Max Geißler: Inseln im Winde

 

 

Max Geißler

Inseln im Winde

Ein Halligroman

 

 

 

Max Geißler: Inseln im Winde. Ein Halligroman

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Alexander Eckener, Hallig im Sturm (Ausschnitt), 1906

 

ISBN 978-3-7437-0147-2

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-86199-842-6 (Broschiert)

ISBN 978-3-86199-843-3 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Leipzig, Staackmann, 1907 als völlig umgearbeitete 5. Auflage von »Jochen Klähn«, 1903.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Vorbemerkung

Der preußische Staat besitzt die Halligen seit Schleswig-Holstein in seinen Verband übergegangen ist, und ihr Name begreift diejenigen der Westküste Schleswigs vorgelagerten kleinen Inseln in sich, welche weder durch Deiche noch Dünen vor der vernichtenden Gewalt der Nordsee geschützt sind. Im Jahre 1882 noch zirka zweitausendfünfhundert Hektar umfassend, beträgt ihr Gesamtareal gegenwärtig zweitausend Hektar mit etwa fünfhundert Bewohnern. – Eine Hallig ist eine ebene, liebliche Flur, die, mit einem kurzen dichten Grase bedeckt, nur ein halbes Meter über den Stand normaler Flut herausragt und ihre Bewohner durch die den Verhältnissen entsprechende Landwirtschaft, verbunden mit Viehzucht und einigem Nebenerwerb, leidlich ernährt.

Die Halligfriesen erfreuen sich dank ihrer Sparsamkeit – entgegen der Behauptung der meisten Halligschriftsteller – eines schlichten Wohlstandes. Sie sind zufriedene, gastfreundliche Menschen, nicht ohne Resignation: eine Folge des Anblicks langsamen Vergehens ihrer Heimatscholle, dem von maßgebender Stelle jahrzehntelang tatlos zugeschaut worden ist. Die schutzlose, zerrissene Kante des Eilandes erleidet bei jeder, während der Wintermonate oft zweimal des Tages eintretenden Überflutung Landverluste, die sich das Jahr über auf etwa acht Fuß belaufen.

Die Häuser der Hallig stehen auf viereinhalb bis fünf Meter hohen Werften: die allverbreiteten Gerüchte von den Nöten der Bewohner bei Fluten sind in das Gebiet des Märchens zu verweisen und gründen sich in der Hauptsache auf die pessimistischen, längst veralteten Schilderungen Biernatzkis, des früheren Pfarrers auf der Hallig Nordstrandischmoor, und seiner Novelle »Die Hallig«.

Seit 1896 ist ernstlich mit der Befestigung der Halligen begonnen worden.

Der einzig wirksame Schutz der Halligkante, die kostspielige Granitdossierung, ist verhältnismäßig wenig zur Anwendung gelangt. Einige Inseln sind heute bereits durch zum Teil unverantwortlich schlechte Dämme mit dem Festland verbunden.

Die ihnen gewidmete Aufmerksamkeit und Kulturarbeit stehen noch in keinem rechten Verhältnisse zu dem Werte der Halligen als Stützpunkte für die Zurückeroberung des ganzen schleswigschen Wattenmeeres.

Die einzigartigen Eilande sind eine untergehende Welt – nach der Inangriffnahme und hoffentlich rüstigen Fortführung der Sicherungsbauten nicht in dem Sinne, daß sie eine Beute des Meeres werden, sondern daß sie infolge natürlicher Aufschlickungen mit dem Festlande verbunden, daß sie eingeschlossen werden in den Rahmen der Marschen und Deiche, in deren Schutze das neugewonnene Land nach einem Jahrhundert einem kernigen Menschenschlag als Wohnsitz dienen und goldenes Getreide tragen wird.

 

1.

Die Frühlingssonne hatte gegen Mittag die Nebelschleier durchbrochen, die so dicht in den grauen Februartagen geflogen waren und die auch der Märzwind nicht fortzublasen vermocht hatte.

Unter den grämlichen Vorfrühlingsnebeln hatten die Rohrdächer der niederen Häuser auf der Halligwerft getrieft, und das kurze Gras auf dem Vorlande, das gegen das Wattenmeer sich hinzieht, war versilbert von dem Hauche der wehenden Nebel.

Aber heute hatte die lichte Sonne wieder zum erstenmal in den zitternden Tropfen des Rasens sich gespiegelt, und was in den Rillen der Rohrdächer herabrieselte, war blanker als rinnendes Licht und war wie blitzend Gestein. Unter dem goldenen Schuhe der Sonne hatte das Moos auf dem Rasenboden der Firsten zu schwellen begonnen, und es ward weich wie Sammet.

Aber nun wollte die Aprilsonne, die so lockend und warm gewesen war, wieder in die grauen Schleier versinken, die fern über der See lagen; und der Wind, der tagsüber draußen von den Wellen sich schaukeln ließ, lief über das Watt und schleppte die grauen Nebelnetze hinter sich drein. Er legte sich auf das Gras und blies den roten Glanz der Sonne von den Firsten der Hütten.

Um diese Zeit hing Frau Kei Bonken ein schwarzes Tuch über die Schultern und ging aus der niederen Tür ihres Hauses, das im Ringe der wenigen anderen Häuser der Werft auf dem Eilande lag.

An der Außenseite dieses Häuserringes fiel die Werftböschung gegen das Grasland ab; an der Innenseite lief ein mit runden Steinen belegter Weg von Tür zu Tür. Der bildete einen Kreis um den kleinen Süßwasserteich, aus dem das Vieh der Inselleute getränkt wurde. Aber kein Quell der Erde speiste diesen Fething: der Regen mußte hineinrinnen und ihn füllen.

Mit gesenkter Stirn schritt Kei Bonken über die runden Steine des Weges auf der Werft. Sie ging langsam: wer dem Leid und der Einsamkeit nachgeht, hat keine Eile.

Die Frau hatte geweint, wie sie gegen den Abend hin ganz allein im Stüblein der Hütte gesessen hatte; denn in der dämmerigen Einsamkeit konnte sie Binne Bonken, ihrem neunjährigen Töchterlein, ihre rinnenden Tränen verheimlichen. Binne Bonken war heute in eins der Nachbarhäuser spielen gegangen; denn Mutter Kei Bonken hatte gedacht: Hertje Nomsen, das fröhliche blonde Nachbarkind, werde der Kleinen in das Herz lachen und ihr das Herz wieder froh machen. Bei Hertje Nomsen und ihrer Freude sollte sie bleiben, solange sie mochte.

Überdem trat Kei Bonken in das Haus des Schiffers Knudt Klähn. –

Um diese Zeit, wie die Nacht heimlich durch die Fenster bei Nomsen und um das Spiel der Kinder spann, das heute gar nicht so lustig werden wollte wie in früheren Tagen, da stahl sich Binne Bonken leise von Hertje Nomsen fort. Sie lief den Weg über die runden Steine, den die Mutter vor wenigen Minuten gegangen war, und lief nach Hause.

»Hat Mutter auf mich gewartet?« fragte Binne Bonken halblaut zur Tür des stillen Stübleins hinein. Weil ihr aber keine Antwort wurde, öffnete sie die Tür vollends.

»Nicht daheim?« sagte das Kind im Eintreten und ging auf den Zehen gegen das Fenster. »Ach so, Mutter wird ein wenig zu Goede Klähn gegangen sein, weil sie meint, ich sei zu Hertje Nomsen spielen«, dachte sie laut.

Und Binne Bonken stützte das Kinn in die Hand und schaute mit ihren blauen stillen Augen hinaus in das sinkende Grau des verdämmernden Abends. Das Fenster klaffte oben ein wenig, weil nur der untere Haken in der Öse saß, und der Wind lief von der See her über das Grasland durch die Dämmerung.

Überall gingen die Lichter in den Häusern an.

Weil bei Kei Bonken noch kein Licht hell war, wunderte sich der Wind, legte den Mund an den Spalt des Fensters und sang hindurch. Er sang so laut, daß Binne Bonken gar nicht mehr auf den Schritt der Zeit hörte, der so vernehmbar aus dem braunen Kasten der Uhr im Winkel klang.

Und das eintönige Lied des Windes stimmte sich Binne Bonkens Seele. Die war drüben bei Nomsen nicht froher geworden; denn während die andern Kinder auf der Diele saßen, hatte Binne Bonken an dem Knie Uwe Nomsens gelehnt.

Uwe Nomsen ist der sechzehnjährige Junge mit den Traumaugen, der mit seinem Freunde Jochen Klähn des Abends immer auf das Pastorat geht und sich von dem Pfarrer lehren läßt. Uwe Nomsen möchte stets in des Pfarrers Büchern lesen und fragt ihn immer so viel und so sonderbar über Dinge, die kein Mensch weiß.

Heute, wie Binne Bonken an seinem Knie lehnte, hat er ihr von Stavenwüffke erzählt, von dem Weibchen, das in dem Kleid aus grauen Nebelschleiern mit einem Licht in der Hand am Strande läuft, wenn die Nacht kommt. Die Sage spricht: Stavenwüffke weiß, wo jene Schiffer geblieben sind, die nicht mehr heimkommen können, weil ihre Schiffe draußen versanken.

Mit verträumten Augen hat das Kind zu Uwe Nomsens Märchenmund emporgeschaut: die Geschichte ist so schön und traurig gewesen, die Uwe Nomsen von dem Stavenweibchen heute erzählt hat!

Jetzt, wie der Wind so durch den Spalt des Fensters sang, dachte Binne Bonken wieder daran und dachte auch daran, daß Uwe Nomsen gesagt habe: der Wind wisse noch viel schönere Geschichten als er; deshalb höre er oft hinaus in die Nacht, wenn der Wind draußen um die Hütten läuft. O, den Wind, den feuchten Schlickläufer, könne man recht wohl verstehen, meint Uwe Nomsen.

Darum lauschte das Kind jetzt am Fenster und sann in den Wind und sprach mit dem Wind – einmal er, und einmal Binne Bonken:

»Warum ist denn kein Licht bei Euch, Binne Bonken?«

»Weil Mutter noch nicht daheim ist.«

»Wo ist Mutter Kei Bonken?«

»Sie ist wohl zu Goede Klähn gegangen.«

»Und hat Dich ganz allein im Haus gelassen?«

»Ich ging zu Hertje Nomsen spielen. Aber Hertje Nomsen war mir heute zu laut. Da hat mir ihr Bruder Uwe Nomsen die Geschichte von Stavenwüffke erzählt.«

»Bist Du nicht auch gern laut und singst Du nicht gern und springst über die Priele (Gräben), Binne Bonken?«

»Ach ja – früher wohl. Aber Vater ist tot. Seitdem nicht mehr. Seitdem sind wir still und traurig. Und Mutter weint auch manchmal ganz heimlich. Ich soll's wohl nicht sehen, aber ich merk' es doch, wie traurig sie ist.«

»Wo liegt denn Dein Vater Jürgen Bonken?«

»Ja, wenn ich das wüßte! Ich wollte heute Stavenwüffke nach ihm fragen, von dem mir Uwe Nomsen allerlei erzählt hat. Aber ich kann Stavenwüffke nicht sehen, wie lang ich auch schon zum Fenster hinausschaue.«

»So komm doch heraus zu mir!« lockte der Wind. »Wir wollen Stavenwüffke suchen.«

»Dann hat Mutter Angst. Sie würde zu Hertje Nomsen laufen und mich ängstlich suchen, wenn sie mich dort nicht findet, und wenn ihr niemand sagen kann, wohin ich gegangen bin, würde sie noch viel trauriger sein. Sie sitzt wohl auch jetzt bei Goede Klähn und weint um Vater.«

»Wenn Du ihr aber sagen könntest: Mutter, ich habe Vater Jürgen Bonken gefunden! Komm, Binne Bonken, wir suchen am Strand!«

So lockte der Wind, so sang der Wind.

Da wandelte auf einmal weit drunten über dem Grasland ein Licht.

Binne Bonken, die es vom Fenster der Hütte aus sah, richtete sich hoch auf. Nun hörte sie den Wind nicht mehr singen: der ist wohl dem Lichte nachgelaufen. Das wandert immer noch langsam seinen Weg am Watt.

Eine Zeitlang schaute das einsame Kind dem Lichte nach, dann sprang es hinaus, sprang die Böschung der Werft hinab und lief über das nebelnasse Gras. Und wie es dem roten Scheine nachschritt, dachte es daran:

Uwe Nomsen hat gesagt, mit einem solchen Lichte läuft Stavenwüffke. Uwe Nomsen hat auch gesagt: wenn ein Schiffer in See stirbt, so steigt seine Seele aus der Flut und irrt über das Meer bis in die Heimat. Dort erscheint sie den Ihren als »Gonger«, damit sie wissen, daß der draußen aus dem Leben geschieden ist.

Und jetzt schwamm der Mond sacht auf den Wassern; ein silberner Schein verriet sein Nahen. Und mit einem Male war eine Brücke quer über die See geschlagen, die war aus Silber.

Wenn die Sonne untergeht, ist diese Brücke golden.

Es ist eine Herrlichkeit, wie die Himmlischen bauen: alles aus Gold oder aus Silber! dachte Binne Bonken.

Und das Licht an der Halligkante lief immer vor ihr her, manchmal ein wenig landeinwärts, und manchmal tat es einen Sprung, wenn's über einen Graben ging oder ein Sick.

Das Gras, über welches das zitternde Kind schritt, war weich und nachtnaß – die Tritte versanken schier lautlos darin. Aber Binne Bonken ging dennoch auf den Zehen. Stavenwüffke flieht, wenn ein Mensch naht, hat ihr Uwe Nomsen verraten.

Manchmal schreit eine Wildgans draußen, wo die See auf das Watt steigt; die Flut ist im Anzug. Da tauchen die silbernen Muscheln, die auf den Watten liegen und von denen die Kinder so oft sammeln, in das rauschende Gewässer; da gehen alle Wattenwege unter. Und wenn Stavenwüffke jetzt etwa vom Halligvorland herunter- und hinauswandelt, weit hinaus, so kann das Kind nicht hinterdrein, wie zur Zeit der Ebbe.

O weh, nun ist das Licht fort!

Nein, da ist's wieder.

Binne Bonken bleibt einen Augenblick stehen; der Atem zittert ihr über die Lippen, das kleine Herz schlägt ihr wie eine Glocke ...

Was ist das nur? Es ist, als stehe eine große schwarze Gestalt vor dem Licht und verdecke es, und nur wie zwei goldene Flügel fällt der Schein zu beiden Seiten der schwarzen Gestalt in die Nacht.

Jetzt – jetzt wendet sich das Licht! Jetzt wird es weit fortgehen, weit fort auf das überflutete nächtliche Watt –

»Stavenwüffke!« ruft Binne Bonken zitternd und atemlos und ist doch nicht einmal rasch gelaufen. Und noch einmal: »Stavenwüffke!«

Alle Angst des kleinen Herzens klingt hinein in dies eine Wort. Aber der Wind, der die Flut von draußen hereintreiben will und dem Kinde verrät, daß die Wellen schäumend schon an der Halligkante klingen, erfaßt den Ruf und wirft ihn zurück bis an die Häuser der Werft.

Und jetzt – Tritte? Feste, sichere Tritte?

So läuft der Wind nicht und nicht die See! So geht aber auch Stavenwüffke nicht. Stavenwüffke weint leis in die Nacht, und wer ihm begegnet, hört sein Schluchzen. Und Stavenwüffke wandert lautlos, und um seine Füße schlagen die Nebel wie weiche Schleier.

Das Kind lauscht. Und weil es ein Schreiten hört, wie das der Schiffer, die in Seestiefeln am Strande gehen, denkt es an Jürgen Bonken.

»Vater Jürgen Bonken, bist Du's? Willst Du heim? Hat Dich die Sturzsee am ersten März nicht über Bord gespült?«

Und wieder zögerte das Licht. Manchmal war es, als irre es am Priel entlang, manchmal, als suche es einen Weg hinaus – hinaus auf das überflutete Watt.

»Jürgen Bonken!« rief das Kind voller Angst. Und wieder und noch lauter: »Jürgen Bonken!«

Da wendete sich das Licht langsam und goß einen roten Strom über Binne Bonkens bleiches Gesicht und über ihr verwehtes gelbes Haar. Und eine rauhe Stimme fragte und konnte die Verwunderung nicht bergen: »Binne Bonken, was willst Du hier? Bist Du ganz allein herausgelaufen in die feuchte, dunkle Nacht?« Eine warme Hand streckte sich dem Kinde entgegen: »Wen hast Du denn gerufen, Mädchen?«

»Vater Jürgen Bonken hab' ich gerufen«, schluchzte die Kleine. »Mutter Kei und ich – wir weinen um ihn. Und ich dachte, Du seist Jürgen Bonken.«

Da nahm Jochen Klähn, der das Boot im Priel verankert hatte, Binne Bonken an seine Hand, trocknete ihr den Schweiß auf der Stirn und führte das verängstigte Kind hinauf auf die Werft.

 

2.

Nicht lange nachher brannte hinter Kei Bonkens Fenster das Licht, während in den übrigen Häusern um den Fething die Lampen schon dort und da zu verlöschen begannen.

Binne schlief im Bettschrank, und noch aus ihren Träumen herüber klang ihr leises Schluchzen.

In dem Hause, in dem Kei Bonken um die Abendstunde geweilt hatte, um ihr Leid zu vergessen, saßen um diese Zeit auch die Klähns noch wach. Nur Urgroßmutter Eike Klähn waren die Lider müde zugefallen.

Sie sprachen von Binne Bonkens seltsamem Wesen und wunderten sich über den Reichtum in dieser jungen Seele.

Der Schiffer Knudt Klähn saß rauchend im Lehnstuhl aus schwarzgelbem Rohr, während die Stricknadeln von Frau Goede Klähn silbern hinter dem Ofen hervorklangen.

Goede Klähn hatte von der Küche aus vor kurzem noch einmal Ditten1 aufgelegt, ehe sie sich in der Stube zur abendlichen Rast setzte. Und nun flammte ein trauliches Feuer im Beileger und spann seine sanfte Wärme durch das Zimmer. Der Pendelgang der Uhr war hörbar, wenn die Menschen schweigsam vor sich hinsannen, und manchmal unterbrach der weiche Schlag der rauchausstoßenden Lippen die tiefe Stille im roten Lichte der Lampe.

»Hm«, machte Knudt Klähn. »Woher weiß denn Binne Bonken überhaupt das Märchen vom Stavenweibchen?« fragte der Schiffer seinen Sohn Jochen.

»Ach«, entgegnete der blonde, hochgewachsene Junge fast unwillig, »Uwe Nomsen, der Träumer, hat's ihr erzählt. Und noch dazu gegen Abend, zu einer Zeit, wenn Kei Bonken sonst schon daran denkt, die Kleine zu Bett zu bringen. Du weißt ja, wie unerschöpflich Uwe Nomsen in derlei Dingen ist und wie seine Augen hell werden, wenn er Märchen sinnen oder erzählen darf. Dann werden ihm die Augen tief wie Brunnen und leuchten in heimlichem Glanz. Sonst aber ist er schweigsam – und mir ist er zu still für einen, der leicht einmal mit seinem lauten Worte die brüllende See überschreien muß. Und viel zu versonnen ist er – denk doch: wenn der Sturm um die Lappen pfeift und die See über Bord springt, da darf einer kein Träumer sein.«

Jochen Klähn schwieg eine Weile und schaute seinen Vater fragend an: »Manchmal mein' ich: Uwe Nomsen paßt gar nicht in unsere Welt mit ihren tausend Fährnissen und mit ihrem ewigen Kampfe gegen die See. Er ist aus einer anderen Welt, nämlich aus der, die er sich erträumt. In der, die er sich so zurechtgemacht hat, wenn er Möweneier sucht und sich das Herz voll Sonne scheinen läßt, in der lebt er am liebsten, dort ist er daheim.«

So sprach Jochen Klähn, und Vater Knudt Klähn lächelte. Er freute sich seines tapferen Jungen, der schon jetzt die fernhinschauenden Augen hatte, die sich gewöhnt haben, den Saum der See auf kommende Wetter zu prüfen. Knudt Klähn freute sich seines tapferen Jungen, der in kniehohen Seestiefeln noch jetzt bei der Lampe saß, als sei er jeden Augenblick bereit, einer der Gefahren zu begegnen, die das Eiland stündlich umlauern.

»Vater«, begann Jochen von neuem, »wenn ich nicht neben ihm herangewachsen wäre, so könnt' ich nicht glauben, daß Uwe Nomsen ein Schifferkind, daß er ein Halligfriese sei. Haha, Stavenwüffke will er gesehen haben! Die Möwen hätten Kleider aus Silber, sagt er, und er behauptet, er könne den Wind sehen, wenn er schlickläuft: er trage große Seestiefeln und habe den Kalkstummel im Munde und die Hände in den Taschen ...«

»Der Wind?« fragte der Schiffer erstaunt.

Jochen Klähn schlug mit der flachen Hand auf den Tisch: »Jawohl, der Wind! Er reite mit gespreizten Beinen auf dem Hausdach, sagt er. O, Uwe Nomsen, das ist ein Träumer! Neulich hat er sogar versucht, Verse aufzuschreiben.«

Während die beiden so sprachen, hatte Frau Goede Klähn die Hände mit dem Strickstrumpf in den Schoß gelegt, und sie hörte verwundert, was ihr Ältester von dem Nachbarsohne berichtete.

Überdem schlug der weiße Fox an, kroch unter dem wärmelnden Ofen hervor und legte die Nase in den Spalt zwischen Tür und Pfosten. Draußen vor dem Hause auf dem Steinpflaster, über welches vorhin Kei Bonken gegangen war, klangen schwere Tritte; die klangen nun auch über die Vordiele.

Knudt Klähn hatte das Fenster der Stube ein wenig geöffnet und klopfte die Asche aus der Kalkpfeife hinaus.

»Das ist Ocke Frerksen! Er wollte heut abend noch ein wenig plaudern kommen; denn er fürchtet die Stille, die daheim um ihn ist, seit ihm das auf See widerfahren ist«, sagte der Schiffer.

Der Hund bellte nicht mehr, sondern sprang wedelnd an dem Eintretenden empor. Der Kapitän mußte ein wenig gebückt unter dem Türpfosten hindurchschreiten, reichte Goede Klähn die Hand zum Abendgruß und setzte sich neben Knudt Klähn an den mit braunem Wachstuch überspannten Tisch in der Mitte des Zimmers. Dann stopfte sich Frerksen den Kalkstummel mit schwarzem Shag und hüllte sich schweigend in eine Wolke blauen Tabakrauches.

Auch Ocke Frerksen trug kniehohe Seestiefel, und auch seine Augen waren wohl einst fernhinschauend gewesen wie die der beiden Klähns. Aber heute hatte das Leid feinen Staub darüber geblasen, und um den Mund des alternden Mannes, dessen Kommandoruf Wind und Wellen gar oft übertönt hatte, lag ein Zug herber Verschlossenheit. Er knöpfte die braune winterliche Joppe vor der Brust auf und lehnte sich mit einem Seufzer im Stuhle zurück.

Wie Jochen Klähn merkte, daß dem Kapitän das Herz schwer sei, sagte er: »Ich habe das Boot vorhin noch einmal verankert, Kapitän; es möcht' ein Sturm kommen, und das Boot liegt weit draußen im breiten Priel.«

Frerksen legte die Hand ans Ohr: »Was sagtest Du? ... Ach so! Woll, woll. Lang dauert's nicht mehr, so wird schlecht Wetter in See. Das Nordlicht hat zu lange gestanden. Und das Nordlicht trügt mich nie.«

»Ich denke, das Wetter bleibt noch eine Zeitlang«, warf Knudt Klähn ein.

»Nein, Klähn! Hast Du das Nordlicht nicht gesehen? Das Nordlicht stand auch am ersten März ...«

Da verfinsterte sich des Kapitäns Stirn, und der Ton seiner Stimme sank, als er dumpf wiederholte: »Stand – auch – am ersten März, Knudt Klähn. Mir saust der Wind in den Ohren seit dem ersten März. Ich werde sein Rauschen nicht los. Immer braust er und will nicht schlafen, und ich hör' ihn doch draußen gar nicht laufen. Wenn ich ihn die Hollerbüsche nicht biegen sähe, so wüßt' ich nicht einmal, daß er da ist. Ich glaube, ich werde taub, Knudt Klähn.«

Ocke Frerksen schaute nach diesen Worten lange stumm auf die Diele. Es war nichts vernehmbar als der sanfte Schlag der Lippen an den Saugrohren der Pfeifen und der Schritt des Uhrpendels im Kasten.

Um den Mund Kapitän Frerksens wurden die Falten des Leides tiefer, als er wieder zu reden begann: »Ich weiß wohl, Ihr glaubt das nicht. Aber wenn die Nacht kommt, kann ich den Schlaf nicht mehr finden; das Rauschen in den Ohren weckt mich immer wieder auf. Darum laßt mich heute noch eine Stunde bei Euch. Mein Weib schläft schon. Und die beiden Jungen schlafen auch. Vorhin war's – da hab' ich an ihren Bettschränken gestanden und gelauscht, aber ich hörte sie nicht atmen. Das macht das Rauschen in den Ohren; es ist wie der Klang in den Muscheln des Watts. Ich will fortan nicht mehr fahren, Klähn. Es war zu furchtbar.«

Der Kapitän schwieg wieder, stützte die Arme in den Ellbogen auf die mächtigen Knie und sann zurück in die Sturmnacht des ersten März – in jene Sturmnacht, in welcher der »Amilhujo«, dessen Kapitän Frerksen gewesen war, Schiffbruch gelitten hatte.

Da brach Jochen Klähn das bange Schweigen: »Das Wrack des ›Amilhujo‹, das solange draußen auf dem Sande gelegen hat, ist übrigens fort und auf Knudts-Hörn aufgetrieben. Wir sahen's diesen Nachmittag gehen – es trieb immer die Norderaue entlang.«

Der Kapitän hörte nur mit halbem Ohre hin. »Woll, woll ... es war zu furchtbar.«

Und weil Frerksen so redete, merkten die beiden, er hatte nicht verstanden, was ihm Jochen Klähn berichten wollte. Sie schauten sich beklommen an.

Überdem sprach der Kapitän weiter, mehr zu sich als zu den anderen: »... um ein Uhr nachts war Jürgen Bonken noch an Bord. Ich stand an Achterdeck, und der Wind lief steif von Nord-Nordwest. Da gab's kein Kommando mehr. Nur der Sturm brüllte. Jeder tat, was er zur Rettung seines Lebens für gut hielt. Und die Sturzsee kam und schlug mich gegen die Bordkante; das hab' ich mit diesen beiden Zähnen bezahlen müssen. Und wie sie vorüber war, waren wir nur noch ihrer drei; die übrigen hatte die See über Bord gespült. ›Jürgen Bonken!‹ rief ich und noch einmal: ›Jürgen Bonken!‹ Aber Jürgen Bonken war nicht mehr da. und er hat keinen Ruf mehr getan ... Meiner Meinung dreiviertel Meile nördlich Norderhörn. Wir mußten wohl gegen Marschnack auftreiben. Das wäre gut gewesen, wenn wir nur hätten Ketten ausstechen können. Aber wir hatten ja keinen Anker mehr! Und dann kam das Licht. Es war ein Nebel wie nie zuvor. Da stieß der ›Amilhujo‹ durch und saß fest. Und ich sah: von allen Bootsleuten waren nur noch Karsten Hansen und Momme Tamen übrig, die hatten sich mit Tauen an die Maststümpfe geschlungen ... wir hatten Leck ... und wie die See wieder anstürmte, da rief Momme Tamen: ›Kapitän, hörst Du mich?‹ – ›Ja, Tamen, ich höre!‹ – ›Kapitän, wenn Du diese Nacht überlebst, so sorg für mein Kind, Kapitän! Gott lohn Dir's!‹ So bat Momme Tamen. Es war bitter kalt ... Da ist dem Manne das Herz erfroren ... Weiter weiß ich nichts mehr, Knudt Klähn.« –

Das trübe Schweigen wollte sich wieder über die drei legen, aber Knudt Klähn verscheuchte es: »Hm. Auch Karsten Hansen war totgeblieben. Seine Kleider starrten vor Eis. Es war gegen Mittag, als wir die Boote zu Eurer Rettung an das Wrack heranbrachten, das wir wegen des Nebels ja nicht früher sehen konnten. Und dann haben wir drei Tote herübergefahren, drei Tote ...«

Dem Schiffer Klähn stockte das Wort im Munde –

»... von denen Ocke Frerksen wieder lebendig ward!« ergänzte der Kapitän dumpf und saugte hastig an der erkalteten Pfeife.

Sie redeten noch eine Weile, und der Wind ward lauter und lief geschäftiger um die Häuser der Werft.

Frerksen klopfte die Asche aus dem Kalkstummel: »Drei Tote – Karsten Hansen und Momme Tamen haben sie begraben – und Ocke Frerksen ist auch nicht wieder richtig lebendig geworden ...«

Frau Goede Klähn goß den braunen Tee in die flachen Schalen; aber das Herz des Kapitäns fand sich in dieser Nacht nicht heim in die Traulichkeit dieses Hauses. Die Schrecken des Sturmes, der den »Amilhujo« in wildem Spiel über die nachtschwarzen Wogen getrieben hatte, bis er ihn zerschellte, krochen heute wie Gespenster um Ocke Frerksen. Und wie ein Gespenst scheuchte die bange Ahnung alle Freude von dem alten Manne, die bange Ahnung, daß er nie wieder in einen Sturm auf der See sein Kommando rufen werde.

Gegen Mitternacht sprang der Wind um und lief nun von Nordwesten über das Eiland.

Da drückte sich der Kapitän den brüchigen Südwester fest auf die Ohren und ging heim. Wie er sich an dem feuchten Zaun entlanggriff, weil die Wolkengespenster das Licht der nächtlichen Himmelslampe mit nassen Fingern ausgetan hatten, hielt er die Hand prüfend in den Wind und wandte sich um.

»Nordwest! Siehst Du, Knudt Klähn. ich hab' das Nordlicht gesehen!« rief er dem Schiffer hinüber, der gerade die Haustür schloß.

Und Frerksen kam nach Hause und saß noch lange im Lehnstuhl, sann im Lehnstuhl und dachte der Zeit, in der er den Tod erlebte und wieder erwachte.

Vier Wochen waren seitdem vergangen; vier Wochen war Jürgen Bonken tot, und ebensolange war Ipke Tamen, der neunjährige verwaiste Junge, im Hause Ocke Frerksens und nannte den alternden Mann »Vater«.

Und wie er so sann und wie ihm die kurze Kalkpfeife immer wieder zwischen den Zähnen kalt wurde, trat er plötzlich an das Fenster und horchte hinaus. Er wußte: der Wind steht steif aus Nordwest, und der Wind singt um die Dächer und Giebel. Aber Frerksen hörte ihn nicht. Und er starrte vor sich in die Nacht und nahm eine Lampe von dem Wandbrette. Die zündete er an und nagelte sie auf die Fensterbank, daß sie ihren goldenen Schein in das Dunkel werfe, weit hinaus auf die See – ein Wegweiser für die, die draußen sind. Und die Lampe hat seit jener Stunde in jeder Nacht auf dem Fenster in des Kapitäns Hause gebrannt.

 

Fußnoten

 

1 Getrockneter, strohfreier Kuhdünger, der auf den Halligen als Brennmaterial benutzt wird.

 

3.

Wie der graue Morgen nach einer verstürmten Nacht im Nebelmantel gekommen war, befand sich Knudt Klähn mit seinem jüngeren Sohne Jens bereits unten am breiten Priel, an dem Jochen gestern abend das Boot verankert hatte. Der Nebel schlug sich nieder, und das Segel des Bootes wurde gehißt. Ein günstiger Wind trieb das Schifflein vor sich her, jener Stelle entgegen, an welcher im Frühlichte die verschwommenen Umrisse der kleinen Hallig Habel mit der einzigen Werft sichtbar wurden.

Währenddem saß Jochen Klähn mit Urgroßmutter Eike in der Stube, nähte ein Segel aus rotbraunem Linnen und erzählte der greisen Frau, die zeitweilig das Spinnrad in Bewegung setzte, von der Sorge des Kapitäns.

»Olk«, sagte Jochen, »Ocke Frerksen ist bis Mitternacht geblieben.«

Wie die Alte von Ocke Frerksens Leid erfuhr, zerbrach ihr der Faden zwischen den zitternden Fingern; sie legte die Hände in den Schoß und sann mit geschlossenen Augen zurück in eine ferne Zeit. Unter der schwarzen Friesenhaube hervor fielen die dünnen schneeweißen Strähnen ihres Haares, liefen um die faltenreiche Stirn und ringelten sich vor den Ohren zu silbernen Schnecken, deren jede von einer schwarzen Nadel durchstochen war.

Wie schlummernd saß die Greisin lange gegen die Rückenstütze des Holzstuhles gelehnt. Um ihre Lippen kam jenes Zucken, das die tiefen Falten ihres Gesichts in seltsamem Spiele bewegte.

»Was sinnt Olk Eike?« fragte Jochen Klähn, dessen Nähfaden durch das braune Segeltuch glitt.

Da faltete die greise Frau die Hände. »Ich denke daran, daß Dein Großvater und der Kapitän zusammen Kinder waren und daß beide die blaue Ader über der Stirn hatten. Die Leute sagen, sie sind gezeichnet gewesen. Deinen Großvater, den ältesten meiner Söhne, hat die See verschlungen, und von den Halligleuten ist keiner unglücklicher gefahren als Ocke Frerksen ...«

Dann verfiel die Alte in stummes Sinnen, und als sie wieder zu ihrem Urenkel herüberblickte, der auf der Schiffskiste saß, da war's, als besinne sie sich auf etwas. Jochen Klähn wunderte sich darüber nicht. Die Alte sprach oft zusammenhanglos, zerrissen, und jetzt sagte sie: »Hast Du Nägel aus dem Schränklein bei dem Wandbrette geholt?«

Jochen Klähn merkte, daß die Neunzigjährige sich wohl noch nicht recht aus der anderen Zeit zurückgefunden hatte, in der sie soeben mit ihren Gedanken gewesen war.

»Nägel?« fragte Jung Jochen. »Wann hat denn Großmutter das wahrgenommen?«

»In dieser Nacht.«

»Nein, Olk.«

»So war's Dein Vater?«

»Nein.«

»Ich hab's aber gehört.«

»So hat Urgroßmutter geträumt.«

Aber Olk Eike sträubte sich: »Nein, Kind, nein; denn ich saß wach im Bette, saß lange wach; der Husten kam so oft und weckte mich immer von neuem. Es war längst Mitternacht vorüber. Ich hörte den Wind und wußte: er läuft nun aus Nordwest. Ich meine, wenn ich deutlich vernommen habe, daß der Wind sich wendet – denn er hat eine andere Stimme, wenn er über die See her läuft – so wird das mit den Nägeln wohl auch richtig sein.«

Jochen Klähn suchte die Alte auf andere Wege zu führen. »Ocke Frerksen hat das Nordlicht gesehen«, berichtete er geschäftig, »und Frerksen sagt: wenn das Nordlicht steht, wechselt das Wetter. Der Kapitän hat recht gehabt.«

Jochen hoffte, Großmutter Eike werde nun vergessen haben, was sie in der Nacht gehört haben wollte. Aber die Alte begann von neuem: »Und wie ich so wach saß und den Schein aus Frerksens Fenster gehen sah, der bis hinunter über die Fenne lief, da sah ich auch, daß sie mir das Sterbehemd anzogen.«

Die Alte sprach leise, sprach aber mit der Ruhe und Sicherheit, mit welcher sie immer berichtete, wenn sie das »zweite Gesicht« gehabt hatte.

»Olk hat geträumt«, warf Jochen Klähn ein, legte das Segellinnen beiseite und trat ans Fenster.

»Nein, ich habe das gesehen. Dort hab' ich gesessen, dort stand ein Stuhl, dort das Waschwasser, dort lag die Seife ...«

Die Alte deutete und erzählte umständlich, sie erzählte immerfort, und in ihre Augen kam der Glanz, der sommertags in ihnen war, wenn sie einen Sonnennachmittag von dem Stuhl an der Rückwand des Hauses über die blendende See geschaut hatte. Dann lag die Bibel auf ihrem Schoße, und sie blätterte in dem alten Buche; aber sie las nicht darin. Sie konnte das Evangelium auswendig. Und ihre Augen taugten längst nicht mehr, Gedrucktes zu sehen. So dämmerte sie auch jetzt vor sich hin, als sie ihre Augen nach dem Berichte über die Erscheinung der letzten Nacht geschlossen hatte.

»Wo ist Dein Vater?« fragte sie Jochen Klähn nach einer Weile.

»Er ist nach Hallig Habel gesegelt und hat Jens mitgenommen. Sie wollen schauen, wie's drüben steht; denn die Leute haben gestern erzählt, Tante Sikke sei fort.«

Da ließ die greise Frau den Faden ihren Händen abermals entgleiten: »Sikke ist fort – von meinem Sohne Ketel?«

Jochen Klähn nickte lachend: »Olk sagt recht – von Onkel Ketel. Aber nun muß Vater bald zurück sein; denn sie sind schon mit dem Frühlichte fort und haben guten Segelwind.«

Olk Eike hatte den Faden, der ihr vorhin zwischen den Fingern zerbrochen war, noch nicht wieder aufgenommen. Und nun, da sie erfahren, was man ihr gestern verheimlicht hatte, da sie erfahren, daß die Frau Ketel Klähns den einsamen greisen Mann auf dem kleinen Eilande Habel verlassen habe, mit dem sie die Inselstille über dreißig Jahre geteilt hatte, nun schloß sie ihre müden Augenlider. Es war, als wolle sie das Leid vorübergehen lassen, das ihr in dieser Nachricht entgegenkam. Dann legte sie die zitternden Hände auf die Knie: »Es hat kein guter Stern über meinen Kindern geschienen: Deinen Großvater nahm mir die Flut; und Ketel ist der letzte meiner Söhne und hat ein Menschenalter mit der See gekämpft. Sie hat ihn nicht verschlungen; aber sein Kampf gegen sie war lang und vergeblich. Sein Leben war ein Leben voll Mühe und Arbeit – ich weiß, sie sagen: das wär' ein köstlich Leben. Die See hat sein Land gefressen, und er hat ihr nicht wehren können. O, die Macht der See ist größer als Menschenmacht; und die Weisheit Gottes ist höher denn Menschenweisheit. Er vertilgt Deine Hallig und, Ketel, mein Sohn, Du hältst sie nicht!«

Die Alte hob die Hände wie eine Seherin. –

Wie Jochen Klähn einen Blick durchs Fenster tat, erkannte er die Umrisse der einzigen Werft auf Habel noch deutlicher; denn der Tag war sonnenklar geworden. Aber die Alte sah nicht mehr in diese Fernen.

Und jetzt redete sie mit sich: »In dem Jahre nach der großen Flut ist er geboren. Wie alt ist Onkel Ketel dann?«

»Fünfundsechzig Jahre«, rechnete Jung Jochen.

Die Alte wiederholte die Zahl dieser Jahre mit einem verwunderten Schütteln des Kopfes. »So mag er es nicht mehr erleben, daß seine Heimatscholle unter ihm fortbricht, daß ihn auch die Heimat verläßt, wie ihn die Liebe verlassen hat. Wie lang ist's doch, daß sie sich hatten – Ketel und sein Weib Sikke? Dänisch waren wir noch – ganz richtig, noch lange dänisch.«

Jochen Klähn rechnete: »So mögen's mehr denn dreißig Jahre sein.«

Da lachte die alte Frau, und das Lachen war doch schon seit einem Menschenalter auf ihrem welken Antlitz gestorben gewesen.

»Wir hören immer die See rauschen«, pflegte Urgroßmutter Eike zu sagen, »und wir hören, wie der Wind weht und sich mit den Wogen beredet; und Wind und Wogen führen sonderen Zwiespruch. Der stimmt sich unsere Seelen, und wer ihn versteht, bei dem hat die laute Freude hinfort keine Statt.«

Aber heute lachte Eike Klähn, deren Enkel der Schiffer Knudt Klähn war, der vierzigjährige, trutzige, tapfere Mann, dem der Seewind das Herz hart gemacht hatte, hart wie Erz mit seinem Mut, aber weich – und rein und blank wie eine Kirchenglocke: so läutete dies Herz durch Knudt Klähns Tage, und Jochen Klähn, der Sohn, ging dieser Glocke nach und ließ sich von ihr den Weg weisen.

Wie der Junge jetzt gegen den Strand blickte, sah er, daß drunten ein braunes Segel inselwärts flog.

»Das Boot ist in Sicht, Olk!« verkündigte Jochen.

Und nicht lange, so hatte es an der Halligkante angelegt und das Klüwer fuhr dal.

Der zehnjährige Jens stürmte alsbald die Werft herauf und sprang durch die Tür. Sein Auge strahlte eine lustige Botschaft vor ihm her.

»Sie ist wahrhaftig fort, Tante Sikke ist fort! Und was sie getan hat? Einen Brief hat sie an Onkel Ketel geschrieben, in dem steht: ›Du brukst mi gor ni to bitten, ik komm doch ni!‹« So berichtete er hastig und lachend.

»Und Onkel Ketel?« unterbrach Jochen den stürmischen Jungen.

»O, Onkel Ketel hat gesagt, sie hätt' ihren Witz nicht mehr, hat die weißen Haare aus seiner Stirn gestrichen und gemeint: ›Ik hev ihr schrewen: Bitten tu ik Dich ni; wenn ik Di langen kunt, wull ik Di bieten (beißen)!‹«

So schrieb Ketel Klähn im fünfundsechzigsten Jahr seines Lebens, im sechsunddreißigsten seiner Ehe. Bei Ketel Klähn war der Humor zu Gast, nachdem der Mann ein Menschenalter hindurch mit seiner Mühe und mit seiner Sorge Götzendienst getrieben hatte.

Weltverloren lag das Eiland Habel draußen in Wind und See, auf dem Ketel Klähn, Olk Eikes jüngster Sohn, seine Siedlung sich gebaut hatte. Er hatte auf dem flachen Grasland, das kaum ein halbes Meter über den Spiegel der See herausragte, die Werft aufgeworfen und seine Hütte auf diese Werft gestellt.

Keiner hatte ihm dabei geholfen; und keinen hatte nach Ketel Klähn noch gelüstet, die verlorene Stille von Habel mit ihm zu teilen.

Und als er vor einem Menschenalter seine Werft und sein Haus auf die Scholle inmitten der rollenden Flut gestellt hatte, die ihn von Stund' an zum Kampfe herausforderte, da warb er um Sikke. Mit Frau Sikke und mit der endlosen Einsamkeit hatte er seine Tage verlebt und war darüber ein alter Mann geworden.

Manchmal, wenn Ketel Klähn an der Kante seiner Hallig dahinschritt und über die blanke See schaute, tauchten die Umrisse von Klähns Hallig aus der Klarheit des Tages: dort drüben lebte Eike Klähn, seine Mutter, ihr Leben zu Ende.

Und oft war ihm, als sei ein Rufen in dem Licht über der Flut: das Rufen einer Mutter, die dem einzigen Sohn, den ihr die See gelassen hatte, noch ein Wort zum Abschied aus dem Leben sagen wolle.

Und in solchen Stunden zog der Einsiedler von Habel das Segel seines Bootes hoch und steuerte gegen Klähns-Hallig.

Aber so oft er kam – immer fand er die Alte in gleicher Stetigkeit und Stille am Spinnrad sitzen. Oder er fand sie an der Sonnenwand von Knudt Klähns Hause, wie sie über die See schaute, als erwarte sie noch eine späte Freude. Und wenn sie auch immer ein wenig müder geworden war, an das Sterben dachte Eike Klähn nicht.

Und mählich bleichten die Jahre Ketel Klähns blondes Haar und machten es silbern wie das der Mutter. Aber seinen Mut im Kampfe gegen die See und seinen Willen brachen sie ihm nicht.