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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

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© 2015 Inge Galter

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 9783739266947

Gewidmet meinen Eltern

Inge und Heinz Galter

anlässlich der Feier der

Diamantenen Hochzeit

im August 2015

Inhalt

  1. Erwachen in der Unterwelt
  2. „Arpacaş“ und Zapfenstreich
  3. Besen, Kanister und Becher
  4. „Das erste Mal!“
  5. Kaffee, „Regulament“ und Tschuang-Tse
  6. Orientierungen
  7. Der Untersuchungsrichter
  8. Eiche oder Birke?
  9. Regulament und Pyrrhussieg
  10. Die Spur wird aufgenommen
  11. Geduld! Siebzehn Stunden!
  12. Morgensonne und Zeitberechnung
  13. Das lauernde Auge
  14. Foto und Fingerabdrücke
  15. Hungerstreik
  16. Badetag
  17. „Hygienisches“
  18. Taktiken, Praktiken
  19. Erkundungsversuche
  20. Menschen und Unmenschen
  21. Zellengenossen
  22. Das Geheimnis der Eisentür
  23. „Wandmalereien“
  24. Im Netz der Spinne
  25. Nichts wird so fein gesponnen
  26. „Letzte Zuflucht“
  27. Überraschungen
  28. Hangen und Bangen
  29. Der Januskopf des Tages X
  30. Bewährung
  31. Luftveränderung
  32. Beim Vetter auf dem Lande
  33. Variationen schon bekannter Themen
  34. „Spezialitäten“
  35. Herr Vivivac
  36. Tănase
  37. Das Urteil und seine Folgen
  38. Nachwort
  39. Kurzbiografie: Erwin Neustädter
  40. Anhang
  41. Nachwort des Herausgebers

Erwin Neustädter 1

Vorbemerkung

In meinem Bericht geht es weniger um das, was dem Individuum E. N. widerfahren ist, als um die Art und Weise, wie er dem begegnet ist, ohne zugrunde zu gehen. Die Erlebnisse mussten dabei natürlich bis in alle Einzelheiten geschildert werden, um das System und sein Ziel, die Zermürbung des Einzelnen, sichtbar zu machen. Meine Person ist dabei nur ein Beispiel für diesen Einzelnen, an dessen Erfahrungen gezeigt werden soll, welche Möglichkeiten er hat, seine innere Freiheit auch in einer abgekapselten Welt zu bewahren, in der er täglichen Demütigungen ausgeliefert ist.

Die Auswirkungen einer Zellenwelt, in der alle Umgangsformen und Gewohnheiten verboten werden oder widersinnig, ja sogar gefährlich erscheinen, auf andere Individuen und auf die zwischenmenschlichen Beziehungen zu schildern, war mein Anliegen. Auch Allzumenschliches konnte dabei nicht ausgeklammert werden. Nichts ist erfunden, alles ist erlebt.


1 Zeichnung von Hans Eder, siebenbürgischer Maler, 1883-1955.

1 Erwachen in der Unterwelt

Ich fahre aus dem Schlaf. Etwas hat an meine Schulter gestoßen und dabei geklirrt. Hart, metallisch, dicht an meinem Ohr. Neben mir ragt ein Schatten vor einem schwach erhellten Rechteck. Der Schatten sagt etwas, aber was? Ich bin noch ganz benommen, tauche langsam auf aus abgrundtiefem Schlaf, klamm vor Kälte. Was will diese Erscheinung von mir? Wo bin ich überhaupt, und wie bin ich her geraten?

Da beugt sich der Schatten über mich und reißt mir mit heftigem Ruck die Beine vom Lager, so dass die Schuhe auf den Boden poltern und ich mich unwillkürlich aufsetze. Da kommt mir schlagartig zu Bewusstsein, wo ich bin, was sich hier abspielt. Durch den Dämmer der Betäubung blitzt Bild um Bild, ein Film zuckender Szenen rast durch das müde Gehirn. Ich unten auf der Straße, oben im Fenster meine Frau, die mir zum Abschied nachwinkt: Mach’s gut. Schnitt.

Ich im Vorraum des Passamtes, wartend; jeder Atemzug ein Auf und Nieder zwischen Hoffen und Bangen. Plötzlich zwei junge Männer vor mir: Sind Sie Herr N.? Ja. Sie wollen nach Deutschland? Ja. Kommen Sie bitte mit, nur zur Klärung des Sachverhalts. Schnitt.

Eingeklemmt auf dem Rücksitz eines Autos, Fahrt durch wohlbekannte Straßen Richtung Obere Vorstadt. Jetzt weiß ich Bescheid. Mit einem Mal sieht die Welt ganz anders aus. Dort geht der alte B. mit seinen Milchflaschen, gebrechlich, dem Tod nah – aber frei. Er kann gehen, wohin er will, der Glückliche. Schnitt.

Büroraum, Schreibtisch, Aktenschränke, Klubsessel, scheinbar harmlos, wären nicht die beiden Gesichter mir gegenüber. Gespannt lauernd, die Maske der Höflichkeit wird immer fadenscheiniger, Bedrohliches schimmert durch. Scharfe, präzise Fragen dringen wie ein Seziermesser in mein Innerstes, legen es bloß. Verhör ab neun Uhr morgens. Mittagsläuten, Abendläuten, das Licht geht an. Die beiden lösen sich ab, ich bleibe angenagelt, ohne Pause, ohne einen Bissen Nahrung. Einen Schluck Wasser kann ich nehmen, wenn man mich aufs Klo führt, weil die Därme rumoren und die Blase fast platzt. Die letzten Busse rumpeln über die Straße, die Stadt verstummt – das Verhör geht weiter. Von der Schwarzen Kirche schlägt es Mitternacht.

Mein Gott, wie wird sie’s tragen? Statt unseren Pass in die Freiheit zu bringen, bin ich verschwunden. Jeder weiß, was das bedeutet. Sie wird zusammenbrechen. Mich packt der Schwindel, ich antworte nicht mehr. Dann muss ich meine Taschen leeren. Als ich die Uhr auf den Tisch lege, sehe ich: drei Uhr nachts.

Das nächste Bild: Ich in einem Betonschrank, dem Karzer. Aus dem Klubsessel auf das Armesünderbänklein. Es ist gerade mal handbreit, stocksteif muss man darauf sitzen, den Rücken an der kalten Betonwand, die Knie an der Eisentür, in Augenhöhe eine gleißende elektrische Birne, deren Licht einem auch bei geschlossenen Lidern in die Augen sticht. Gegenüber in der Tür das Guckloch. Nach 18 Stunden Verhör nun in einem Steinsarg, aus der Wohnzimmerwärme in die Kälte, ohne einen Bissen im Gekröse.

Und das ist noch nicht das Schlimmste. Schlimmer noch ist die Ungewissheit, wie sie damit fertig wird.

Am nächsten Morgen bringt man mich übernächtigt, durchfroren und ausgehungert zum Verhör, doch nicht in die bequeme Schreibstube im ersten Stock, sondern in einen kahlen kalten Raum ein Stockwerk höher. Die Inquisitoren sitzen an je einem Schreibtisch, ich an einem winzigen Tischchen auf einem am Boden festgeschraubten Stuhl im blinden Winkel hinter der Tür, wo mich, wenn sie aufgeht, niemand sehen kann.

Langsam stellt sich heraus, was man mir zur Last legt: Ich soll durch Vortrag und Verbreitung von Gedichten gegen Staat und Regierung gehetzt haben, und zwar vor allem in der Brigade, in der ich zwei Jahre lang auf dem Staatsgut von E.2 gearbeitet habe. Ich soll sogar versucht haben, hier eine „Widerstandsgruppe“ zu bilden. Das wird zwar noch nicht klar ausgesprochen, aber bedrohlich genug angedeutet. In diesem Licht erst erkenne ich den Sinn und Zusammenhang der Fragen von gestern. Doch wichtig ist mir im Augenblick nicht dies, sondern – als sie mir meine Gedichte vorlegen – der Gedanke: Sie weiß Bescheid. Nach der Hausdurchsuchung weiß sie, wo ich bin und worum es geht.

Dann muss ich unter 200 Gedichten jene heraussuchen, die als regimefeindlich betrachtet werden könnten, und muss sie ins Rumänische übersetzen. Und das mit meinen geringen Sprachkenntnissen und ohne Wörterbuch, wo es doch gerade auf Genauigkeit ankommt.

Wozu das alles? Um unsere Ausreise zu verhindern?

Am späten Nachmittag des zweiten Tages kann ich nicht mehr ... In der Nacht, bevor sie mich in den Karzer führten, haben sie mir alle Wertsachen abgenommen: die Uhr, den Ehering, den Füllhalter, die Brille und das Geld. Nun muss ich in einer Wachstube alles Übrige abgeben: Leibriemen3, Selbstbinder4, Taschenkamm, jedes Fetzchen Papier. Nur das Taschentuch darf ich behalten – und muss es mir vor die Augen binden. Jemand nimmt mich beim Arm und führt mich wie einen Blinden über Gänge, durch Räume, mal kalt, dann wieder warm, über harten und weichen Bodenbelag. Getuschel, etwas klirrt, Schlüssel? Ich bekomme einen Stoß in den Rücken, hinter mir ein dumpfes Schnappen, dann Stille. Dumpfe Kühle.

Ich rühre mich nicht, lausche, warte. Zögernd löse ich die Binde vor den Augen. Dämmerlicht, muffiger Geruch – ein Keller? Gleichviel, Hauptsache, ich muss nicht in den Karzer zurück. Meine tastende Hand stößt an kalte Kanten: ein eisernes Bettgestell. Darauf eine unregelmäßig gewölbte weiche Masse, ein Strohsack. Der Leib sinkt der tastenden Hand nach, ich kippe vornüber – und weg. Dunkel ...

Diese Bilder, mal blitzhell, mal stockfinster, jagen durch mein erschöpftes Hirn, indes ich die Erscheinung vor mir anstarre und zu begreifen suche: Was hat sie gesagt, was will sie? Sie starrt kopfschüttelnd auf mich herab, eine Uniform trägt sie, wie ich nun sehe, und da begreife ich auch, worum es geht: Ich habe mit Schuhen auf dem Strohsack gelegen. Ob ich das von Haus aus gewohnt sei? Die Stimme ist gedämpft, doch die Drohung nicht zu überhören, nicht der Hohn auf diesen „Intellektuellen“, der gegen Vorschrift und Anstand verstoßen hat.

Im Nu bin ich hellwach und erkenne: Dort ragt die Macht. Und hier hockt ein ihr hilflos ausgelieferter Feind des Staates und der Gesellschaft. Jetzt darf ich nichts Unbesonnenes tun, mir keine Blöße geben. Also erkläre ich einsichtsvoll, er habe Recht und ich könne nicht begreifen, wie das geschehen konnte.

Als ich mich dabei erhebe, spüre ich durch die dünnen Socken den kalten Betonboden, und ein innerer Drang wühlt meine Eingeweide dermaßen auf, dass ich mich krümme und nur mühsam die Frage hervorbringe, ob ich aufs Klo dürfe. Der Goliath schüttelt wieder den Kopf, schnauft verächtlich, schiebt sich aber zur Tür hinaus, zieht sie hinter sich zu und flüstert mit jemandem. Dann geht die Tür lautlos wieder auf, und ebenso lautlos tritt eine andere Gestalt auf Filzsohlen herein, während über der Tür in einer kleinen Öffnung ein grelles Licht aufflammt und das Gegenstück zum Goliath erkennen lässt: ein schmächtiges, doch sehniges Kerlchen mit flinken, klugen Augen – einen kleinen David. Er mustert mich einen Augenblick von oben bis unten, kühl, aber ohne Bosheit, und wirft dann etwas auf meinen Strohsack: eine Autobrille. Ich sehe ihn verständnislos an, er aber bedeutet mir wortlos, sie aufzusetzen. Mit einer Autobrille aufs Klo!

Ich gehorche, fast belustigt und angewidert durch die speckige Strippe. Vor meinen Augen wird Nacht. Wo andere Brillen Glas haben, hat diese – Blech. Der Wächter packt mich am Arm und bugsiert mich zur Zellentür hinaus. Von da an sollte ich sie nur noch so passieren – ein Molchdasein in Unkenntnis der nächsten Umgebung.

Erst im Klosettraum darf ich die Brille abnehmen und an einen Haken an der Tür unterhalb des Gucklochs hängen. Die so genannten „türkischen“ Abtritte bestehen aus zwei Fußrasten aus geripptem Beton links und rechts des Latrinenlochs, über dem man in die Hocke gehen muss.

Als ich kein Papier vorfinde, nichtsahnend an die Tür klopfe und darum bitte, merke ich dem Kartoffelgesicht des Goliath sofort an, wie ungeheuerlich mein Ansinnen ihm erscheint. Er meint sogar, ich wollte ihn auf den Arm nehmen, und droht mit Karzer, als David beschwichtigend zu bedenken gibt, dass ich neu sei, und spöttisch fragt, ob ich denn glaubte, in einem Hotel gelandet zu sein, und ob es nicht ausreiche, dass es Wasser, sogar fließendes Wasser gebe. Er zeigt auf das Waschbecken neben der Tür. Na also!

Untersuchungsgefängnis in Kronstadt, 1961/62

Skizze: Erwin Neustädter, 14.11.1972


2 Elisabethstadt bei Schäßburg.

3 Veraltet für Gürtel.

4 Veraltet für Krawatte.

2 „Arpacaş“ und Zapfenstreich

Ich musste mir klarmachen, dass ich in eine Welt geraten war, in der andere Gesetze galten als draußen.

Kaum war ich wieder in der Zelle, ging die Tür auf und David brachte einen emaillierten Becher und einen blechernen Napf mit einem Klumpen von undefinierbarer Farbe und Konsistenz, in dem ein Esslöffel steckte. Er stellte alles auf einen Betonvorsprung unter dem Gitterfenster und ging mit den Worten: „Wenn du fertig bist, klopf an die Tür.“

Angesichts des Essgeschirrs fiel mich plötzlich wieder der Hunger an. Die graue Pampe ohne Geruch und Geschmack war keineswegs appetitanregend, doch für mich wurden zwei Sprüche von alters her unmittelbar aktuell: Hunger ist der beste Koch, durfte ich erfahren, und unterwerfen musste ich mich dem bedingungslosen Imperativ: Friss, Vogel, oder stirb! So schlang ich denn die hirnähnlich widerwärtige Masse in mich hinein, ohne vorerst zu ahnen, dass ich hier das beste Heilmittel für meine chronische Kolitis gefunden hatte, die mir das Durchhalten überhaupt erst ermöglichen sollte, eine vielgeschmähte Speise mit dem rumänischen Namen Arpacaş, zu Deutsch: dicke Graupen.

Noch während ich an den letzten Happen würgte, vernahm ich den fernen Glockenschlag: zehn Uhr. Nun schwamm ich wenigstens nicht mehr im Uferlosen. Merkwürdig, das Wissen um die Zeit war wie eine Brücke nach draußen. Dort ging das Leben normal weiter – für die Anderen. Für eine aber nicht. Meine Frau, wie mochte sie es tragen? Allein zu Hause, auf der Straße, am Arbeitsplatz. Die Sorgen schnürten mich ein, doch der Gefängnisalltag brachte ein gewisses Maß an Befreiung: Dumpfes Pochen draußen im Gang näherte sich, je zwei Schläge, immer näher, und schließlich auch an meiner Tür. Da ich den Rest der Graupen mittlerweile bezwungen hatte, wollte ich den Napf abgeben, als die Tür unvermittelt aufging und David mir ein Decke hereinwarf: „Hinlegen! Zapfenstreich!“

Vom Strohsack stieg eine Staubwolke auf. Zum ersten Mal betrachtete ich ihn näher, dieses staubig-speckige Ding, auf dem ich geschlafen hatte. Angewidert untersuchte ich der Reihe nach auch die übrigen drei Eisenbetten. Links und rechts der Tür standen ein einfaches und ein Stockbett, unter dem Betonvorsprung an der Wand gegenüber der Tür gab es noch eine vierte Liegestatt. Ich hatte auf dem erstbesten an der Tür gelegen, jetzt stellte sich heraus, dass es das günstigste war, weil man weder klettern musste, noch Gefahr lief, sich den Kopf zu stoßen. Unter dem Gitterfenster musste es schlimm sein, weil hier der kalte Zug und die Wärme des Heizkörpers zusammentrafen. Schwieriger war die Wahl des Strohsacks, es galt, das kleinste Übel herauszufinden. Suppe und fettige Haare und sonstige Ingredienzien hatten überall ihre Spuren hinterlassen – wie viele Menschen mochten hier schon gelegen haben, und wie lange! Das war auch an der Füllung zu ermessen, die keinerlei Konsistenz mehr hatte und nur noch Staub absonderte. Zumindest die Wolldecke war weder verstaubt noch verschmutzt, wenngleich hart und steif und schwer wie eine Pferdedecke. Immerhin roch sie nach nichts anderem als nach Desinfektionsmitteln.

Zimperlich war ich Gott sei Dank weder von Natur noch von der Erziehung her, Krieg und Lagerzeit hatten mich abgehärtet. Überdies war ich hundemüde. So ergab ich mich in mein Schicksal, breitete mein Taschentuch über das dreckige Pölsterchen, deckte mich mit meiner Jacke und meinem Mantel zu, zog noch die Decke drüber und suchte die einzige Freiheit, die mir geblieben war, die Freiheit des Schlafes.

3 Besen, Kanister und Becher

Unsanft angestoßen, fuhr ich auf und sah abermals Goliath vor mir stehen. Wieder dauerte es eine Weile, bis ich begriff, was er von mir wollte. Ich sollte mich umdrehen, damit mein Kopf vom Guckloch aus zu sehen war. Dass ich mit dem grellen Licht vor Augen nicht schlafen konnte, kümmerte ihn nicht, die Häftlinge hatten mit dem Gesicht zur Tür zu liegen, andernfalls: Karzer. Bei der Entscheidung, ob das Taschentuch auf das Kopfkissen gehörte oder als Augenbinde zu benutzen war, gewann die Einsicht, dass ich Schlaf brauchte, die Oberhand: Ich legte das Tüchlein über die Augen und war gleich wieder weg.

Aber nicht lange. Es donnerte gegen die Tür, im Guckloch funkelten wütende Augen, eine Stimme keifte herein:

„Aufstehen, oder soll ich dir Beine machen!“ Vom Gang her Türenschlagen, Eimerklirren, Wasserrauschen, gedämpftes Hin und Her: Tagwache.

Kaum hatte ich meine steifen Glieder aus der dreifachen Hülle geschält, ging die Tür einen Spalt auf und eine Kehrichtschaufel und ein Reisigbesen wurden herein geschoben. In der Zelle war offenbar lange nicht gefegt worden, der Staub ballte sich zu Flocken, das Häckselmehl aus den Strohsäcken häufte sich. Besonders problematisch erschien mir die Staubschicht auf dem Betonvorsprung, der als Esstisch diente. Noch ehe ich ihrer Herr wurde, öffnete sich die Klappe und eine Stimme fauchte: „Bist du noch immer nicht fertig? Willst du dich wohl bücken! Ich werd‘ dir ...“ „Fertig, Genosse, zu Befehl, Genosse.“ „Von wegen Genosse! Für einen Volksfeind bin ich der Herr Sergeant, verstanden? Und warum klopfst du nicht, wenn du fertig bist, ha? Her mit dem Mist, und zwar ein bisschen plötzlich!“ Dabei ging die Tür einen Spalt auf. Als ich aber Besen und Schaufel hinausreichen wollte, wurden sie mir aus der Hand geschlagen, und von draußen höhnte es: „Der Herr will sich wohl die Händchen nicht dreckig machen, was? Hier geht’s anders rum: Die Herren haben den Dreck, und wir haben das Heft in der Hand. Los, fegen!“ Ich war drauf und dran, ihm mit dem Besen ins Gesicht zu fahren, im letzten Moment noch konnte ich mich beherrschen bei dem Gedanken, dass er ja nur darauf wartete. Noch einmal fegte ich alles zusammen und bot ihm die Schaufel, die er verächtlich schnaufend nahm.

Das war der Auftakt. Ich konnte mich auf allerlei gefasst machen. Warum wurde vorausgesetzt, dass man alle Regeln beherrschte? Warum wurde einem nicht gesagt, wie man dieses oder jenes zu machen hatte? Gehörte das zur Methode, einen zu verwirren, unsicher zu machen und zu zermürben? Fragen war verpönt, das oberste Gesetz hieß: Schweigen und schlucken!

Dieser erste Tag brachte noch eine Reihe von Erlebnissen, von denen jedes einzelne genügt hätte, einen an zivilisierte Umgangsformen gewöhnten Menschen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dass mir das nicht widerfuhr, kann ich mir nur damit erklären, dass gerade die durch die Sorge um meine Frau ins Unerträgliche gesteigerte Spannung und Unruhe mich die Verunsicherung zwar um so stärker empfinden, sie allerdings nicht in die Tiefe dringen ließ. Dennoch ist sie mir gegenwärtig, in aller Deutlichkeit.

Zum Spintisieren5 blieb mir nicht viel Zeit, denn schon wieder ging die Tür auf, und eine Blechbrille flog herein. Ich stand noch unschlüssig da, als David hereinschaute: „Was ist los? Willst du dich nicht waschen? Husch, husch!“ Und ob ich das wollte nach den zwei Tagen und Nächten und dem Dreck in der Zelle. Aber ich hatte weder Seife noch Handtuch noch Zahnbürste oder Kamm. Als ich das vorbrachte, sah er mich kurz an und sagte: „Seife kannst du haben, alles andere musst du beim Rapport beantragen. Jetzt aber nimm den Kübel, der muss jeden Morgen geleert und gespült werden. Und sieh zu, dass du zur Sache kommst, du darfst erst am Abend wieder raus. Brille auf und los.“

Erst am Abend wieder! Und das bei meiner sowieso schwachen Verdauung, die durch Aufregung und Kälte erst recht strapaziert war. Der „Kübel“, eigentlich ein Kanister mit einer höchstens handbreiten Öffnung, eignete sich zum Spülen ebenso wenig wie zu einschlägigen Verrichtungen. Was das alles an Peinlichkeiten zur Folge hatte, möchte ich dem Leser ersparen, wenngleich es für das, was einem politischen Häftling zugemutet wurde, charakteristisch ist.

Dabei war bestimmt nicht alles auf absichtsvolle Bosheit zum Zweck der Zermürbung zurückzuführen. Nein, vieles entsprach einfach einem rückständigen, robusten, von keinerlei humanitärer Gefühlsduselei angekränkelten System. Der reibungslose Ablauf des Betriebs, die strikte Einhaltung des „Programms“ war der Götze, dem alles geopfert wurde. Mag das beim Militär mit Jugendlichen aufgrund ihrer natürlichen Flexibilität noch halbwegs klappen, ist es für ältere Menschen, deren Organismus aufgrund jahrzehntelanger Gewohnheit in einem bestimmte Rhythmus funktioniert oder gar durch Krankheit beeinträchtigt wird, eine Prozedur, bei der es weitgehend vom Wohl- oder Übelwollen der jeweiligen Wachmannschaft abhängt, wie schmerzlich sie sich auswirkt.

Auch jetzt konnte ich nicht an eventuelle künftige Unannehmlichkeiten denken, sondern musste dem Gebot des Augenblicks gehorchen. Also stellte ich den Kanister griffbereit hin und streifte die Brille über. „Und den Becher lässt du hier?“ Auf Davids Frage nahm ich die Brille wieder ab und sah ihn verdutzt an. Er schüttelte spöttisch den Kopf: „Womit willst du den Kübel spülen? Und alles Übrige besorgen – ohne Papier?“ „Aber das ist doch mein Trinkbecher“, stotterte ich. „Ach, der taugt zu vielerlei“, meinte er gleichmütig, fuhr aber dann auf: „Und jetzt los, verdammt!“

Im Grunde musste ich ihm für diesen Wink dankbar sein. Mit Brille, Kanister und Becher bugsierte mich David einen Gang entlang, drehte mich nach etwa zwanzig Metern nach links, öffnete eine Tür, schob mich hinein und sagte: „Du kannst die Brille abnehmen. Heute hast du zehn Minuten Zeit, sonst fünf. Klopf, wenn du fertig bist.“

Leider kommt einem in einer solchen Situation meist nicht nur der Sinn für Humor, sondern auch die Beobachtungsgabe abhanden. Man käme nicht nur leichter über sie hinweg, sondern darüber hinaus auch noch zu allerlei Erkenntnissen, sei’s auch nur über sich selbst. Da stand also ein „Zivilisationseuropäer“ mit einem Blechkanister von etwa zwölf Litern Fassungsvermögen und einem Achtelliter-Becher, mit dem er jenen säubern und zu einem Viertel füllen, aber auch in Ermangelung des Klopapiers sich selbst reinigen sollte. Eine dritte Herausforderung war die Morgentoilette ohne jedes Hilfsmittel. Das alles sollte hinfort in fünf Minuten bewältigt werden. Fast ist es ein Glück zu nennen, dass hier kein Spiegel hing. Da klickte das Guckfenster, und eine Hand streckte mir ein kleines Stückchen Seife entgegen, graue Waschseife – aber wie dankbar war ich!

Fiel mir damals schon Wilhelm Busch ein, oder meldet er sich erst jetzt? „In Nöten findet manches statt, was sonst nicht stattgefunden hat.“ Stattfand jedenfalls Folgendes: Ich entschloss mich zum Vordringlichen, der Entleerung, und dabei fand ich tatsächlich zu Urzeitgewohnheiten zurück: Die Hand besorgte, was man sonst dem Papier überließ, mit dem Wasser aus dem Becher säuberte ich sie, so gut es ging. Dann kam der Kanister dran, den ich auch nur mit dem Becher befüllen konnte, da er nicht unter den Wasserhahn passte. Weil der Geruch nur mit einem Wasserpegel von etwa dreißig Becherfüllungen leidlich niedergehalten werden konnte, kam das eigentliche Anliegen, die Körperpflege, diesmal und nicht nur diesmal zu kurz. Immerhin konnte ich mir im Lauf der Zeit eine gewisse Flinkheit in allen Verrichtungen antrainieren und sie mir – nachdem ich die Eigenheiten der einzelnen Wächter studiert hatte – so einteilen, dass auch für die Morgentoilette noch ein bisschen Zeit blieb.


5 Synonym zu grübeln, nachdenken.

4 „Das erste Mal!“

Die Wucht dieser Worte ist für einen gerade Verhafteten niederschmetternd konkret. Man stelle sich vor, was da in den ersten Tagen auf Geist, Seele und Körper niedersaust an Unbekanntem, Verstörendem, an Gewalt und Willkür.

Zunächst die Tatsache der Verhaftung, in meinem Fall ein Blitz aus heiterem Himmel, ein Sturz aus den Hoffnungen auf ein Leben in Freiheit in diese Unterwelt entwürdigender Zwänge. Dann plötzlich eine Anklage, ohne dass man sich auch nur vorstellen kann, was man verbrochen hat. Man stelle sich vor: Eben war man noch ein gewöhnlicher Bürger mit Rechten und Pflichten, der planen und sein Leben innerhalb gewisser Grenzen selbst bestimmen und einrichten konnte, jetzt wird man aus allem Gewohnten, allen Bindungen gerissen und zu einem verdächtigen Individuum, einem Staatsfeind degradiert. Bei mir kam erschwerend hinzu, dass ich als Deutscher einst in der „Volksgruppe“ tätig gewesen war, der Klasse der Begüterten angehört und mich als „Intellektueller“, als Lehrer und Schriftsteller, der Gleichschaltung durch das neue System entzogen hatte. Das wog in ihren Augen wohl am schwersten, galt doch der Grundsatz: Wer nicht für uns ist, der ist gegen uns.

Mir blieb also nichts, worauf ich mich stützen oder verlassen konnte, außer mir selbst und meinem guten Gewissen, dass ich nichts Strafbares getan oder geplant hatte. Wie schwer es aber ist, seine Unschuld zu beweisen, wenn einem noch dazu jede Hilfe, jede Rechtsbelehrung versagt bleibt, konnte ich damals noch nicht ahnen.

Dem ersten, vielleicht gefährlichsten Schock folgen alsbald andere, die nach und nach alle Fundamente des Lebens erschüttern: die Trennung von Familie und Heim und Beruf mit der Sorge um jene, mit denen man nun keine Verbindung mehr aufnehmen kann, die Gefährdung der Existenzgrundlage und des sozialen Netzes, in das man eingebunden war. Sensible Naturen vermag das fürs Erste zwar in ihrem Innersten treffen, doch werden sie sich frühzeitig geistige Nischen suchen, in denen sie ihre Werte unbeschadet der aggressiven Umwelt zu bewahren vermögen, während vermeintlich robuster Veranlagte sich mit dem Verzicht auf leibliche Genüsse und Gewohnheiten auf Dauer schwerer tun.

Doch zurück zu den nur scheinbar belanglosen Einzelheiten der Morgentoilette, deren Erinnerung mich zu diesem kleinen Exkurs bewogen hat: Erst allmählich lernte ich meine Kleidung den Umständen anzupassen, also Jacke und Weste in der Zelle zurückzulassen, da ich sie im Waschraum nirgendwohin legen oder hängen konnte. Das Hemd konnte ich zwischen die Knie klemmen, als es wärmer wurde, ließ ich auch das zurück – lauter kleine Praktiken, die ein Minimum von Annehmlichkeit ermöglichten. Fürs Erste musste ich es aus Zeitmangel beim Gesicht- und Händewaschen bewenden lassen. Ich hatte es sicher nur der Nachsicht des kleinen David zu verdanken, dass ich diesmal auch den Mund ausspülen und mein Haar mit den nassen Fingern etwas strählen konnte.

Das alles erscheint kaum der Rede wert, wenn man es als vorübergehenden Ausnahmezustand betrachtet. Anders ist es allerdings, wenn so gut wie keine Aussicht besteht, in den Normalzustand zurückzukehren, und wenn man in einer körperlich-seelischen Verfassung wie meiner damaligen ist. Da erhalten auch Kleinigkeiten ungeahntes Gewicht.

5 Kaffee, „Regulament“ und Tschuang-Tse

Kaum war ich wieder in der Zelle und hatte die Brille hinausgereicht, als auch schon die Klappe aufging und Goliath hereinglotzte. „Wird’s bald?“ schnaubte er. „Oder wünschen der Herr vielleicht keinen Kaffee? Los, den Becher!“ Als ich den eiligst hinhielt, goss er so ein, dass er mir die Finger mit dem heißen Getränk verbrühte. Dazu drückte er mir noch einen Kanten Brot in die Hand, brummte „Tagesration“ und ließ die Klappe einrasten.

Da stand ich nun. Der Kaffe brannte mir an den Fingern, ich stellte den Becher schleunigst ab, wischte sie an der Matratze ab und kühlte sie an der Wand. Dann stellte ich den Kaffee auf die Betonplatte. Bevor ich allerdings das Brot hier ablegte, erkor ich meinen Hut als Zwischenlager und reinigte die Platte mit einer Handvoll Füllmaterial aus einem der Strohsäcke, ohne dabei erwischt zu werden – denn das war gewiss verboten. Ich wollte den Wisch bei meinem nächsten Klogang verschwinden lassen.

Nun konnte ich mich dem Kaffee widmen. Selten hat mir etwas so gemundet wie nach all dem Frieren und Darben dieser heiße, bittersüße Trank. Dazu das frische Kommissbrot, das besser schmeckte als jenes „draußen“, allerdings auf knapp 250 Gramm pro Tag bemessen war.

Während ich nun genüsslich schlürfte und kaute und der Morgen kühl und grau durch die vergitterte Fensterluke kroch, bemerkte ich an der Wand darunter ein Blatt Papier, gleichsam diskret angebracht wie die Preisliste in Hotelzimmern. Was mochte diese Hoteldirektion hier offenbaren? Da man mir die Brille weggenommen hatte, konnte ich nur mit Mühe die Großbuchstaben des Titels entziffern: REGULAMENT.

Hier konnte ich also erfahren, was ich zu tun oder zu lassen hatte, es schien ziemlich viel zu sein, was da zu beherzigen war, ich aber beschloss, es vorerst nicht lesen zu können. Ohne Brille verharrte ich eben im Stande der Unschuld – solange es ging. Ganz wohl war mir dabei nicht, aber ich wollte es darauf ankommen lassen. Der heiße Kaffe und das Brot hatten meine Lebensgeister dergestalt geweckt, dass ich über die Enge der Zelle hinaus zu denken und aufzumucken begann!

Wie spät mochte es sein? Was tat sich wohl daheim? Sonderbarer, befremdlicher Gedanke, dass dort etwas so weiterlief wie vordem – wenigstens äußerlich. War das nicht wie eine Generalprobe für den anderen, den endgültigen Abschied? Auch dann musste weitergemacht werden, so gut oder schlecht es eben ging. Wenn die Liebe daheim sich nur nicht unterkriegen ließ! Wenn sie nur Menschen fand, die ihr beistehen würden! Nicht viele gab’s, denen wir vertrauten, und niemanden, der zu helfen vermocht hätte. Vor dieser Macht, die mich nun in ihren Fängen hielt, wurde mancher, von dem man es gar nicht gedacht hätte, schwach. Diese Tage wurden zur Bewährungsprobe für sie. Schon binnen kürzester Zeit würde man Bescheid wissen und sie meiden. Wie würde sie sich kleiden, wie vor ihre Kollegen und vor die Klasse treten? Oder war sie vielleicht schon entlassen? Allem war sie nun ausgeliefert, wie ich ...

Ich aber musste hier all meinen Willen und meinen Scharfsinn zusammennehmen, um den Fallen zu entgehen. Noch glaubte ich an Verleumdung, an die Absicht, unsere Ausreise zu hintertreiben, an Einschüchterungsversuche, wie man sie schon etliche Male unternommen hatte, um mich zu Spitzeldiensten zu erpressen.

Ich sollte Gedichte gegen das Regime verfasst und verbreitet haben! Ich war doch kein Narr. Kopfzerbrechen bereitete mir nur, wie das Gedicht „Fernzug“ 6 in ihre Hände geraten war, wo der letzte Vers hieß: „Fort in eine freie Welt!“ Das musste aus dem engsten Bekanntenkreis kommen. Schon die Übersetzung des Gedichtes aber musste die Haltlosigkeit der Vorwürfe gegen mich erweisen und damit die Gesetzeswidrigkeit des gesamten Vorgehens. Weder lag ein Verstoß meinerseits vor noch ein Haftbefehl gegen mich. Also musste ich gegen die Verhaftung und gegen die Behandlung protestieren und klare Anklage oder Freilassung fordern!

So klar waren meine Überlegungen allerdings keineswegs, während ich die fünf Schritte zwischen Eisentür und Gitterfenster ablief. Nein, ich musste mich durch ein beträchtliches Gestrüpp von Für und Wider arbeiten, bis ich zu meiner Schlussfolgerung kam, dass ich etwas fordern musste. Gleichzeitig sah ich mir selbst dabei zu und konnte mich eigentlich nur fragen, wie ich auf den verrückten Gedanken gekommen war, hier etwas zu fordern.

Hatte doch Tschuang-Tse gesagt: „Im Äußeren magst du dich anpassen, aber im Inneren musst du deinem eigenen Richtmaß standhalten! Du darfst nicht die äußere Anpassung nach innen dringen lassen, noch das innere Richtmaß sich nach außen kundgeben lassen!“ Vor mehr als 2000 Jahren hatte da ein Mensch die Formel für die schwierige Gleichung gefunden, die der Macht wie der Selbstbehauptung vor ihr das Ihre ließ und dem Leben diente. Sollte er in einer ähnlichen Klemme gesteckt haben? Solche Erkenntnisse entsprießen nicht bloßem Denken. Sie sind erlebt, erlitten. Diese Worte, vor Jahren einmal gelesen und unbewusst gespeichert, gewannen nun just im letzten Augenblick Leben und Kraft, wurden zur Stimme, die mich wachrief und warnte.

In dem Augenblick jedoch, da ich befreit und dankbar aufatmen wollte, wurde mir drängend bewusst, was mir da auferlegt war: dauerndes Ringen zwischen dem, was sein sollte, und dem, was sein konnte. Würde mein Rückgrat das durchhalten?


6 siehe: Anhang Seite →.

6 Orientierungen

Das war die erste meiner peripatetischen Reflexionen, der noch viele folgen sollten. Diese wurde jäh unterbrochen durch das Morgenläuten unserer Kirchenglocke – und zugleich harte Schritte auf dem Korridor. Die Luke ging auf, ein rundes glattes Gesicht mit schwarzem Bärtchen unter der Nase und stechenden Augen erschien und zog sich gleich wieder zurück. Halblaute Stimmen draußen: „Warum steht der nicht, wie sich’s gehört?“ „Ein Neuling, erst seit gestern, Genosse Oberleutnant.“ Dann schob sich ein breites pockennarbiges Gesicht in die Luke und zischte: „Beim Rapport hast du am Kopfende des Bettes strammzustehen, ist das klar?“ Die Luke krachte zu, und die Schritte entfernten sich.

Dies war also der Frührapport und die Wachablösung, sieben Uhr früh. Bis dahin musste alles erledigt sein: Kehren, Klogang, Waschen, Frühstück. Darum die Hetze. Damit begann der Tag. Was würde er mir bringen?

Zunächst versuchte ich mein Brot so unterzubringen, dass es möglichst frisch blieb, und fand nichts Besseres als meine Manteltasche. Dann bemühte ich mich herauszukriegen, in welche Richtung mein Zellenfenster ging. Auch heute ist mir nicht klar, warum mir so viel daran lag. Ich hatte durch das Hin und Her gänzlich das Gespür für die Örtlichkeit verloren und konnte, da die Sonne nicht schien, auch die Himmelsrichtungen nicht ausmachen, so dass ich nicht einmal wusste, in welchem Teil des mir von außen bekannten Gebäudes ich mich befand. Das hochgelegene Kippfenster war blickdicht und nur vom Wächter vor der Zelle zu manipulieren. Was ihm damit für ein Druckmittel in die Hand gegeben war, sollte ich erst später feststellen.

Die einzige Möglichkeit, einen Blick nach draußen zu erhaschen, wurde durch den Öffnungswinkel des Fensters gewährt. Um etwas im Hof erspähen zu können, hätte man auf das Bett steigen müssen, aber das damit verbundene Risiko konnte ich mir schon jetzt ausmalen. Stand ich links vom Fenster, konnte ich durch den Winkel rechts die Stämme und Zweige einiger dürftiger Fichten sehen; stand ich rechts neben dem Kübel, erfasste mein Blick die der Straße abgekehrte Ecke der Villa Popovici, die enteignet und als Sitz der Staatspolizei eingerichtet worden war.

Vorerst genügte mir zu wissen, dass mein Zellenfenster nicht der Straße, sondern dem Stadtzentrum, der Schwarzen Kirche und unserer Wohnung zugekehrt war, was ich allerdings auch aus dem Läuten hatte schließen können, wenn auch nur annähernd. Ich nahm es als glückliche Fügung, dass ich Licht und Luft just aus jener Richtung empfing, der auch meine Gedanken zustrebten, wie der Mohammedaner sich Mekka zuwendet. So blieb mir erspart mein Sehnen gegen die Wand richten zu müssen.

7 Der Untersuchungsrichter

Ich weiß nicht, ob man das, was ich hier erlebte, als Bewusstseinsspaltung bezeichnen kann, doch darum geht es ja eigentlich auch nicht. Tatsache ist, dass ich besonders in jenen ersten Tagen bei allem erschreckend Neuen, das auf mich eindrang und das ich mit verschärften Sinnen wahrnahm, bemüht war wie nie zuvor, das Leben draußen, daheim, bei meiner Frau mitzuerleben, eine seelische Verbindung mit ihr herzustellen, um sie spüren zu lassen, dass ich im Geist bei ihr war. Da unser Tagesablauf immer schon durch diverse Sachzwänge streng geregelt gewesen war, wusste ich jederzeit ziemlich sicher, wo sie gerade war und womit sie sich beschäftigte – vorausgesetzt natürlich, dass alles so weiterlief wie bisher. Das war das große Fragezeichen, das dieses sentimentale Bemühen überschattete.

Dabei wusste ich noch nicht einmal, wie es hier weiterlaufen würde. Noch hegte ich eine unbestimmte Hoffnung, dass sich alles binnen kurzem klären, als Missverständnis oder Verleumdung herausstellen würde und ich heimkehren könnte. Doch sie sollte bald zunichte werden.

In Brüten versunken hatte ich aus dem Fenster gestarrt und gar nicht gemerkt, dass sich die Tür hinter mir geöffnet hatte, so dass ich zusammenfuhr, als plötzlich eine scharfe Flüsterstimme befahl: „Umdrehen!“ Im Türspalt stand in Filzpantoffeln ein mir noch unbekannter Wächter, rundlich und stämmig, mit aus dem feisten Gesicht leicht hervorquellenden Augen, und wies auf die Brille auf dem Strohsack. Diese Geste zur Unzeit, also außerhalb der Toilettenstunde, sollte mir in den nächsten Wochen zum Albdruck werden, denn sie war das Zeichen für den Gang zum Verhör. Die ersten Verhöre hatten mich vor allem durch ihre Länge mitgenommen, die nun beginnenden bewirkten dies durch die raffinierte Hinterhältigkeit, mit der sie geführt wurden.

Von alledem wusste ich damals allerdings noch nichts. Ich setzte die Brille auf und tappte auf den Gang hinaus, wo der Wächter mich am Arm packte und auf einem ganz anderen Weg durch warme Räume, über Holzdielen und Steinstufen bugsierte. Schließlich klopfte er an eine dem Klang nach eiserne Tür, drinnen knirschte ein Schlüssel, kurzes Flüstern, dann ging’s über einen Teppich, eine scharfe Wendung nach rechts, eine Tür wurde geöffnet und ich in einen Raum geschoben. Nach einer Weile kam von links eine Stimme: „Sie können die Brille abnehmen.“

Ich stehe drei Schritt vor einem Schreibtisch, hinter dem ein sehr gepflegter zierlicher Mann sitzt, das glänzend schwarze Haar scharf gescheitelt, eine Hitlerfliege unter der wohlgeformten Nase. Er mustert mich kühl und ausführlich wie der Metzger einen Ochsen oder der Geldwechsler einen Schein. Da ich mich nicht rühre und prüfend zurückstarre, runzelt er leicht die Stirn, räuspert sich und reicht mir ein Blatt Papier: „Hier, lesen Sie.“ Als ich nähertrete, durchzuckt es mich: Achtung, nicht aus der Rolle fallen! „Ohne Brille kann ich nicht“, sage ich und lasse die Hand mit dem Papier sinken. Er schaut mich einen Augenblick prüfend an, drückt dann unter der Tischplatte einen Knopf und befiehlt dem eintretenden Wächter: „Bringt seine Brille!“ Mir winkt er, ihm das Blatt zurückzugeben, er könne es mir genauso gut vorlesen, ich brauche nur noch zu unterschreiben. Und dann liest er, langsam und überdeutlich, wobei er mich nach fast jedem Wort ansieht: „Haftbefehl! Da die Voruntersuchungen sowie die Hausdurchsuchung schwerwiegendes Belastungsmaterial gegen (es folgen die Personalien) im Sinne der Artikel Nr. ... des Gesetzes zum Schutze des Staates und des Strafgesetzbuchs erbracht haben, wird hiermit die Inhaftierung des Genannten vorläufig für vier Wochen verfügt. Die Haftzeit kann gegebenenfalls verlängert werden. Richter XY, Kronstadt, am 26. 4. 1961.“

Da hatte ich die Antwort auf meine Hoffnungen. Es war gut, dass ich gleich zu Anfang gemerkt hatte, wie er mich musterte, um die Wirkung des Schlages zu beobachten, gut war auch, dass gerade jetzt der Mann mit der Brille kam, so dass ich mich zusammenreißen und mit leidlich ruhiger Stimme fragen konnte, wovon die angeführten Gesetzesartikel handelten. „Staatsfeindliche Umtriebe, Agitation, Konspiration“, lautete die lakonische Antwort. Ich traute meinen Ohren nicht – das war so ziemlich das Schlimmste. Jetzt Ruhe bewahren. So schüttelte ich nur den Kopf: „Wenn diese Anklage sich auf meine Gedichte stützt, wird sie nicht aufrechterhalten werden können.“ „Lassen Sie das meine Sorge sein. Ich werde die Untersuchungen leiten: Untersuchungsrichter Hauptmann (den Namen verstand ich nicht), damit Sie wissen, mit wem Sie zu tun haben.“

Selbst wenn ich seinen Namen verstanden hätte, wäre mir verborgen geblieben, warum er damit so auftrumpfte. Nicht dies war es jedoch, was mich verblüffte, sondern dass er sich überhaupt vorstellte, was hier genauso wenig üblich war wie das „Sie“ in der Anrede. Gehörte das „Sie“ zu diesem Stockwerk wie das „Du“ zum Erdgeschoß? War etwas daran echt? Zufällig war hier nichts, soviel hatte ich schon gelernt.

Da ich dies alles im Augenblick nicht entwirren konnte, bat ich nur um Stift oder Feder zum Unterschreiben, worauf er ein Tintenfass und einen Federhalter aus einer Schublade nahm, mir beides reichte und auf das Armesündertischchen in der Ecke wies. Als ich den Haftbefehl noch einmal überflog, blieb mein Blick an den Ziffern der Gesetzesartikel hängen, und Zweifel tauchten auf, ob ich durch meine Unterschrift nicht etwas bestätigte, was ich später bereuen könnte. Ich zögerte und fragte nach, ob ich damit nicht eigentlich schon meine Schuld eingestand. Der Hauptmann lächelte spöttisch: „Das haben wir nicht nötig. Wir brauchen die Unterschrift nur als Nachweis, dass Sie über die Legalität Ihrer Haft Bescheid wissen und nicht meinen, Opfer eines Übergriffs geworden zu sein. Klar?“ So merkwürdig es mir vorkam, dass man diesmal so viele Umstände machte, zog ich es doch vor, nicht weiter zu fragen, sondern wandte mich um und kritzelte „Zur Kenntnis genommen“ sowie Datum und Unterschrift auf das Blatt.

Was nahm damit seinen Lauf? Bisher hatte ich nie mit Gerichten zu tun gehabt. Und jetzt das: Konspiration! Staatsfeindliche Umtriebe! Ein politischer Prozess! Du lieber Himmel!

Als er das schicksalsschwere Blatt entgegennahm, wog er es in der Hand und fragte: „Sind Sie Raucher?“ Etwas verdutzt gab ich zurück: „Zum Glück nicht, sonst hätte ich noch etwas zu entbehren.“ „Schade.“ Er wippte lässig auf zwei Stuhlbeinen. „Wir sind nämlich gar nicht so. Bei uns werden Rauchern je nach Führung drei bis zehn Zigaretten am Tag zugestanden.“ Wo wollte er hinaus? Bevor es mir aufging, fuhr er gleichmütig fort: „Mit Anfragen, Wünschen, Beschwerden jeder Art hat man sich unmittelbar an den Untersuchungsrichter zu wenden, also an mich. Deshalb immer um Vorführung bei mir bitten, klar?“

Wenn das so war, musste ich den Augenblick nutzen und versuchen, mir darüber Gewissheit zu schaffen, wie es um meine Frau stand, auch wenn es mir schwerfiel. „Herr Hauptmann“, hier stockte ich schon, als ich seine kalt forschenden Augen auf mich gerichtet sah, „Herr Hauptmann, meine Frau, Sie müssen wissen, sie ist schlecht dran mit der Gesundheit, besonders mit den Nerven ... Ich fürchte, sie hält dies nicht durch. Dürfte ich wissen, wie es ihr geht?“

„O la la! Der besorgte Ehemann.“ Er wippte, offenbar belustigt, auf seinem Stuhl, dann beugte er sich vor, sah mich scharf an und fragte kurz: „Wie alt sind Sie?“ Verdutzt antwortete ich: „Vierundsechzig.“ „Und Ihre Frau?“ Ich musste erst nachrechnen und sagte dann zögernd, weil ich nicht wusste, wo das hinaus sollte: „Siebenundvierzig.“ „Verheiratet seit wann?“ Wieder musste ich mich erst besinnen: „Seit sieben Jahren, aber ...“ „Kein Aber.“ Er blätterte in den Papieren, die vor ihm lagen, und sah zwischendurch kurz auf: „Das war also in der Zeit der Evakuierung?“ „Kurz danach.“ „Wovon lebten Sie damals eigentlich?“ „Ich war angestellt.“ „Als was?“ „Arbeiter.“ „War das ein Auskommen für eine Familie?“ „Meine Frau ist Lehrerin, wir verdienten beide.“ „Was hat denn eine staatliche Angestellte veranlasst, einen staatsfeindlich Gesinnten, aus dem Schuldienst Entfernten, als Volksschädling Evakuierten zu heiraten?“

Die Fragen schnitten wie Peitschenhiebe durch die Luft, und ich spürte, wie sie sich gefährlich steigerten. Hier wurden Fallen gestellt, also Vorsicht, Ruhe bewahren, sich nichts anmerken lassen. So brachte ich denn so gleichmütig wie möglich hervor: „Aus dem Schuldienst bin ich nicht entfernt, sondern bei der Reform ohne jede Begründung nicht mehr eingestellt worden, und was die Evakuierung betrifft, hat eine Ministerialkommission nachträglich festgestellt, dass sie mich aus Versehen anstelle eines Anderen getroffen hat.“ „Das ist nicht die Antwort auf meine Frage!“ fuhr er mich an. „Doch, Herr Hauptmann. Schließlich hat der Befund der Kommission mich rehabilitiert, die staatliche Angestellte hat also keinen Staatsfeind geheiratet.“ „Sondern ein Unschuldslamm, was?“ höhnte er. Als ich seinem Blick standhielt, wandte er sich ab und tat, als würde er etwas notieren, schob dann aber das Blatt von sich und sah nachdenklich zum Fenster hinaus. Ganz leise, als spräche er mit sich selbst, kroch es dann auf mich zu: „Jedenfalls hat sich die gesellschaftliche Position dieser Frau durch die Heirat keineswegs verbessert, im Gegenteil, verschlechtert hat sie sich. Das hätte sie doch wissen müssen.“ Mit einem Ruck wandte er sich plötzlich mir zu: „Aus dem Alter jugendlicher Torheiten sind Sie doch beide raus, oder?“

Mir wurde langsam unheimlich zumute. Was sollte dieses Bohren im Allerintimsten? So wagte ich die Frage, ob das zu meinen „staatsfeindlichen Umtrieben“ gehöre. „Was ich frage, gehört alles dazu. Und auf präzise Fragen erwarte ich präzise Antworten. Also?“ „Wenn für Sie, Herr Hauptmann, bei einer Eheschließung nur praktische, materielle Gründe zählen, dann weiß ich auf Ihre Frage keine befriedigende Antwort.“ „Aha, materielle Gründe nicht, also ideologische, wie?“ schnappte er. Hier wollte er mich also hinhaben. Jetzt wurde es brenzlig. Jedes falsche Wort – schwer abzuwägen in der fremden Sprache – konnte eine Mine hochgehen lassen. So musste ich denn ganz behutsam formulieren: „Ideologisch? Ich weiß nicht, ob man Sympathie, Vertrauen und ähnliche Gefühle so bezeichnen kann.“ „Sympathie! Vertrauen!“ höhnte er. „Phrasen aus der Mottenkiste der Bourgeoisie! Heuchlerisches Flitterwerk, um etwas ganz anderes zu bemänteln.“

Plötzlich schien er sich zu besinnen und wechselte die Tonart: „War es am Ende eine – Liebesheirat?“ Stumm zuckte ich die Schultern. „Nun, jedenfalls waren Sympathie und Vertrauen nicht einseitig, oder? Sie haben Ihrer Frau doch wohl die gleichen Gefühle entgegengebracht, stimmt’s?“ „Natürlich.“ „Und das ist auch so geblieben?“ „Gewiss, sonst wäre es doch keine Ehe.“ „Gewiss, gewiss. Sehr schön! Dann haben Sie ja wahrscheinlich auch keine Geheimnisse voreinander, zum Beispiel in puncto Ausgaben und Einkünfte und so.“ „Geheimnisse, Herr Hauptmann? Wo doch jeder wusste, was der andere verdient, und alles in die gemeinsame Kasse kam.“ „Soso. Interessant. Und da die Frau mehr verdiente und dazu die Wirtschaft führte, haben Sie ihr das ganze Geld anvertraut, nicht wahr?“ Ich bestätigte es und war leicht erstaunt, als er sich zufrieden die Hände rieb und murmelte: „Jaja, die Sachsen. Man lernt nie aus.“

Scheinbar angelegentlich begutachtete er seine Fingernägel und ließ langsam, beinahe genießerisch, vernehmen: „Nun, dann werden Sie ihr ja auch Ihre Arbeiten, Pläne, Ideen nicht verheimlicht haben.“ Das war es also! Er wollte sie mit hineinziehen. Gab ich es zu, stellte ich sie als Mitwisserin bloß, bestritt ich es, so war das ein Eingeständnis, dass ich schon immer etwas zu verbergen gehabt hatte. Wie kam ich bloß aus dieser Zwickmühle? Wie hielt ich sie heraus aus diesem Teufelskreis? Ich fror und fühlte, wie mir der Schweiß ausbrach. Er beobachtete mich, registrierte jede