Danke den heimlichen Weggefährten!

Wie das Wandern, verlangt auch das Schreiben einen langen Atem. Man braucht Halt, wenn man strauchelt, Anregungen, Ermutigung, Kritik. Dafür danke ich herzlich denen, die das Buchmanuskript fortlaufend gelesen und beurteilt hatten: Annike, Gisela, Alexandra, Hanne, Kläre, Günter, Jenny, Ursula, Johanna - und Heike.

Ebenso gilt allen Menschen, insbesondere Inge, die mir nach meinen ersten öffentlichen Lesungen Zuspruch und Feedback gegeben hatten, mein großer Dank, wie auch den Mitgliedern des Literarischen Arbeitskreises Dorsten, die mir geholfen hatten, meine Arbeit zu reflektieren.

Bei Edelgard, Jürgen, Werner, Filippo, Hendrik, Ingrid und meinem Sohn Julian möchte ich mich für die sachdienliche Unterstützung zur Veröffentlichung bedanken, sowie bei meiner Tochter Annike, die den Weg dieses Buches begleitet und mir mit ihrer Fachkenntnis zur Seite gestanden hatte.

Ein großes Danke meinem mittlerweile 89jährigen Vater, der, wie wir alle wissen, jeden Schritt im Geiste mitgewandert ist, und den Werdegang dieses Buches mit Herzblut begleitet hat.

Der Weg des Eulensteins

Meine Knie haben schon viel mitgemacht. Jahrzehntelang waren sie von kleinen bläulichen Narben bedeckt gewesen, verursacht durch einen fulminanten Sturz in meiner Kindheit. Die Narben sind längst verblasst, als wären sie nie da gewesen, aber die verrückte Geschichte ihrer Entstehung wird wohl auf immer in mir weiterleben. Sie ereignete sich an einem Sommertag des Jahres 1959.

Mein Freund Harald war sieben, ich sechs Jahre alt. Ich weiß noch genau, wie er plötzlich stehen blieb, erst auf seinen, dann auf meinen Tretroller zeigte, und folgendes sagte: „Ich wette, du schaffst es nicht, mit beiden gleichzeitig den Berg runter zu fahren.“

Der ‚Berg‘ war eine stark abschüssige Seitenstraße in Essen-Frillendorf. Wer sie mit nur einem Roller hinabdüste, ging schon ein Wagnis ein.

Harald grinste, während er wartete. Unsere Mütter, die im Spazierschritt folgten, waren in ihre Unterhaltung vertieft und abgelenkt. Ein günstiger Moment!

„Die Roller müssen vollkommen gerade stehen. Wenn‘s abwärts geht, wackelt‘s nicht mehr“, erklärte Harald.

Da ich nicht treten konnte, schob er kräftig an.

Drei Sekunden lang nahm ich Fahrt auf. In der vierten, als die Roller anfingen auseinanderzudriften, wusste ich, dass dieser Spaß böse ausgehen würde. Verzweifelt umklammerte ich die Lenker und hielt mit ganzer Kraft dagegen. In der fünften Sekunde spreizten sich Arme und Beine wie bei dem hölzernen Hampelmann, der daheim in meinem Zimmer an der Wand hing. Wie gern hätte ich zwei Zusatzbeine gehabt und die Roller gestoppt!

„Mein Gott, Kind, was tust du da?“ hörte ich noch meine Mutter schreien, da lag ich bereits blutend am Boden. Entsetzt starrte ich die schwarzen Rollsplittsteinchen an, die in Knien und Händen steckten wie Mandeln in einem Kuchen. Die Haut brannte, als leckten Flammen darüber. Zum Arzt musste ich trotzdem laufen, damals machte man alles zu Fuß. Während er in langer Prozedur mit der Pinzette arbeitete, weinte ich still vor mich hin, doch die Jodbemalung und die tollen Verbände gefielen mir sehr. Nicht nur Harald würde beeindruckt sein. Ich hatte die Wette angenommen und mich in wilder Schussfahrt fünf Sekunden lang auf zwei Rollern gehalten. Aus dieser mutigen Tat zog ich eine Lehre fürs Leben: Mitunter verlangen besondere Vergnügen besondere Einsätze, was mich unweigerlich zu einem verwandten Thema führt.

Ich habe eine Schwäche für aufregende Ferien. Immer suche ich nach dem Gefühl der Freiheit. Warum sollte ich mir das heute verbieten? Weil ich vier entzückende Enkel und elf doofe Zipperlein habe? Ich liebe es ja nachwievor, mein Herz in gesunder Rhythmusstörung rascher schlagen zu lassen. Nein, darauf wollte ich noch nie verzichten. Und da ich immer wieder dazu neigte, mich mit Hingabe in ein Wasser zu stürzen, ohne seine Tiefe zu prüfen, hatten sich auch in meinem Erwachsenenleben Freiheitsgefühle stringent mit Blessuren im weitesten Sinne gepaart.

Als ich zum Beispiel 1973 in Südfrankreich zum ersten Mal Melone aß, war ich von dem aromatischen und sehr süßen Fruchtfleisch so hingerissen, dass ich mir die Freiheit nahm, einen Tag lang nichts anderes zu mir zu nehmen. Eine Nacht lang übergab ich mich, saß bei der Kloschüssel, die mein Leid mit mir teilte und sich mein Jammern und Stöhnen geduldig anhörte. Danach rührte ich meine kulinarische Entdeckung nicht mehr an, doch war ich stets von ihr umgeben. Das Land schwelgte in den Düften von Lavendel, Thymian und Melone, mir war für den Rest der Ferien schlecht. Doch der Tag des ausschweifenden Futterns ist mir unvergessen geblieben.

Im Sauerland fiel ich vom Pferd. Auf Pellworm fiel ich im Jagdgalopp fast vom Pferd. Im Harz ging ein Gaul mit mir durch. In Holland verlor ich mit meinem Kanu die Orientierung und schipperte stundenlang in unbekannten Gewässern herum, bis mich ein Segler in die richtige Richtung schickte.

Und was brachte ich nicht alles von meinen Ferien nach Hause! Die üblichen netten Dinge wie Perlmuttmuscheln, getrocknete Blumen, Dünensand im Tütchen, aber eben auch unschöne Dinge wie Läuse, Allergien, Hämatome - und, wenn ich gewollt hätte, eine tote Viper. Morgens war sie unter meinem Zelt hervorgekrochen und von beherzten Männern ins Jenseits befördert worden, ehe ich die Brille aufgesetzt hatte.

Der Tag kam, als ich zum ersten Mal in den Alpen wanderte und… mein Herz verschenkte. So viel Natur! So viel Freiheit! Je höher ich stieg, umso mehr hatte ich das Gefühl, der erste Mensch auf Erden zu sein.

In der zweiten Tageshälfte bekam ich Kopfweh. Ich war gut gelaufen, hatte aber viel falsch gemacht. Berge sind gnadenlos, geht man nicht richtig mit ihnen um, und man kann sich Ärgeres als Kopfschmerzen einhandeln. Sie forderten meine Hingabe, aber auch meine Vernunft. Dies in Einklang zu bringen hätte ich viel Übung gebraucht, wozu ich selten Gelegenheit hatte, weil zwischen mir und meiner neuen Liebe fünf- bis achthundert Kilometer Luftlinie lagen. Und ich war mit meinen vierzig Jahren schon ziemlich alt. Wie viel Zeit würde mir mein Körper geben?

Keinen Ferientag wollte ich versäumen. Also setzte ich mich zweimal im Jahr in den Zug und fuhr vom Ruhrgebiet in die Alpen, wanderte mit Freunden, Familienmitgliedern, mitunter allein. Es machte Spaß, den Tourenrucksack zu tragen, mich darin zu üben, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, tagelang mit wenigen Dingen auszukommen. Ich lernte, meine Kraft einzuteilen, genug zu trinken, den Kopf zu bedecken, die Karten zu lesen, einen Kompass zu benutzen. Ich stellte mich auf die Berge ein, passte mich an. Zur Belohnung beschenkten sie mich mit ihrer Schönheit und den überbordenden Glücksgefühlen, die mir nach einem Tag der Wanderschaft und der körperlichen Anstrengungen nicht selten die Tränen in die Augen trieben.

Von Sport hatte ich bis zu meiner ersten Bergtour nicht viel gehalten, was natürlich ungünstig war. Dazu kamen meine instabilen Fußgelenke, infektanfälligen Bronchien und eine allgemeine Empfindlichkeit - drei Probleme, die sich bereits in meiner Kindheit bemerkbar gemacht hatten, und die dem Berglaufen entgegenstanden. Ich war aber bereits ein Junkie, auf keinen Fall wollte ich die Füße davon lassen. So sagte ich dem Schweinehund den Kampf an und mit der Zeit ging mein Alltagssport mit dem Laufen in den Bergen eine fruchtbare Allianz ein.

Das Training machte mich stärker, wenn auch nicht in dem Umfang, wie ich es mir gewünscht hätte. Kein Ende des Knöchelverstauchens, aber es passierte seltener. Die Häufigkeit der Bronchidien nahm ab, meine Leistungsfähigkeit im Gebirge nahm zu.

Vierzehn Jahre lang schaffte ich es, die Kurve oben zu halten, dann kippte sie von jetzt auf gleich mit einer akuten Verletzung ab, als der linke Innenmeniskus deutlich spürbar riss. Nach der Athroskopie waren die Schmerzen weg, dafür zeigte sich die Belastungsgrenze des Knies früher. Lange Abstiege waren von nun an gestrichen und es war Schluss mit dem Joggen, das ich schätzen gelernt hatte, das mir nach einem Arbeitstag voller Sozialarbeit den Kopf frei pustete. Mit Walking, Kraft- und Bergauftraining kam ich am besten zurecht und die größtmögliche Konstitution, die ich erreichte, musste genügen.

Ohne Heike hätte es diese Geschichte nicht gegeben.

Es war auf einem Familienfest, als ich mich mit ihr unterhielt. Dass sie sehr nett ist, hatte ich längst bemerkt, doch an diesem Tag liefen, wie es mitunter so ist, Fäden zusammen. Heike erzählte, bis dato noch nie in den Alpen gewandert zu sein, würde es aber gern versuchen.

Endlich war da jemand, der von meinen Bergschwärmereien nicht genug hören konnte! Der, wie ich, ein Faible für Abenteuer und Unvorhergesehenes hatte. Schon bald brachen wir zu einer gemeinsamen Tour ins Unterengadin auf.

Heike - die Schwägerin meiner Schwägerin - entpuppte sich als verlässliche Gefährtin mit positiver Grundeinstellung. So gern sie lachte, so ruhig und konzentriert blieb sie in schwierigen Situationen, und für ihre Grenzen trat sie selbstsicher ein. Dass sie neun Jahre jünger als ich war, schneller gehen konnte und von Kniebeschwerden noch nichts gehört hatte, schien kein Problem zu sein.

Acht Touren später wusste jede von uns, wie die Andere tickt - eine gute Basis für das, was folgen sollte: die Verwirklichung eines Traums.

Man sagt ja, dass Menschen, die tagträumen oder sich in Hirngespinsten verfangen, am Ende enttäuscht sind. Andererseits können Tagträume die Türen zu außerordentlichen Erlebnissen öffnen, die auf dem Boden der Realität fest verschlossen blieben. Mir ist schon klar, dass den meisten Träumen der Weg ins reale Leben versperrt ist. Nie werde ich einen Himalaya-Berg besteigen, nicht mit zehn Sauerstoffflaschen, und den Mt. Blanc-Gipfel werde ich auch nicht betreten. Schlimm finde ich das nicht.

Aber da gab es noch einen Traum, den ich - gottlob - hatte überleben lassen: eine Alpenüberquerung. So abgehoben die Idee zu sein schien, so plötzlich stand sie mir real vor Augen. Ein Traum, der Wirklichkeit werden wollte - ja! und noch mal ja! Es wäre schlimm gewesen, hätte ich das ignoriert. Worauf hätte ich auch warten sollen? Bis aus der Oma eine Uroma geworden wäre? Nein. Ich wollte es jetzt tun.

Als ich meiner Wanderfreundin davon erzählte, klopfte mir das Herz. Würde sie sich darauf einlassen? Nach dem Motto ‚Mitgefangen, mitgehangen‘ bis zum Schluss an der Überquerung festhalten?

Sie ließ sich nicht nur darauf ein, sie fing in Sekundenschnelle Feuer, bat mich allerdings um die Abwicklung der logistischen Vorarbeiten. Nichts wollte ich lieber tun als das.

Noch am selben Tag nahm ich mir eine folgenschwere Frage vor: An welcher Stelle wollten wir die Alpen überqueren? Möglichkeiten gab es viele. Man kann hohe Gipfel überschreiten, sich durch Felswände hangeln, täglich zehn und mehr Stunden gehen und klettern - großartig, jedoch für uns beide ein unmöglicher Akt der Kraft und des Könnens. Man kann sich einer geführten Gruppe anschließen, die schönst Wege servieren lassen - verlockend, aber auch diesmal wollten wir als Duo gehen. Man kann eine deklarierte Fernwanderroute benutzen - naheliegend, und doch nicht das Richtige. Man kann die Wege so kombinieren, wie es wohl noch keiner gemacht hat, sich überraschen lassen, was dabei herauskommt. Das war‘s!

Gespannt schlug ich einen alten Schulatlas auf und sofort sprang mir das von Innsbruck an geteilte Gebirge ins Auge. Wie das Meer, das sich für Moses öffnet, dachte ich. Obwohl der Alpenbogen an dieser Stelle am breitesten ist, verläuft hier die Transitstrecke, die Mitteleuropa mit Italien verbindet. Zudem befinden sich längs der Schneise beliebte Urlaubsgebiete, was vermuten lässt, dass diese Route überlaufen ist. Oder könnte es neben dem Bekannten auch Neues und Überraschendes geben? Womöglich sogar am Brennerpass, der Durchgangsstelle zwischen Zillertaler und Stubaier Alpen?

Zum ersten Mal befuhr ich den Pass als junge Frau auf dem Weg nach Livorno. Ich weiß noch, wie erdrückt ich mich gefühlt hatte von den so nahen und dicht bewaldeten Bergflanken. Unheimlich und unnahbar hatten sie gewirkt, ohne Spuren menschlicher Existenz. Kein Haus, keine Straßen, nur Wald, bis zu den Höhen hinauf, und dahinter, so glaubte ich, würde auch nichts als Wald sein - ein mysteriöses Niemandsland.

Und nun stellte ich mir den Pass noch einmal vor, wie Menschen ihn benutzt hatten, auf Leiterwagen, in Kutschen, auf Eseln und Pferden, mit Säcken auf den Schultern, Schwertern an den Hüften - und oft zu Fuß! Solange, bis er allem, was sich mit Motorkraft bewegt, zu gehören begonnen hatte.

Wer heute über den Brenner laufen will, muss nach anderen Wegen suchen. Wie würden diese beschaffen sein, wie hoch frequentiert? Wer würde dort gehen? Ich kenne keinen, der das jemals getan hätte. Fußgänger zieht es wohl nicht dorthin. Ob das berechtigt ist? Fast vierzig Jahre nach meiner Jungfernfahrt bot sich nun die Chance, das mir fremde Land jenseits des Brenners zu entdecken, mit einer Wanderfreundin an meiner Seite, wie sie offener und neugieriger nicht hätte sein können.

Die Überquerungsstelle war also gefunden, aber wo sollten die Vögel starten und landen? Kaum hatte ich die Frage gestellt, fiel mir auch schon die Antwort ein: Wir würden von Wasser zu Wasser gehen, vom Starnberger See, wo die Alpen noch unangetastet vor uns lägen, nach Bardolino am südlichen Gardasee, wo wir sie in der Gänze hinter uns gelassen hätten. Welch schöner Gedanke!

Die Idee war das eine, das detailgenaue Austüfteln der Strecke das andere. Vierzig örtlich passende Übernachtungsstationen mussten gefunden werden. Einige Male sah ich mich gezwungen, eine favorisierte Wegvariante zu streichen.

Am Ende bildeten neun Wanderkarten den Weg in seiner vollen Länge ab. Heike und ich krochen auf allen Vieren über diese fünfeinhalb Meter lange Papierstrecke, fuhren mit den Händen Wege und Gebirgszüge entlang, zum Beispiel über den Mendelkamm, westlich von Bozen und der Südtiroler Weinstraße. Allein für ihn würden wir drei Tage brauchen.

Mit mal kurzen, mal längeren Abständen zur Hauptverkehrsader sollte die Route auf der westlichen Seite der gezackten Passage verlaufen, die östlich gelegenen Berggruppen der Zillertaler, Sarntaler und Dolomiten würden wir sehen, aber nicht berühren. Zudem hatte ich Abstecher in die angrenzenden Randgebiete des Karwendels, der Stubaier- und Ötztaler Alpen, sowie der Brenta geplant, wobei wir mit beliebten Urlaubsregionen in Kontakt kämen, wie zum Beispiel dem Stubaital, dem Passeiertal, dem Etschtal. Alle diese ‚Umwege‘ würden der Route das Aussehen einer Schlangenlinie verleihen.

Viele Schritte, viel Schweiß. Hätte man mir vor dreißig Jahren prophezeit, dass ich das alles als Sechzigjährige mit angeschlagenem Knie freiwillig auf mich nehmen würde, hätte ich ihm den Vogel gezeigt.

Die Durchquerung sollte sich auf fünf Etappen verteilen, durch Bayern, Tirol, Südtirol, Trentino und Venetien. Ein Durchmarsch hätte mit einigen Pausentagen bei dieser Streckenvariante bis zu sieben Wochen gedauert, nicht vereinbar mit unseren Familien, und mit unseren Berufsleben auch nicht. Weder Heike noch ich sahen uns in der Lage, den vollen Jahresurlaub aufzuzehren. Dass es Leute gibt, die die Strecke erheblich schneller laufen könnten, wussten wir natürlich. Aber was hatte uns das zu interessieren? Wir würden unser Tempo gehen, kein anderes, und es zählte nur, dass wir uns auf den Weg machten.

Die größte Herausforderung meiner Planungen war, Abstiege zu vermeiden. Zur Schonung der Knie würden wir, soweit vorhanden, Seilbahnen und andere Hilfsmittel benutzen. Trotzdem blieben noch grob geschätzte fünftausend Höhenmeter übrig, die wir zu Fuß gehen müssten. Und welche Rolle würde das Wetter spielen? Auf keinen Fall eine verhindernde. Gehen kann man nämlich immer. Wenn nötig, würden wir Wege umplanen und anpassen.

Früh hatten wir die Quartiere der ersten Etappe reserviert. Heike und ich wissen, wie es sich anfühlt, kein Dach überm Kopf zu haben, oder so lange laufen zu müssen, bis man eines hat. Die Vorbestellungen bewahrten uns davor, zwangen uns aber auch, jedes Quartier zu erreichen. Meine Zeitplanungen mussten aufgehen!

Eine große Oper beginnt mit einer unvergesslichen Ouvertüre. In unserem Fall mit einer Bootsfahrt über den sich von Nord nach Süd erstreckenden Starnberger See. An seinem Südufer würden wir den ersten Schritt tun. Dann alle weiteren, über Schlehdorf und Wallgau nach Mittenwald, unterbrochen von zwei Schwenkern in die Bergeshöhen.

Alles war vorbereitet. Und doch wurde ich das Gefühl nicht los, dass noch etwas fehlte.

Eines Morgens - ich saß gerade beim Kaffee und ließ meine Gedanken wie üblich frei im Raum umherschwirren - fiel es mir ein. Wir brauchten ein Kraft gebendes Symbol, einen Stein! Auf Steinen würden wir gehen und uns ausruhen, wir würden sie berühren, bewundern, betrachten. Sie würden uns Schatten spenden, Schutz bieten, uns herausfordern, sie zu überwinden. Es ist gut, sich mit Steinen zu umgeben, denn ihre Symbolkräfte sind zahlreich, darunter Zusammenhalt und Weisheit. Als ich darüber nachsann, wo wir nach unserem Kraftstein suchen sollten, wusste ich sofort, dass er im Starnberger See auf uns wartete.

Und in Bardolino? Was könnten wir da mit ihm anstellen? Ich lachte laut auf. In den Gardasee werfen! Was sonst? Er würde von einem See in den anderen umziehen, auf einer, im Leben eines Steins, ungewöhnlichen Reise. In den Wartezeiten zwischen den Etappen wäre er das Bindeglied und gleichzeitig würde uns das Versprechen, ihn nach Bardolino zu tragen, verpflichten, die Überquerung auf jeden Fall zu vollenden.

Tage später hatte ich den Einfall, ihn mit einer Eule zu bemalen. Es könnte nicht schaden, mit doppelter Weisheit ausgestattet zu sein. Dass Eulen als Vögel der Nacht auch für den Tod stehen, interessierte mich nicht. Für düstere Gedanken war in meinem Ideentaumel kein Platz. Stein und Eule, vereint zum Eulenstein - das gefiel mir!

Und Heike? Sie ließ mich taumeln. Etwas Neues stürzte auf sie zu wie ein rauschender Gebirgsbach und sie war bereit, hineinzuspringen.

Von meinem Kollegen Hermann erntete ich einen wehmütig-spöttischen Blick. Am nächsten Morgen fand ich auf meinem Schreibtisch einen von ihm signierten Felsbrocken vor. Den sollten wir mitnehmen.

Lieber Hermann, dein Fünf-Kilo-Präsent ist prima, erinnert es mich doch an ein Märchen, dessen Botschaft mich schon damals beeindruckt hatte. Es erzählt vom (scheinbar) einfältigen Hans, dem sein letzter, ihm verbliebener Besitz - ein schwerer Schleifstein - ins Wasser fiel und auf immer verschwand. Er hätte seinen Verlust beklagen können, stattdessen sah er das Malheur als Glücksfall an: Und ging mit leichtem Herzen und frei von aller Last dann fort…

Zu Hause habe ich eine Bergegedenkwand mit Dingen, an denen mein alpenverrücktes Herz hängt, außer Fotos und Steinen eine Ziegenglocke, ein zerbrochener Kompass, Tannenzapfen, Vogelfedern - und Hermanns Stein. In diesem Sammelsurium spielt er seine eigene Rolle, erzählt vom Ballast, den wir Tag für Tag mit uns rumschleppen, und der abgeworfen sein will, wenn er dem Glück im Wege steht.

Bald sollte dort auch der Eulenstein liegen und auf seine nächsten Einsätze warten, bis wir uns nach vier Jahren von ihm trennen müssten. Im Geiste sah ich Heike und mich im Hafen Bardolinos am Kai sitzen: Feierlich gestimmt halten wir den Atem an, wenn unser Begleiter… mit leisem Plopp im Wasser verschwindet.

Ein bayrischer Dirigent, Auftakt im Klang der Farben

Gott mit dir, du Land der Bayern, Heimaterde, Vaterland! Über deinen weiten Gauen walte seine Segenshand! Er behüte deine Fluren, schirme deiner Städte Bau und erhalte dir die Farben des Himmels: weiß und blau.

Joseph Maria Lutz, 1. Strophe der Bayernhymne

Der ‚leise Plopp‘ in Bardolino - konnte er wirklich unser Ziel sein? Immerhin gab es haufenweise Unwägbarkeiten, auf dem Weg, und in den Zeiten dazwischen - vier Jahre sind lang! Ziele hatten wir auch so genug: Dörfer, Wegweiser, Aussichtspunkte, Brotzeitplätze, viele Tages- und Etappenziele. Der weit entfernte ‚Plopp‘ schien mir doch eher eine Vision zu sein. Eine herrliche, wenn auch skurrile Vision.

Ob wir Ziel für Ziel, und am Ende Bardolino, erreichen würden, stand in den Sternen, die ich gerne befragt hätte, so begierig war ich zu wissen, ob wir jemals in dem Gardasee-Ort eintreffen würden. Ich war ungeduldig wie eine Köchin, die ein aufwändiges Menu in zwei Minuten brutzeln will. Deutlich spürte ich, dass dieser Weg über Kraft und Gesundheit, Leidenschaft und Vernunft hinaus, auch Geduld und Gelassenheit verlangte.

Als wir am Nachmittag eines späten Augusttages in Starnberg den Zug verließen, fror ich. Noch heute kann ich den Wind und die beißende Kälte spüren. War es wirklich Sommer? Die Sonne schien grell, zugleich erstaunlich kraftlos. Dafür schuf die ungetrübte Himmelsweite die Illusion, als wäre das All nicht schwarz, sondern über die Atmosphäre hinaus sternenlos blau.

In Starnberg gibt es ein Restaurant mit schönen Seeterrassen. Für das erste Abendessen hätten wir uns keinen besseren Ort vorstellen können. Doch heute stand das Mobiliar verlassen da, die verschnürten Sonnenschirme wie frierende Menschen, die die Arme fest um den eigenen Körper schlingen.

„Dann wollen wir mal rein gehen“, sagte Heike ergeben.

Ich sehe noch den Teller vor mir stehen, rieche den Duft der gebratenen Pfifferlinge, schmecke die Himbeeren im Rapunzelsalat, den Wein aus Bardolino. Zahllose Kerzen ersetzten das elektrische Licht, die Flammen flackerten und wärmten, spiegelten sich in Glas und Silber. Wie magisch sich diese Abendstunden anfühlten! Inmitten des vollbesetzten Lokals kamen wir uns wie Verschwörerinnen vor.

Schritt für Schritt würden wir nach Bardolino laufen, Atemzug für Atemzug. All die roten Linien in den Wanderkarten schienen an diesem Abend geheime Wege zu sein, die noch nie ein Fuß berührt hatte.

Die nächsten Gäste kamen, wir mussten den reservierten Tisch hergeben. Da es noch hell und zu früh zum Schlafen war, beschlossen wir, die Not zur Tugend zu machen und den Stein zu suchen.

Bald hatten wir die gesamte Seepromenade abgelaufen. Steine gab es viele, doch jeder war mit akribischer Sorgfalt in die Wasserkante eingemauert. Also würden wir unseren Weggefährten woanders suchen müssen. Aber wo?

Beim Zurückgehen hielten lilafarbene Malven meinen umherschweifenden Blick fest. Ihre Blütenblätter sahen wie Schmetterlingsflügel aus, die im Wind zitterten und bebten. Alles wirkte so intensiv, ja, geradezu eindringlich. Auch der Anblick der blauen Berge, etwa dreißig Kilometer entfernt.

Erster Tag. Bayernspiel in Blau.

Sonntagmorgen, halb neun. Starnberg schlief noch. Wir dagegen, betankt mit Tatendrang, eilten zügigen Schrittes durch die Zeit, auf leeren Straßen zum Bootsanleger, wo das Schiff auf die erste Fahrt des Tages wartete. Ich sehe uns noch Brötchen im Bäckerladen kaufen, gleich neben dem Steg.

Außer uns gab es keine Fahrgäste, dafür hockte auf dem Geländer der Anlegebrücke ein Möwenverabschiedungskomitee. Beim Ablegen flogen einige der Vögel auf und umkreisten schreiend das Boot.

Lichtblauer Himmel, eisblaues Seewasser - wie ein Vermächtnis des Würmsee-Gletschers, der hier während der Eiszeit das Land bedeckt hatte. Tintenblau auf weißer Schiffsbank: Heikes Rucksack. Ich war froh, diese Kleinausgabe des Turms von Pisa nicht tragen zu müssen.

Schweigend standen wir am Heck, während sich die Uferpromenade von Starnberg entfernte. Das letzte, was wir von unserem Startpunkt sahen, war die vom Morgenlicht übergossene Seeterrasse mit ihren orangefarbenen Schirmen, die nun wie in der Luft hängende, ausgepresste Apfelsinenhälften aussahen. Jemand hatte sie in der Erwartung eines warmen Tages aufgespannt.

Ich begann über den Stein nachzudenken. Nachdem der See in Starnberg keinen hergeben wollte, blieb jetzt nur das Südufer in Seeshaupt. Was, wenn auch dort die Ränder befestigt waren? Dann müssten wir ihn im tieferen Wasser suchen. Nur wie? Erstens hatte ich kein Badezeug mit, zweitens war der See sibirisch kalt und drittens kann ich nur mit Gewicht um den Hals tauchen. Ob Heike das übernehmen könnte? Robust ist sie ja, auf Berghütten schreckt sie vor einer Kopfwäsche mit Gletscherwasser nicht zurück.

Ich beschloss, die Intensivierung der Steinsuche erst anzusprechen, wenn sich die Notwendigkeit stellte.

Am Anleger Possenhofen stieg ein junges Paar zu. Es nahm drei Reihen vor uns Platz und sofort begannen sich die Beiden, eng aneinander geschmiegt, zu küssen. Gerade wollte ich meinen Blick abwenden, als er am Nacken des Mannes hängen blieb. Lang und aufrecht, mit einer tiefen Rille in der Mitte, hatte er etwas vom Grand Canyon, durch den der Colorado fließt. Ich spürte genau, wie sich das Bild dieses Nackens ganz von selbst in den Speicher meines Langzeitgedächtnisses schob.

Während das Boot zwischen Ostufer und Westufer hin und her pendelte, schaute ich immer wieder nach Süden. Das Gebirge stieg nicht allmählich an, es erhob sich abrupt, ein Bollwerk aus Bergen, zu beiden Seiten scheinbar endlos lang. In der Tat bilden die Alpen einen tausendzweihundert Meter langen Felsgürtel, der sich um die Taille Mitteleuropas schlingt. Mit jeder Haltestelle steuerten wir näher darauf zu.

Ich faltete die Karte auf. Links lugten die Gipfel des Karwendels über die Benediktenwand, vorne rechts zeigte sich der Herzogsstand, dahinter die Spitzen des Wettersteingebirges, einschließlich der Zugspitze.

Die Zackenkontur des Alpenrands schärfte sich zusehends, das Gebirge nahm eine Palette von Blaunuancen an. Auf den Spitzen leuchtete stahlblauer Schnee, links des Herzogstands klaffte das dreieckige, schwarzblaue Tor, durch das wir die Alpen betreten wollten. Zu Füßen der Berge verbarg sich Schlehdorf am Kochelsee, wo wir das erste Quartier reserviert hatten.

Als die Anlegestelle Tutzing hinter uns lag, beschäftigte mich wieder der Stein. Wenn Seeshaupt eine Promenade hatte, müsste eine von uns tauchen, koste es was es wolle. Oder wir würden solange am Ufer entlanglaufen, bis es unbefestigt wäre. Dieses Problem hatte etwas Groteskes an sich.

Endlich hielt das Boot auf den Anleger zu. Gleich daneben lag eine kleine unbefestigte Bucht. Alles gut. Dort würden wir nach ihm suchen.

Familien schoben lachend ihre Drahtesel aufs Schiff, wir marschierten auf den Strand zu. Schon hatte ich die Hosenbeine hochgekrempelt, Schuhe und Socken von mir geworfen, fest entschlossen, dieses Kälteopfer zu bringen.

Gänsehaut kroch von den Füßen zum Hals, der See war so eisig, wie ich es mir vorgestellt hatte. Aber unter dem flachen, klaren Wasser lagen Steine wie im Glaskasten eines Museums. Algengrün und mickrig sah einer wie der andere aus. Die Symbolkraft, die sie verbreiteten, war keine sonderlich gute. Nichtsdestotrotz griff ich viermal ins Wasser und trug meine Auswahl ans Ufer, wo Heike sofort mit der Begutachtung begann.

„Guck mal dieser hier“, sagte sie und hob eines der fragwürdigen Exemplare auf, „seine Form gefällt mir.“

Ein streichholzschachtelkleines Leichtgewicht aus Kalk. Ein Miniberg mit Gratkante. Ich ging noch mal zum Wasser und wusch die Patina ab. Nun waren Risse zu sehen und eine hübsche weiße Marmorierung, was ihm etwas Charaktervolles verlieh, und ja, auch Liebenswertes.

Das war er also. Diesen Stein würden wir durch die Berge tragen und ihn in Bardolino dem Gardasee übergeben. Mir steckte ein Kloß im Hals, als wir mit ihm redeten, ihm Seele einhauchten - oder hatte er schon eine? Er sollte wissen, dass große Aufgaben auf ihn zukamen, dass er daheim zum Eulenstein umgestaltet und fortan ein Anderer sein würde.

Der Stein lag da, hörte zu und - wie sehr hatten wir ihn unterschätzt! - verströmte eine erstaunliche Symbolkraft.

Während ihn Heike auf seinem karierten Tüchlein ablichtete, lief ich hin und her, um die Füße zur Schonung meines einzigen Handtuchs an der Luft zu trocknen. Dann wickelten wir unseren Gefährten ein, verschnürten und verstauten ihn in der Seitentasche meines Rucksacks, bei den Blasenpflastern und Taschentüchern.

Was noch blieb, war die Tagesetappe von achtundzwanzig Kilometern. Ganz schön viel, wenn im Körper, wie bei Heike, statt Energie Blei ist. Sie hatte in letzter Zeit zu viel gearbeitet und den Sport vernachlässigt. Im Herzen spürte sie dasselbe heilige Gefühl wie ich, als wir ihn vollzogen: den ersten Schritt.

Nachdem Seeshaupt hinter uns lag, dauerte es nicht lang, bis das Weidfilz, die Moorlandschaft der Osterseen, begann. Den Himmel schmückten verstreute weiße Wölkchen, immer noch lag über allem ein zartblauer Ton.

Der Lehmpfad, auf dem wir gingen, schlängelte sich durch Wiesen, die sich den weit hinten liegenden Laubwäldern zuneigten. Einzelne Bäume säumten den Weg, in den Kronen flötete und pfiff es.

Starnberger See- im Hintergrund der Alpengürtel

Der Stein der Steine

Ich blieb stehen und horchte: keine durch Mensch und Maschinen verursachten Geräusche mehr. Nur die Vogelstimmen und die meines eigenen Körpers - das Ein- und Ausströmen des Atems, das taktmäßige Schlagen in der Brust, der schon lange zu meinem Leben gehörende, sirrende Ton im linken Ohr.

Als ich mich umdrehte, sah ich Heike lächeln. Ich wusste, was sie empfand. Das mühelose Gehen in dieser sanften Landschaft war wie eine Ayurveda-Massage, genau das, was sie heute brauchte. Ich reckte die Arme, stieß einen Jauchzer aus und da hörte ich sie: Geigenklänge in azurblau! Das Glück spielt Violine, dachte ich, und ich sitze ganz vorn im Konzertsaal. Der Zeitdruck, das durchgeplante Leben - alles fortgezwitschert, weggespielt!

Gartensee, Lustsee, Ursee - schöne Namen tragen die ‚Tränen des Starnberger Sees‘, kleine Wasser, die einsam in den Mooren liegen. Viele der neunzehn Seen so versteckt, dass man sie nicht sieht. Andere kann man aus der Ferne betrachten, dazwischen steht die sumpfige Undurchdringlichkeit des Moores. Wir liefen ein wenig erhöht, sodass unsere Blicke weit zu den bizarren Gestalten uralter Moorkiefern schweiften, zu den stillen Tränen, die die Flügelschläge auffliegender Kraniche und Gänse aufwirbelten.

Grund zum Weinen gab es heute nicht, im Gegenteil. Doch wenn ich mir graues Wetter vorstellte, Regen, Nebel über den Mooren… Schwermut würde mich erfassen und ein Schaudern angesichts der geheimnisvollen Sümpfe, in denen es von lebenden und toten Geschöpfen wimmelte.

Selten führten Wege direkt am Wasser entlang. Der Ostersee bildete eine der Ausnahmen. Zu seinen Ufern fielen sanfthügelige Wiesen ab, auf denen sich Ausflügler tummelten.

Wir beschlossen, dort zu rasten, wo uns zwei Ponys mit pelzigem Fell und dicken Mähnen die Köpfe hinstreckten.

Weiche Nüstern auf der Innenseite meiner Hand - das Gefühl versetzte mich in meine Kindheit. Als Mädchen konnte ich Pferde stundenlang betrachten und zeichnen. Mir fielen wieder die Blauen Pferde des bayrischen Malers Franz Marc ein, nach deren Vorbild wir im Kunstunterricht gemalt hatten. Es ist verrückt, warum bleiben solch scheinbar unbedeutenden Dinge so nachhaltig in der Erinnerung haften? Ich sehe mich noch vor meinem Malblock sitzen, sehe mich den Pinsel in die Farbe tauchen, die Wellenlinie des Pferderückens mit schwungvoller Bewegung der Hand auf das Papier bringen.

Wenn ich groß bin, werd‘ ich Bauer und schenk‘ dir ein Pferd, hatte mein kleiner Bruder großherzig versprochen. Es kam anders, er wurde Soldat. Ich träumte weiterhin meine schönen Pferdeträume.

Später passierten wir den schmalen Landstreifen zwischen Ostersee und Fohnsee. Iffeldorf blieb linkerhand zurück, was bedeutete, dass wir das Ende der kleinen Seenplatte erreicht hatten. Nun ging es auf breitem Weg Richtung Antdorf. Als das Dorf hinter uns lag, standen wir an der T-Kreuzung einer Landstraße, die zu beiden Richtungen weitläufig nach Süden führte.

Warum eine lange Asphaltstraße nehmen, wenn es einen angenehmen und direkten Grasweg gibt? Der diente allerdings nur der Landwirtschaft und endete nach zweihundert Metern an einem Hügel. Nach Adam Riese konnten dahinter nur Frauenrain und Dürnhausen liegen. Den beiden Ortschaften würde der Königsberg folgen, die Gemeinde Großweil und schließlich Schlehdorf.

Also erklommen wir den Hügel.

Wiesen. Nichts als saftige, grüne Wiesen. Darüber der Himmel, blau und weit. Der Hügel war unerwartet großflächig. Und wo war Frauenrain? Wir standen mitten im Blauen Land, wie Franz Marc es getauft hatte, im Pfaffenwinkel, jenem idyllischen Bayernland zwischen Lech und Loisach, wo nicht nur ein Hund begraben ist.

Jemand beobachtete uns.

Rinder. Alle sieben stierten reglos herüber, was beunruhigend war, weil es zwischen ihnen und uns keinen Zaun gab. Wozu auch? Normalerweise sind sie hier oben unter sich. Ich kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, was sich unter den Bäuchen befand. Meine ausgeprägte Kurzsichtigkeit hebt auch die Brille nicht ganz auf.

„Heike, sind das Kühe?“

„Sie haben keine Euter und überhaupt sehen sie nicht wie Kühe aus.“

„O Gott, dann sind das wohl… Bullen? Guck mal genau nach.“

„Unter den Bäuchen ist gar nichts.“

„Nichts? Wie ist das denn möglich?“

Im Engadin hatten wir mal eine Almwiese queren müssen, wo man am Zauntor ein Schild mit der Aufschrift ‚Vorsicht, freilaufende Bullen!‘ befestigt hatte. Es war zwar keiner zu sehen gewesen, aber die Warnung hatte uns gehörig Angst eingejagt. Und hier war es wohl besser, wenn wir uns nicht mehr rührten, was ich allerdings nicht lange aushalten würde.

Die Rinder indessen standen wie im Bild fixiert. In der Kunst des reglosen Starrens sind uns Tiere weit überlegen, im Laufen meistens auch. Beladen, wie wir waren, könnten sie uns auf dieser holprigen Wiese über den Haufen rennen, noch bevor wir bis zehn gezählt hätten. Es sei denn, wir ergriffen die Chance zur klug eingefädelten Flucht.

Vorsichtig die Lage sondieren… Nach rechts neigte sich der Hügel etwas ab, weiter unten war ein Draht zwischen Pfosten gespannt. Gelangten wir dorthin, würden wir aus ihrem Gesichtsfeld verschwinden. Also setzten wir uns im Zeitlupentempo in Bewegung, rückwärts, um meinen roten Rucksack zu verbergen. Dann gaben wir Gas - damals war ich noch dazu fähig - und stolperten längs des Drahtes über die zerfurchte Weide.

Bald darauf fanden wir uns oberhalb eines Hangs wieder, von wo wir auf ein kleines Nest verschlafener Gehöfte blickten: Frauenrain! Schon lag Heike mitsamt Rucksack am Boden, um unter dem Draht hinweg zu kriechen. Als auch ich das Manöver hinter mich gebracht hatte, glaubten wir, ihnen entwischt zu sein, aber da sahen wir sie: Mit Beinen wie einbetoniert, ohne Euter oder Penisse, starrte eine neue Rindergruppe herüber.

Sollten sie uns niederrennen, hätten wir selber Schuld, dachte ich. Und was würde der Bauer tun, entdeckte er uns auf seinem privaten Weidehügel? Bloß ausschimpfen oder mit der Flinte vertreiben? Viele Landwirte sind Jäger und Besitzer von Waffenscheinen, jedoch befanden wir uns im Pfaffenwinkel, wo es vor Klöstern, Kirchen und Kirchlein wimmelt und die Leute fromm sind.

Vorsorglich legte ich mir eine Ausrede zurecht: Entschuldigen Sie bitte, wir kommen aus der Stadt. Offene Weiden kennen wir nicht und eine Kuh ist bei uns eine Kuh. Bullen stehen im Ruhrgebiet grundsätzlich im Stall.

Am Fuß des Hügels gab es noch einen Zaun und die Straße, die wir an der Kreuzung verschmäht hatten. Sie lief direkt auf Frauenrain zu.

Bald lagen alle echten und unechten Gefahren hinter uns, aber der Spurt über den Rinderhügel hatte uns geschafft. Was waren sie denn nun, männlich oder weiblich? grübelte ich, eines von beiden werden sie doch gewesen sein. Was bin ich eine Niete in Sachen Landwirtschaft.

Mangels Sitzgelegenheiten ließen wir uns im Schatten eines Baumes auf der Straße nieder und erörterten den weiteren Wegverlauf, der gefahrlos und erlaubt sein sollte, was ortskundige Beratung erforderte. Hier tauchten aber weder Fußgänger noch Radfahrer auf, und da es Sonntag war, auch niemand, der im Freien arbeitete. Nichts störte den friedlichen Schlummer Frauenrains.

Also erhob ich mich und ging zum nächsten Bauernhof hinüber.

Ein Mann im Unterhemd öffnete. Über seine enorme Bauchkugel spannten sich Hosenträger wie Möbeltragegurte. Obwohl ich ihn vermutlich bei seiner nachmittäglichen Tasse Kaffee gestört hatte, gab er mir freundlich Auskunft.

Unser Straßenlager war der ideale Ausgangspunkt für Grashügel Nummer Zwei, Überquerung diesmal ausdrücklich genehmigt.

Kein Rind, kein Mensch. In der folgenden Stunde hatten wir es ausschließlich mit den grünen Wiesen und der heißen Sonne zu tun. Heike schwächelte mittlerweile erheblich, wir freuten uns auf eine Rast mit Kaffee und Kuchen.

Dürnhausen!

Fünf Minuten dauerte es, den Ort abzuklappern. Auch hier nur Wohnhäuser, Bauernhöfe, menschenleere Gärten, autofreie Straßen.

Doch da hörten wir plötzlich lautes Lachen. Es kam aus dem geöffneten Fenster einer Feuerwache. Heike hockte sich auf eine Mauerkante, ich klopfte an und trat ein.

Sechs Männer saßen beim Bier um einen Tisch herum, die jetzt die Köpfe zu mir drehten und die Augen aufrissen. Meine Erscheinung verschlug ihnen glatt die Sprache, das Gelächter erstarb für den Moment. Ich schüttelte das ab und stellte meine Frage, die trotz ihrer Harmlosigkeit wieder Leben in die Herrensitzung brachte. Lachend packte man die Humpen, setzte an, und die Adamsäpfel hüpften auf und nieder.

Als der Schaum von den Lippen gewischt war, stießen zwei der Kerle kräftig auf. Die anderen rülpsten dezenter, mit aufgeblasenen Backen und dem Kinn auf der Brust.

„Dürnhausen ist eine Bauernschaft, hier gibt es keinen Gasthof. Ha ha ha!“

„Okay, und wo genau beginnt der Weg über den Königsberg?“

„Was? Da wollt ihr rüber? Ihr werdet euch im Wald verlaufen.“

„Wir kommen schon klar.“

„Na, da sei dir mal nicht so sicher. Ihr könntet unter die Räuber fallen…, obwohl es die in Bayern gar nicht gibt.“

Ein Feuerwerk von Insiderblicken, das Gelächter noch herzhafter, Fäuste, die auf die Tischplatte donnerten.

Warum eigentlich hauen bayrische Männer so gern auf Tische, warum rülpsen sie ständig? Wär‘ ich doch Bibi Blocksberg! Ene mene merle, Frösche sei‘n die Kerle, ene mene Schnabel wetzen, Störche soll’n sie hetzen!

Während ich mir diesen Spaß vorstellte, starrten sie mich so nachhaltig an wie es die Rinder auf dem Hügel getan hatten. Irgendetwas an mir irritierte sie. Ich wollte lieber nicht wissen, was.

Der Wald schreckte mich nicht, aber angesichts unserer Müdigkeit und der fortgeschrittenen Tageszeit konnten wir nicht wagen, uns zu verlaufen. Was wir keineswegs streichen wollten, war Kaffee. Den würden wir im Gasthof ‚Zur Post‘ in Sindelsdorf bekommen. Dreißig Minuten längs der Straße, bis zum Dorfzentrum.

„Und wo ist eine Bushaltestelle?“

„Die ist gleich da vorn. Der nächste Bus kommt Morgen, wenn ihr so lange warten wollt… ha ha ha!“

Heike wäre am liebsten auf ihrer Mauer sitzen geblieben.

„Auf, Wanderschwester! Im Verhältnis zu Dürnhausen wird das größere Sindelsdorf eine Großstadt sein. Wenn es dort Kaffee gibt, gibt es auch Busse.“

Eine knappe Stunde später waren wir da und Heike am Ende ihrer Kraft.

Ausgestorbene Straßen! Tote Hose in der Großstadt Sindelsdorf. Lass den Gasthof geöffnet sein, lieber Gott, bitte! betete ich auf dem Weg dorthin, wenn Du uns lieb hast, schenkst Du uns Kaffee und frisches Wasser.

Er hatte uns lieb. Doch was den Bus betrifft, hatte ich leider versäumt, ihn ins Stoßgebet mit einzubeziehen.

„Sonntags ruht der Busverkehr.“

„Aber wir müssen unbedingt nach Schlehdorf. Heute!“

„Ja, sicher, aber es fährt trotzdem kein Bus.“

„Dann hätten wir gern ein Taxi.“

„Nach Sindelsdorf kommt keines raus. Jedenfalls nicht sonntags.“

„Das kann nicht sein. Taxis fahren überall hin, wo man sie braucht.“

„Nicht nach Sindelsdorf.“

Gott schuf den Sonntag, damit wir uns ausruhen. Wenn man einen Ort hat, wo man sich ausruhen kann. Heikes Augen blickten leer, unser weiteres Glück hing nun allein von mir ab. Auf der Suche nach Hilfe fielen mir auf der anderen Straßenseite vier Jungen auf, die dort mit ihren Fahrrädern standen und debattierten.

„Hey Jungs, kennt ihr jemanden, der uns nach Schlehdorf fahren könnte?“

„Nein, keinen, klaut euch doch Fahrräder, ha ha ha!“

„Okay, ich fang mit euren an!“

Weg waren sie. Also würde ich ein Auto anhalten müssen, was ich noch nie getan hatte. Oder sollte ich gleich einen Krankenwagen für Heike rufen? Ob der sonntags nach Sindelsdorf führe? Wie ist es nur möglich, dass soviel Wanderfreude in soviel Frust umschlagen kann?

Gerade wollte ich den Daumen rausstrecken, als uns ein alter Herr auf seinem Dorfspaziergang über den Weg lief. Sein Name war Schorsch. Und ab jetzt überschlugen sich die Ereignisse.

„Von Seeshaupt kommt ihr? Donnerwetter! Ich hab kein Auto, aber helfen kann ich euch trotzdem. Kommt mit!“

Ich sah noch in Heikes Pupillen zwei Lämpchen der Hoffnung aufflackern, da mussten wir uns sputen, den davon stürmenden Senior einzuholen, der schon bald an der Tür eines schönen Bayernhauses klopfte.

Ein rotbäckiger Mann öffnete, hörte sich die Sachlage an, die ihm Schorsch hastig darlegte, und wiederholte: „Von Seeshaupt? Donnerwetter!“

Michael hatte alles, was wir brauchten: ein Auto, einen Führerschein, Entschlussfreudigkeit und beste Ortskenntnisse. Bevor es losging, setzte er sich seinen gamsbartgeschmückten Jägerhut auf. Fünfzehn Minuten später hielt er in Schlehdorf direkt vor der Pension.

„Ha ha ha! Von wegen Wandern, ich hab das Auto abfahren sehen!“

Unser Pensionswirt offenbarte sich gleich an der Tür als Scherzkeks und über den Rest des Tages verteilt wiederholte er seinen Spaß noch sechsmal. Seine Gattin ließ ihn quasseln und gab uns, was wir dringend bedurften: bequeme Betten und die Empfehlung eines Lokals, das quasi vor der Haustür lag.

Ich bestellte Haxensulz, Röstkartoffeln und Weinschorle. Heike ließ sich Salat und Kräutertee bringen. Meine robuste Wanderschwester war empfindlich angeschlagen. Noch nie sei sie nach einem Wandertag so fertig gewesen, sagte sie. Dies nach einem Weg ohne Anstiege.

Bardolino war weit weg, weiter weg als der Mond.

Zweiter Tag. Der Klang des Alphorns.

Am Morgen hätte Heike immerhin schon junge Bäume ausreißen können. Bardolino war so weit weg wie am Vortag und ihr Rucksack nachwievor der kleine Bruder des Turms von Pisa, aber sie blickte wieder fröhlich in die Zukunft. Und ich war geradezu euphorisiert. Wir befanden uns exakt am Alpenrand und heute würden wir uns den ersten Aufstieg vorknöpfen, tausend Höhenmeter bis zum Herzogstandhaus. Am Tagesende sollte es mit der Standseilbahn hinunter zum Walchensee gehen, wo wir übernachten würden. Bevor wir aufbrachen, holte unser Pensionswirt das Letzte aus seinem Spaß heraus: „Immer fein laufen! Ich kenn hier Hinz und Kunz. Wenn ihr das Auto nehmt, bring ich’s raus. Ha ha ha!“

Wir gelangten an den smaragdgrünen Kochelsee, den man genießen sollte, solange es ihn gibt. Alljährlich verlandet ein Stück seiner Ufer. Es entstehen neue Moorlandschaften und in ferner Zukunft wird er, wie die Eiszeit, die ihn hervorgebracht hatte, geologische Geschichte sein.

Schon bald verließen wir das Seeufer und schwenkten in ein schmales Straßenband ein, das sich durch ebene Wiesenflächen gen Süden zog. Dann driftete es nach rechts und setzte sich als ansteigender Forstweg fort. Nach einigen Kehren tauchte das Wegschild zum Pionierweg auf.

Der erste Gebirgsweg!

Kräftig ging es bergan. Lichtdurchsprenkelter, wildwachsender Mischwald, Pflanzen, die den Boden überwucherten, entwurzelte Bäume, die uns am Fortkommen hinderten - hier war man selten unterwegs. Nach rechts fiel es steil ab, nach links stieg es steil an, also mussten wir, wie einst die Pioniere, über die Baumstämme klettern oder drunter wegkriechen.

Nach vierhundert erklommenen Höhenmetern ein erster Ausblick nach Norden, auf das hügelige, grüngemusterte Bayernland. Nach Nordwesten lagen der Staffel- und der Riegsee, zu unseren Füßen der Kochelsee, der Starnberger See nur durch einen dünnen Landstrich vom Horizont getrennt. In diesem Bild dominierte ein großer schwarzer Fleck: der Königsberg. Sein Wald das ideale Revier für Räuber und Wegelagerer, die es allerdings, wie wir erfahren konnten, in Bayern nicht mehr gibt.

Dann war da noch eine Ahnung von Sindelsdorf zu erkennen, deutlich Schlehdorf und Großweil, durch die uns Michael kutschiert hatte. Das Weidfilz mit den Osterseen verdeckte der Königsberg.

Nach vorsichtigem Abstieg auf abgebrochenem Wegstück gelangten wir an einen kleinen Wasserfall. Die erste Rast im Gebirge, das erste Quellwasser in unseren Händen.

Soeben hatte ich Heike mit ihrem Rucksack neben einem Hinkelstein abgelichtet, als der Pionierweg auf einen Forstweg stieß und ein Pärchen fortgeschrittenen Alters elastischen Schrittes die Straße herunter kam. Wir blieben stehen und plauderten ein bisschen.

Rudolf und Christel waren jeden freien Tag im Gebirge unterwegs. Aus ihren kurzen Hosen schauten ausgesprochen stramme Wadenbeine heraus. Ehe wir uns versahen, kamen wir auf das Thema Klettersteige zu sprechen.

„Die geh ich nicht“, sagte Heike, „ich hab Höhenangst.“

„Höhenangst… ja und? Die muss man doch nicht für alle Zeit behalten, man kann was dagegen tun“, wandte Rudolf ein.

„Was denn?“ wollte ich wissen und nahm gleichzeitig wahr, wie sich Heikes Miene verschloss.

„Nicht über die Höhe nachdenken. Fixpunkte suchen, die optisch Halt geben. Konsequent auf den Tritt achten und erst die Gegend anschauen, wenn man sicher steht. Wer nicht fallen will, wird auch nicht fallen.“

Ähnlich hatte sich mal ein Hüttenwirt in der Schweiz geäußert: Wenn du fällst, bist du weg. Also gehst du so, dass du nicht fällst.

Ich mag Ratschläge, die so schlicht und genial sind! Deshalb hing ich an Rudolfs Lippen und hörte mir an, was er über Simse, ausgesetztes Gelände, Eisenleitern und Tiefblicke zu sagen hatte, und was Christel eifrig bestätigte.

Heike schwieg. Für sie war Rudolf eine Art Gebirgsscientologe, dem ich im Begriff war, freudig ins Netz zu flattern. Wie oft sie noch - freiwillig! - ihre Höhentoleranz herausfordern würde, konnten wir uns beide nicht ausmalen. Tatsächlich ist die Akzeptanz gegenüber Höhen, beziehungsweise Tiefen, trainierbar, eine Frage der Gewöhnung und der erworbenen Trittsicherheit.

Unsere Bekanntschaft flog weiter bergab, wir stiegen die Abkürzung hinauf, von der sie gekommen war. Heike ging entschlossen und zügig voran, obwohl sie ihre Fitness noch nicht ganz erreicht hatte. Wahrscheinlich wollte sie sich so weit und so schnell wie möglich von Rudolf entfernen.

Die Landschaft lichtete sich, Almwiesen lösten den Wald ab, der Himmel hatte sich, ohne dass wir es bemerkt hatten, zugezogen und ich spürte schon erste kalte Tropfen auf der Haut.

Von hier an wird man feststellen, dass ich gern über Kühe spreche, diese klar identifizierbaren, mütterlichen Rinder voller Wärme, Kraft und Gutmütigkeit. Mir geht stets das Herz auf, wenn ich in die Kulleraugen der Alpenkühe schaue, deren Fell wie in Sahnekakao gespült aussieht. Allerdings nötigen mir die stattlichen Hörner im freien Gelände Respekt ab.

Jetzt lag das liebenswerte Milchvieh wiederkäuend am Wegrand. Von fern war mir bereits eine Kuh wegen ihrer Farblosigkeit aufgefallen und weil sie sich einen Grashügel als Ruheplatz ausgesucht hatte. Bei näherer Betrachtung zeigte sich, dass ihr Fell wie Latte Macchiato gefärbt war und die Nase wie Erdbeermilch. Ihr Maul kaute gelassen und anmutig, an den Seiten hingen Grashalme heraus, und ihr Blick unter den hellrosa Wimpern war so sanftmütig, dass ich mich gern zu ihr gelegt hätte. Das Schimpfwort Doofe Kuh ist also völlig daneben gegriffen.

Es regnete stärker. Wir stiegen weiter auf zum Herzogstandhaus. Hier hatten König Ludwig und sein Amtsvorgänger Maximilian II. ihre Jagdhäuser gehabt. Von den Zwillingsgipfeln Herzogstand und Heimgarten hatten sie sich an Weitblicken nach München und zu den Zentralalpen erfreuen können.

Was Heike und ich nötiger brauchten als diesen, sicherlich beeindruckenden, Gipfelausflug, war eine Rast. Vorher blieb ich an einer Schautafel stehen, die vom Isar-Loisach-Gletscher erzählte. Vom über tausendsiebenhundert Meter hohen Herzogstand war gerade mal ein Sechstel frei von Eis gewesen.

Wir betraten die menschenleere Aussichtsterrasse der Hütte, ließen uns unterm Dachvorbau nieder und bestellten Kaiserschmarrn mit Apfelmus. Zwischenzeitlich betraten ein Mann und eine Frau die Terrasse, sie einen Kopf kleiner als er. Auf der Suche nach trockenen Plätzen wählten sie eine Bank in unserer Nähe. Sofort schmiegte sie sich in seinen Arm, was ihn zu einem zärtlichen Kuss animierte und bei mir ein Déjà-vu auslöste.

„Schau mal da!“ flüsterte ich und stubste Heike aufgeregt an.

„Was ist mit den Beiden?“

„Der Nacken! Ich erkenn ihn unter Tausenden“, beteuerte ich. Schließlich war sein Bild detailgetreu in meinem Langzeitgedächtnis verankert.

„Wie die wohl hierher gekommen sind? Zu Fuß?“

„Könnte sein, aber bestimmt nicht über Frauenrain und Dürnhausen, und erst recht nicht über die beiden Hügel.“

Unsere Unterhaltung stockte, bis ich sie neu in Gang setzte: „…diese komische Rille… Ob ihr der Nacken gefällt?“