mädchen schritt auf das Haus zu.