Für Tobias

INHALT

1

KROATIEN

Mit einem lauten Knall warf Tom die Tür ins Schloss. Das wollte er eigentlich gar nicht. Tom war nicht der Typ für plötzliche Wutausbrüche und seine Familie konnte schließlich nichts dafür, dass der Sommerurlaub für dieses Jahr ins Wasser fiel. Er ließ sich auf sein Bett fallen. Seine Blicke wanderten über die blau gestrichene Zimmerdecke.

»So könnte der Himmel in Kroatien aussehen«, murmelte er vor sich hin. Er seufzte tief und spürte, wie seine Augen feucht wurden. Er wusste nicht, ob er weinen oder sich ärgern sollte. Dieses komische Gefühl in seiner Brust, ein Gefühl zwischen Wut und Enttäuschung, Ärger und Traurigkeit. Noch einmal musste er seufzen. Und dann spürte er, wie ihm eine Träne über die Wange lief.

Genau in diesem Moment wurde die Tür mit einem Ruck aufgerissen. »Hey, Tommy! Mama sagt, du sollst zum Essen kommen.«

Doch plötzlich stutzte Marc und sah seinen kleinen Bruder an. »Sag mal, heulst du etwa?« Er stieß Louis, der neben ihm stand, mit dem Ellbogen an und rief: »Sieh mal, Louis, unser Kleiner heult wie ein Baby. Was ist denn los?«

Schnell wischte sich Tom mit der Hand über seine sommersprossige Wange und griff nach seinem Kopfkissen. Wütend schleuderte er es seinen beiden älteren Brüdern entgegen und die suchten lachend das Weite.

»Ja, haut bloß ab!«, schrie er ihnen nach. Er hasste es, wenn sie ihn auslachten.

Seufzend ließ er sich wieder auf das Bett fallen. Er hatte sich sehr auf diesen Urlaub gefreut und nun sah es so aus, dass sie gar nirgendwo hinfahren und dieses Jahr ihren Familienurlaub zu Hause verbringen würden. Laut schluchzend weinte Tom in seine Bettdecke hinein und schlief nach einiger Zeit ein. Da wusste er noch nichts von der Überraschung, die der nächste Tag bringen würde.

»Marc, Louis, packt ihr nun endlich eure Sachen zusammen«, rief Mama etwas ärgerlich. »Wir wollen heute Abend aufbrechen und ich kann nicht alles alleine machen.«

»Und was ist mit Tommy? Der muss mal wieder nichts machen, oder?«, sagte Marc.

»Thomas hilft Papa beim Autoeinräumen und soviel ich weiß, hat er schon gepackt. Nun, auf geht’s, sonst bleibt ihr beide zu Hause!«

Mama wollte schon immer mal nach Kroatien fahren und dort einfach ein paar Tage ausspannen. Meer, Sonne und etwas Kultur. So hatte sie sich den Urlaub vorgestellt. Und Papa war schon zufrieden, wenn seine Frau Sofia zufrieden war. Ihre drei Kinder Marc, Louis und Tom (der eigentlich Thomas hieß, aber von allen außer Mama Tom genannt wurde) wollten einfach nur ans Meer.

Am Vortag im Reisebüro hatten sie ein wunderschönes Häuschen im Katalog gefunden und alle fünf waren sofort begeistert. Das war es! Ein altes Steinhaus mit kleinem Garten in einem verwunschenen Dorf. Bis zum Meer waren es nur ein paar Minuten mit dem Auto, das konnte man auch zu Fuß gehen. Doch leider war das Haus während der ganzen Ferien ausgebucht.

Die Dame vom Reisebüro blätterte in ihren Unterlagen und sah Toms Mutter fragend an: »Wann wollten Sie nochmal fahren? In drei Wochen für zehn Tage?«

Frau Lahmel nickte und die Dame vom Reisebüro seufzte tief, sodass ihre knallroten Lippen leicht vibrierten. Dann schüttelte sie entschlossen den Kopf: »Nein, tut mir leid. Aber ich hätte da noch ein anderes Objekt mit Pool. Gleich im Nachbarort. Gut, der Weg zum Meer ist etwas weiter, aber dafür…«

»Nein danke«, fiel ihr Toms Mutter ins Wort. Denn dieses Haus hatte nicht halb so viel Charme wie das Ferienhaus, in das sie sich augenblicklich verliebt hatte. Und außerdem war sie in diesem Moment zu enttäuscht, um sich für etwas anderes zu entscheiden. »Wir überlegen noch. Ich denke, wir schlafen eine Nacht darüber und melden uns morgen bei Ihnen.«

Doch gleich am Tag darauf war der überraschende Anruf aus dem Reisebüro gekommen.

»Frau Lahmel, einen wunderschönen guten Morgen. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass überraschenderweise eine Familie ihren Urlaub abgebrochen hat. Das Ferienhaus wäre nun frei. Ich hoffe, Sie sind spontan. Sie können morgen bereits einchecken, dann hätten Sie noch zehn Tage bis zur nächsten Buchung. Wäre das eine Option für Sie?«

Mama war erst einmal sprachlos, aber dann sagte sie sofort zu. Und so kam es, dass Familie Lahmel im Eiltempo Koffer packen musste.

Bis nach Kroatien waren es genau 650 Kilometer. Wenn sie in der Nacht aufbrechen, können sie schon am Morgen auf dieser wunderschönen Terrasse frühstücken.

2

PERO

»In sieben Stunden sind wir voraussichtlich am Ziel«, sagte Papa, als sie um drei Uhr in der Früh ins Auto stiegen. »Wir müssen durch Österreich, Italien und Slowenien fahren. Dann kommen wir an die kroatische Grenze.«

Er fuhr los. »Ist ja Wahnsinn, durch wie viele Länder man fahren muss, bis man endlich in Kroatien ist!«, rief Tom und kurbelte das Fenster herunter. Er streckte seinen rotblonden Haarschopf hinaus und ließ sich die kühle Nachtluft ins Gesicht blasen. Tom war kein bisschen müde. Obwohl er sein dickes Kissen mitgenommen hatte, war er zu aufgeregt, um zu schlafen.

Toms Vater sah in den Rückspiegel und nickte lächelnd. »Musst mal in den Atlas schauen, Tommy. Das wäre vielleicht auch mal ein interessantes Buch für dich.«

Doch Tom winkte ab und hielt sein Abenteuerbuch in die Höhe. »Den kannst du selber lesen, Papa. Aber ich kann dir ja mal mein Buch leihen.«

An der kroatischen Grenze musste sich Papa erst einmal strecken. Mama sah zu ihm hinüber. »Soll ich dich ablösen? Du fährst schon die halbe Nacht durch.«

Doch Herr Lahmel winkte ab. »Nein, nein, alles gut. Ruh du dich nur aus. Wir sind eh gleich da.« Er wollte wohl endlich mal seinen neuen Wagen ausfahren.

Marc und Louis schliefen tief und fest auf der Rückbank. Ihre Smartphones, die sie beide von Oma zu Weihnachten bekommen hatten, hielten sie noch in der Hand.

Ein alter Mann begrüßte sie, als sie ihr Auto vor dem Ferienhaus abstellten. »Eine wunderschöne gute Morgen! Dobar dan. Familia Lahmel?«

»Ja. Dobar dan«, erwiderte Papa, streckte dem Herrn die Hand zur Begrüßung entgegen und fügte nach kurzem Überlegen hinzu: »Koliko je sati?«

Gespannt wartete er auf eine Antwort. Aber der Mann sah nur in den Himmel und hielt kurz inne. Nach einiger Zeit antwortete er: »Ich denke, neun Uhr. Kommen Sie mit, kommen Sie mit, ich zeige Ihnen diese Haus!« Der ältere Herr stützte sich auf seinen Stock und schlurfte die Treppe zum Garten hinunter. Die Kinder folgten ihm.

Papa sah dem Alten verdutzt nach. »Ich wollte eigentlich wissen, wie es ihm geht und er sollte antworten: ›Danke, gut‹. So jedenfalls steht es im Reiseführer.« Er rieb sich das Kinn und blickte dem Alten nach.

»Vielleicht bist du in der Zeile verrutscht, Schatz. Komm, lass uns das Haus ansehen«, sagte Mama.

»In der Zeile verrutscht?«

»Na, in deinem Sprachführer. Ich denke, dass du ihn nach der Uhrzeit gefragt hast. Nun komm schon.«

Mama ging ebenfalls die Treppe hinab und Papa folgte ihr kopfschüttelnd. Auf der Terrasse wartete der Mann auf sie. Der Ausblick war gigantisch. Tom blickte über Felder, auf denen Unmengen von Weinreben in Reihen standen, und Äcker mit rötlicher Erde. Noch nie in seinem Leben hatte er rote Erde gesehen. Weiter unten breitete sich das türkisblaue Meer aus, umrahmt von Olivenhainen und Zypressenwäldern.

Tom konnte das Meer riechen. Er spürte, wie sich ein leicht salziger Geschmack auf seine Zunge legte. Direkt neben der Terrasse wuchsen Mandel- und Olivenbäume und noch andere Gehölze, die Tom noch nie gesehen hatte. Direkt daneben stand ein riesiger Feigenbaum. Seine Früchte waren so prall gefüllt, dass Tom sie am liebsten gleich gepflückt hätte. Bis jetzt kannte er diese Früchte nur aus dem Supermarkt.

»Cool«, murmelten Marc und Louis fast gleichzeitig.

»Ah schön, Zwillinge«, stellte der ältere Herr fest.

»Nein!«, riefen Marc und Louis wie aus einem Munde.

»Nein, Geschwister. Sie sind nur vom Alter her nicht weit auseinander«, versuchte Mama zu erklären.

»Ah verstehen. Ich bin Pero.« Der Mann wechselte den Stock von der rechten in die linke Hand und zog galant den Hut.

Tom schätzte den Mann vielleicht auf achtzig. Seine dunklen Augen blitzten schelmisch aus seinem von Sonne und Wind gegerbten Gesicht. Trotz seiner schon fast jugendlichen Ausstrahlung merkte man, dass er ein alter, gebrechlicher Mann war. Er konnte sich nur mit Hilfe seines Stocks auf den Beinen halten.

Der Stock war Tom sofort aufgefallen. Es war kein gewöhnlicher Stock, wie ihn alte Leute bei ihnen zu Hause verwendeten. Dieser war aus einem ganz besonders feinen Holz. War das Olivenholz? Am oberen Ende befand sich ein Griff aus goldgelb glänzendem Metall, der die Form eines Löwenkopfes hatte. Tom neigte den Kopf nach vorne, um ihn besser sehen zu können. Dies bemerkte der Alte und hielt ihm den Stock entgegen.

»Du interessierst dich für diesen Stock?«, fragte Pero und sah Tom prüfend an.

Tom winkte verlegen ab. »Nein, äh«, stotterte er. »Ich wollte nur mal schauen.«

»Hier«, erwiderte der Alte und hob den Stock hoch, damit Tom ihn besser sehen konnte.

Tom fiel auf, dass Pero nun einen sicheren Stand hatte und im Gegensatz zu vorher kein bisschen schwankte.

»Schau, dieser Löwenkopf ist das Wappen unserer Familia. Ich bin der letzte Nachkomme einer langen Reihe von Ahnen. Wir besaßen viele Ländereien und Häuser, ja das halbe Dorf gehörte meiner Familia. Doch durch ein Unglück verloren wir vieles und nun habe ich nur noch dieses Haus und vermiete es an Touristen, die hier, wie sagt man bei euch, Urlaub machen wollen. So, genug geredet, kommt herein und schaut in diese wunderbare, verwunschene Haus.«

Mit einer Handbewegung lud Pero alle ein, ihm zu folgen. Das Haus war nicht sehr groß. Der untere Raum wurde in der Mitte durch eine Treppe, die nach oben führte, unterteilt. Rechts war die Küche und links das Wohnzimmer, in dem eine sehr gemütlich aussehende Couch und ein kleiner Beistelltisch standen. Außerdem gab es noch eine kleine Anrichte mit Geschirr und eine Kommode mit einer Stereoanlage darauf. Marc und Louis stürzten sich natürlich sofort auf die Couch.

»Platz da, hier liege ich!« Louis sprang mit einem Satz auf die Couch und Marc versuchte ihn unsanft vom Gegenteil zu überzeugen.

»Ich glaub, du spinnst. Das ist mein Platz für die nächsten zehn Tage.«

Mama platzte der Kragen und wies sie an, die Koffer aus dem Auto zu holen. »Immer diese Streiterei! Ich verstehe das nicht. Können sich die nicht einmal wie zwei vernünftige Menschen aufführen?« Fragend drehte sie sich nach Papa um, aber der hatte bereits ein anderes Objekt im Blick.

Zielstrebig steuerte er auf die alte Standuhr zu. Sie sah aus, als wäre sie hier versehentlich hineingestellt worden. Irgendwie passte sie überhaupt nicht zum restlichen eher modernen Mobiliar. Alle Möbel waren aus Kiefernholz gefertigt und wirkten leicht und luftig. Die Standuhr aber hatte etwas Schwermütiges an sich. Der Uhrenkasten war aus altem Eichenholz und in der Mitte hing ein schweres, eisernes Pendel.

»Sie ist wohl kaputt?«, fragte Papa Pero.

Doch dieser winkte ab. »Nein, sie ruht nur.«

»Aber das Pendel bewegt sich nicht.«

»Wenn die Zeit kommt, dann wird sich das Pendel in Gang setzen und die Zeit wird sich zurückdrehen«, antwortete Pero und seine Mundwinkel formten sich zu einem geheimnisvollen Lächeln.

»Die Zeit wird sich zurückdrehen?«, fragte Papa verwirrt und drehte sich nach dem Alten um. Doch dieser war spurlos verschwunden.

»He, wo ist er hin?« Verwundert ging Herr Lahmel zu seiner Frau in den Nebenraum, wo sich das Bad und die Toilette befanden. »Ist er bei dir?«

»Wer? Thomas?«

»Nein, Pero, der Alte.«

»Du hast doch gerade noch mit ihm geredet.«

»Ja, und plötzlich war er verschwunden.« Papa schüttelte den Kopf und sah sich um.

»Wenn du Thomas suchst, er sieht sich die Schlafzimmer oben an und Marc und Louis holen die Koffer aus dem Auto, wenn sie nicht wieder irgendwelchen Unsinn machen.«

Tom stand in einem der oberen Zimmer und blickte aus dem Fenster, als plötzlich Pero neben ihm stand.

»Du gefällst mir«, sagte der Alte zu Tom und griff in seine Tasche. Dann zog er einen kleinen, grünlich schimmernden Gegenstand heraus, der aussah wie ein glatter Stein. Er hielt ihn Tom unter die Nase und drehte ihn geschickt zwischen den Fingern, sodass Tom ihn von allen Seiten betrachten konnte.

»Das hier ist ein Operculum. Eine Muschelart oder besser gesagt der hornige Deckel einer Schnecke. Es sieht aus wie ein Stein und beschützt denjenigen, der stark und mutig genug ist, etwas zu verändern. Es öffnet die Augen für die Wahrheit. Aber nicht jeder kann es benützen.«

Pero nahm Toms Hand und drückte den Stein in seine Handfläche. Dann verschloss er sie wieder und murmelte leise vor sich hin.

Tom verstand nicht, was er sagte. Wie angewurzelt stand er da und starrte den Alten mit großen Augen an. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sollte er irgendetwas antworten, sich bedanken oder ihn fragen, was er gerade in einer ihm unbekannten Sprache vor sich hin gemurmelt hatte?

Bewegungslos stand Tom da und starrte den Alten unverwandt an. Erstaunlicherweise war ihm gar nicht mulmig zumute. Dieser Fremde, der noch immer seine Hand hielt, war ihm auf einmal so vertraut, dass er gar keinen Grund verspürte, sich zu fürchten. Ja ein Gefühl der Zuversicht durchflutete ihn und eine unerklärliche Wärme strömte plötzlich durch seinen Körper.

Mit einem Ruck löste Pero seine Hand von Toms und war verschwunden. Irritiert sah sich Tom um und setzte sich auf das Bett. Er drehte den grün schimmernden, runden Stein zwischen seinen Fingern und betrachtete ihn eingehend. »Operculum«, murmelte er leise. Er wusste nicht, was er denken sollte. Er wusste nur, dass hier irgendetwas seltsam war.

Das Knarren der Treppenstufen riss Tom aus seinen Gedanken. Schnell schloss er seine Hand und schob den Stein in seine Hosentasche.

Papa, Marc und Louis kamen die Treppe herauf und Tom folgte Papa in das andere Zimmer, um sich umzusehen. Im ersten Stock gab es ein Schlafzimmer für die Eltern und eines für die Kinder. Im Elternschlafzimmer war ein Ehebett, während das Kinderzimmer über ein Stockbett und ein Einzelbett verfügte.

»Packt mal mit an!«, rief Papa.

Zu viert hoben sie das obere Bett herunter und stellten es zwischen die beiden unteren auf den Boden. So blieb kaum ein Zwischenraum zwischen den Betten. Und man konnte nur über die Vorderseite die Betten verlassen, da sie rechts und links an der Wand standen. Aber so konnte wenigstens keiner streiten, wer im Bett oben oder unten liegen darf.

»Tommy, du liegst in der Mitte. Marc und Louis, ihr schlaft links und rechts. So, Ende der Diskussion!« Zufrieden rieb sich Papa die Hände und verließ das Zimmer, um Mama beim Auspacken zu helfen.

»Es gab ja gar keine Diskussion«, stellte Marc fest und sah Louis an.

»Eben!«, sagte Papa, der nochmals den Kopf zur Tür hereinstreckte. »In zwanzig Minuten Treffpunkt unten in der Küche. Dort machen wir uns erst mal ein schönes Frühstück.

Papa schloss die Tür, um sie erneut zu öffnen. »Und es helfen alle mit – beim Vorbereiten, meine ich.«

3

DIE VERSCHWUNDENE FAMILIE

»Wann gibt’s Frühstück?«, fragte Louis, während er verschlafen die Terrasse betrat. Er musste wohl kurz eingenickt sein.

Der Rest der Familie saß am Tisch beisammen. Mama gönnte sich eine große Tasse Kaffee mit viel Milchschaum und Papa hatte frisches Brot beim Bäcker im Ort geholt. Die Sonne entfaltete ihre ganze Kraft, obwohl es erst zehn Uhr morgens war. Der Himmel war wolkenlos und nur hie und da spürte man eine leichte Brise.

»Guten Morgen«, sagte Mama. »Wir haben schon gefrühstückt. Komm, setz dich zu uns, es ist noch genug da.«

»Was steht heute auf dem Programm?«, fragte Papa, der geschäftig den Reiseführer studierte.

»Oh, bitte keine Stadtausflüge, Papa«, nörgelte Marc.

»Ich mag an einen Sandstrand«, rief Louis mit vollem Mund.

»Mit Sandstränden wirst du hier wenig Glück haben«, meinte Papa. »Hier in Kroatien sind die Strände eher steinig. Aber im Reiseführer hab ich was von kristallklarem Wasser und traumhaften Badebuchten gelesen. Zum Schwimmen braucht ihr ja nur durch den Olivenhain runter zum Meer zu gehen. Ich glaube, dort unten kann man wunderbar baden. Auf dem Kiesstrand ist es zwar vielleicht ein bisschen unbequem zum Liegen, aber für ein morgendliches Bad… Das sind nur circa fünf Minuten zu Fuß. Ich kann das Meer schon förmlich an meinen Beinen spüren.« Er strich sich mit übertriebenen Bewegungen über die Wade, um dann eine ausladende Geste in Richtung Meer zu machen.

»Nö, ich will ja nicht schwimmen. Ich will faul am Sandstrand liegen und mir die Sonne auf den Rücken scheinen lassen.«

»Ach, Louis!«, schimpfte Papa. »Ihr beide seid richtig faul. Liegen könnt ihr auch hier im Garten oder besser noch zu Hause im Garten. Da hätten wir gar nicht so weit in Urlaub fahren brauchen.«

Er wedelte mit seinem Reiseführer und rief: »Hier, wir könnten zu der Inselgruppe Brijuni fahren. Dort ist ein 36 Quadratkilometer großer Nationalpark, zu dem 14 Inseln gehören.« Gespannt sah er in die Runde. »Das klingt doch nach Abenteuer, oder? Der jugoslawische Staats- und Parteichef Tito hatte dort seine Sommerresidenz, seit…«

»Papa, bitte! Uns interessiert dein Pito oder wie der heißt nicht die Bohne«, maulte Marc genervt und griff nach dem letzten Brötchen, das auf dem Tisch lag.

Herr Lahmel gab nicht nach. »Dort gibt es auch viele exotische Tiere. Tito liebte Tiere. Deshalb brachten ihm seine Gäste damals exotische Tiere wie indische Rinder und…«

Louis lachte laut auf. »Rinder exotisch? Super, Papa!«

Herr Lahmel seufzte. »Ich sehe schon. Bei euch ist Hopfen und Malz verloren.«

»Thomas, was ist mit dir? Du bist ja so still.« Mama sah Tom aufmunternd an. »Was möchtest du gerne unternehmen?«

Tom dachte nach. Ihm gefiel es hier, so wie es war. Die Sonne im Nacken und diesen wunderschönen Garten vor Augen – das war doch toll!

»Ich weiß nicht«, antwortete Tom zögernd. »Einfach nur gemütlich beisammensitzen oder so. Ich finde es hier schön, so wie es gerade ist. Wegen mir müssen wir heute nirgendwo hinfahren.«

»Du hast recht«, meinte Mama. »Ich bin auch dafür, dass wir es heute mal ganz ruhig angehen lassen. Außerdem sind wir ja gerade erst angekommen.«

»Also, er ist kein Langweiler, oder wie? Aber wir sind natürlich mal wieder faul, wenn wir nichts machen wollen.« Marc war eingeschnappt und sah zu Louis hinüber.

Dies war das Zeichen für Louis, seinem Bruder solidarisch beizustehen. Er setzte eine aufgebrachte Miene auf und warf ein: »Ja stimmt, Marc hat recht. Immer sind wir…«

Weiter kam er nicht, da er von einer schrillen Stimme übertönt wurde. Eine Frau kam die steile Treppe zur Terrasse herunter gestöckelt, wobei ihre ausladenden Hüften hin- und herschwangen.

»Hallöchen! Wie ich sehe, sind Sie schon da. Familie Lahmel. Schönen guten Morgen. Ah, Sie genießen bereits unsere wunderschöne Aussicht auf den Garten mit Meeresblick.« Dann schielte sie auf Mamas große Tasse Kaffee. »Wunderbar, Kaffee! So ein Tässchen würde ich auch gerne nehmen. Wären Sie so lieb?«

Mama sah die Dame verdutzt an. »Entschuldigen Sie, aber wer sind Sie?«

»Oh, wie dumm von mir. Habe ich mich gar nicht vorgestellt? Ich bin Frau Martens und betreue diese Ferienhäuser hier und die dort und auch die Feriensiedlung im Nachbarort.«

Sie redete ohne Punkt und Komma, wobei sie wild mit ihren Armen herumfuchtelte und auf alle möglichen Häuser deutete. »Und Ihres hier natürlich auch, aber das habe ich ja schon erwähnt. Sie sind wohl heute Morgen angekommen? Wie schön und schon so gemütlich auf dieser Terrasse. Haben Sie wohl auch ein Tässchen Kaffee? Aber Moment mal, wie sind Sie eigentlich reingekommen? Hat die Putzfrau nicht richtig abgeschlossen?«

»Ein sehr freundlicher älterer Herr hat uns aufgesperrt«, antwortete Papa, der froh war, nun auch einmal zu Wort zu kommen. »Er stellte sich als Pero vor. Er meinte, er sei der Eigentümer.«