Jakob Wassermann: Selbstbetrachtungen

 

 

Jakob Wassermann

Selbstbetrachtungen

 

 

 

Jakob Wassermann: Selbstbetrachtungen

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

ISBN 978-3-7437-0713-9

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-0657-6 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-0658-3 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: S. Fischer, Berlin, 1933 mit der Widmung »Marta zugeeignet«.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

Der Schriftsteller findet sich heute in einer ganz andern sozialen und seelischen Lage als noch vor dreißig Jahren. Als ich meine ersten Arbeiten veröffentlichte, war man als Literat eine Luxusfigur, und das war noch der beste Fall, im schlimmsten stand man auf einer heimlichen Ächtungsliste. Das Verhältnis des Bismarckschen Deutschland zu seinen geistigen Repräsentanten war von einem unbesieglichen Mißtrauen bestimmt. Ich las neulich in den Erinnerungen eines Zeit- und Altersgenossen das amüsante Wort eines gebildeten Hocharistokraten: ein Dichter, sagte er, ist für mich erst vorhanden, wenn er fünfzig Jahre tot ist. Bezeichnend für eine Epoche des Alexandrinismus, der die Überlieferungen des achtzehnten Jahrhunderts und die unausschöpfliche Goethesche Welt zum Bildungsfutter geworden war, mit deren geistigen Waffen sie einen geistigen Terror ausübte. Man mußte schon hochbejahrt sein und nirgends Anstoß erregt haben, um offizielle Geltung zu erlangen, die gesellschaftliche Zugehörigkeit wie in Frankreich, die politische wie in England, die volksmäßige wie in Rußland war ein belächelter Traum, man war immer außerhalb des lebendigen Bezirks, immer in einer Fluchtbewegung; wir jungen Leute fühlten uns damals durchaus als Zaungäste der bürgerlichen Gesellschaft und waren es auch; wir saßen gleichsam am Katzentisch, und mit nicht besonders festlichen Mienen, wie sich denken läßt, so daß die Herrschaften an der großen Tafel den Lakaien bisweilen einen Wink gaben, sie sollten aufpassen, damit nicht die silbernen Messer und Gabeln unversehens verschwänden. Jede Zeitwende bricht mit den abgelebten Traditionen; ein kranker Organismus erliegt entweder, weil seine erneuernden Kräfte verkümmern, oder er rettet sich durch eine katastrophale Revolte dieser Kräfte. Erst seit der Erschütterung des gesellschaftlichen, politischen und sozialen Gefüges ist in diesem Bezug die Wandlung eingetreten. Der Prozeß ist noch im Fluß.

 

Wenn ich hier vom Schriftsteller spreche, so meine ich den formenden, deutenden, gestaltenden, der die in die Menschengemüter eingebrochene Verwirrung und Ratlosigkeit durch Bild und Wegweisung aufhebt oder wenigstens aufzuheben trachtet. Damit ist schon sehr bestimmtes Wirkungsfeld umrissen und bei den Empfangenden auch eine bestimmte Erwartung vorausgesetzt, die sich mit den Anschauungen früherer Zeiten nicht mehr deckt. Die Grenzverschiebung hat nach einer Seite hin stattgefunden, wo vordem ein angenommener und etwas hochmütiger Begriff von Kunst herrschte, in den nach und nach das brutale Leben eingedrungen ist und die beamteten Parkhüter vertrieben hat. Als man noch auf einer akademischen Unterscheidung zwischen Dichter und Schriftsteller bestand, glaubte man an eine Art göttliche Weihe des einen, damit man den ändern desto bequemer unter die profanen Handwerker reihen konnte. In der antiken Welt gab es den Schriftsteller im heutigen Sinne nicht; wo nicht Berufung war, kam es gar nicht zum Beruf, einer war Seher oder Lehrer oder beides, der Dichter jedenfalls beides und noch etwas dazu, was ihn dem Halbgott näherte, nicht durch seinen Anspruch, sondern im Gefühl der Nation und von der Ferne der Betrachtung aus. Ich würde niemals wagen, mich Dichter zu nennen, es liegt etwas so Überhebliches darin, als wollte man sich selber einen Propheten heißen; ist doch die Kenntnis des Handwerks auch bei Zünftigen oft so gering, daß man sich des Handwerks als solchen rühmen darf, wenn man es auch nur zu einiger Vollkommenheit darin gebracht hat. Das Wort Schriftsteller ist freilich ein ledernes, fast ein gemeines Wort, ich weiß nicht, aus welcher gottverlassenen Gegend und Zeit es stammt. Und gar Romanschriftsteller, wie umständlich, wie lehrhaft, man begreift, daß sich die Deutschen so schwer daran gewöhnt haben, daß es dergleichen geben soll und einer damit etwas vorstellt. Als ich anfing, Romane zu schreiben, war es eine in jedem Betracht fragwürdige, in manchem sogar anrüchige Beschäftigung, man konnte auch nicht hoffen, seinen Unterhalt damit zu verdienen, trotzdem es die Zeit war, in der Europa vom Ruhm der Zola, Maupassant, Dickens und Tolstoi widerhallte. Aber das waren Ausländer; Ausländer sind von vornherein gefeit; der Deutsche traut dem Deutschen nur widerwillig eine Besonderheit zu; darin ist er dem Juden verwandt. Man hatte als Werdender wenig Stützpunkte und geringe Aussicht, einen Widerstand zu besiegen, der seine wirksamsten Argumente aus dem Argwohn gegen alles Schrifttum, alle höhere Literatur bezog. Aber was schwebte mir vor? Was war der Antrieb? Zunächst vielleicht nur die stimmungshafte Zusammenfassung von Erlebnissen. Dazu ein tief wurzelndes Verlangen nach Rechenschaftsablegung, das in der Umwelt die Figurationen suchte, mit deren Hilfe sich Wege zu einer geläuterten Existenz finden ließen. Als drittes und mächtigstes der elementare Hang zum Bild, das nicht bloß die aufgesammelten und wie in einem Brennpunkt vereinigten Erfahrungen des eignen Lebens, sondern die der menschlichen Gesellschaft überhaupt widerspiegeln sollte. Kein Programm, kaum eine klare Vorstellung, nur dumpfe Erfülltheit, die sich rhythmisch auswirkte und um den gemäßen Ausdruck rang, um die präexistente Form, die nur sichtbar gemacht werden mußte. Das allerdings, die Sichtbarmachung, erfordert ein ganzes Leben, und immer, wenn man einen Zipfel des Geheimnisses gefaßt zu haben glaubt, wird es noch unergründlicher.

 

Form und Form ist aber zweierlei; es gibt eine zufällige, aktuelle, dem Gebrauch dienende, und die geborene, gewachsene, organische Form, individuell, einmalig und nie wiederkehrend. Die zunehmende Popularität des Romans hat diese Kategorien allmählich verwischt. Es ist kein Gericht mehr da, wenigstens kein anerkanntes, weil die alten Gesetze nicht mehr anwendbar sind. Alle versuchen alles, so entsteht ein Chaos, aus dem sich neue Gesetze möglicherweise bilden. Als Grad- und Wertmesser bleibt dann nur die Wirkung übrig, aber da unser Gedächtnis für Wirkungen unzuverlässig ist, werden auch die Maße unzuverlässig, und die Fähigkeit zu Vergleichung und Rangunterscheidung verkümmert nicht nur, sondern es tritt auch eine gewisse Ausleseträgheit ein, die sich dem Geschmack, dem Eindruck, dem Augenblicksbedürfnis unterwirft und auf Urteil und Wertesetzung im Sinne der Kategorien verzichtet. Ein davon abgetrenntes Urteil hat aber keine reine Beweiskraft. Trotzdem, und das ist das Überraschende, ist die Welt zu keiner Zeit so reich an Büchern gewesen, die unableugbare Wahrheitszeugnisse darstellen, Zeugnisse in einem Prozeß, der Tag für Tag vor den Augen der gesamten Menschheit verhandelt wird und in dem sie Ankläger, Angeklagter und Richter zugleich ist. Es ist als wären zahllose Zungen gelöst worden, die vorher stumm waren, als wäre die Binde von zahllosen Augen gefallen, die vorher blind waren. Die Frage: Kunst oder Nichtkunst stellt sich unter diesen Umständen nicht mehr, wenigstens im Vordergrund nicht, eine andere stellt sich, die der Not, sittlichen, seelischen, geistigen, physischen Not. Ich kann ohne Übertreibung behaupten, daß mir fast jede Woche einmal ein Buch unterkommt, das mir einen vorher noch nicht enthüllten Lebensausschnitt bietet, und mehr noch, mir die Wurzeln eines Geschehens bloßlegt, das ich vorher nicht hätte verstehen können, und mehr noch, mich moralisch mitverantwortlich macht für Zustände und Verbrechen, die das Gewissen des gesamten Volks, ja unseres ganzen Kulturkreises beunruhigen. Sie haben zwar nicht die Gewalt der großen Kunstwerke, viele haben mit Literatur kaum noch etwas zu schaffen, darauf kommt es bei der unüberhörbaren Stimme, mit der sie sich vernehmen lassen, nicht mehr an. Die vorhandenen Begriffsbestimmungen werden stets durch die Erscheinungen gezwungen, sich zu erweitern; und so sind diese Bücher Beiträge zur Zeitgeschichte, Dokumente, Manifeste, Bekenntnisse, Aktenstücke aus dem »großen Prozeß«. Am deutlichsten erkennt man zum Beispiel am jüngsten amerikanischen Schrifttum die Entstehung neuer Anschauungen, neuer Traditionen und eines neuen Stils. Es ist riesiges Material für einen Zukunftsbau, fruchtbarer Humus für künftiges Wachstum. Wenn ich dreihundert Jahre alt würde, könnte ich mich allenfalls überzeugen, ob ich mit dieser Prognose recht habe. Aber wer zu hören und zu lesen versteht, gewinnt aus den fragmentarischen Darstellungen mehr Einblick und Aufschluß als durch jahrzehntelange soziale Studien.

 

Die Vielzahl der Erscheinungen bewirkt natürlich, daß das einzelne Gebilde losgelöst dasteht, nicht mehr als Glied in der Kette, unbezogen auf das Totale und hauptsächlich auf die Entwicklung seines Schöpfers. Das Gefühl der Folge geht verloren. Merkwürdig, daß das Wort Folge das Wort Erfolg aus sich herausgebildet hat, das dann zu seinem Vernichter geworden ist. Erfolg ist nicht bloß ein Endpunkt, sondern bedeutet die Überbelichtung einer Tat oder eines Ziels und die Verdunkelung der Wege und Stationen, die dazu geführt haben. Eine Quelle beständigen Leidens für den, der sich seines stufenmäßigen Ganges bewußt ist und dem jede Stufe einen wichtigen Teil des Weges bedeutet. Es nimmt dann alles einen so zufälligen Charakter an, als ob man selber nur ein Kind des vorübergehenden Tags wäre und hinter dem jeweils letzten Produkt sich ein Vakuum ausdehnte. Das Einzige, was Bindung und Zusammenhang schafft, ist zur Not der Name, jedoch der Glaube, der sich auf den bloßen Namen stützt, ist Aberglaube. Es ist ein ungesunder Zustand des Kreditwesens, auch im Geistigen, wenn man sich immer wieder dort legitimieren soll, wo man bereits unwiderlegliche Beweise für seine Identität geliefert hat. Die Notwendigkeit des Ichseins ist ohnehin eine fortwährende innere Belastung: eine Erkenntnis, die zu den wesentlichsten der neueren Psychologie gehört und in das ganze Problem von Individualismus und Kollektivismus schlägt. Sie ist bei mir sehr früh entstanden, schon im Caspar Hauser bricht sie durch. Sonderbar, daß man das eigene Ich nur durch den Namen gültig fortsetzen kann. Das geistige Gesicht hat eben vorläufig noch keine so unverkennbare Prägung wie das physische; in unserm Paß ist kein Platz vorgesehen für die Werke. Da keine Kontinuität der Wirkung besteht, hat der Schaffende das Gefühl, als verschlinge der Name sein Werk, und wenn man nachprüft, muß man zugeben, daß die größten Taten der Geschichte viel mehr an Namen geknüpft sind als an Inhalte, das heißt, die Namen werden zu starren Masken, hinter denen kein Leben mehr ist. Ich bin fast sicher, daß jeder Ruhm eine Art von Maske ist und sich von einem tiefen Mißverständnis nährt, mit dem sich die Menschheit über einen unlösbaren Konflikt hinweghilft, dem zwischen der augenscheinlichen Unwirksamkeit auf die Vermehrung der Glücksmöglichkeiten.

 

Die Frage ist oft gestellt worden, ob Ruhmsucht zu den ursprünglichen Trieben der menschlichen Natur gehört. Jedenfalls unterscheidet sie sich grundsätzlich vom bloßen Geltungsbedürfnis und dessen stärkster Form, dem Ehrgeiz, auch dem edelsten. Es ist ein metaphysischer Hang, der ihr zutiefst innewohnt, die Sehnsucht nach Fortdauer des Wesens unter Verzicht auf Fortdauer des Seins, die als unerfüllbar erkannt wird. Der erste Gedanke meines erwachenden Bewußtseins war Ruhm, er verdrängte in meinem Kindesalter alle ändern Begierden, und wenn Goethe sagt, was man in der Jugend sich wünscht, hat man im Alter die Fülle, so erweist sich gerade hier die abgründige Ironie, die in dem Satz steckt, denn Ruhm ist durchaus die Illusion der ändern und erhöht das Daseinsgefühl dessen, der ihn besitzt, immer nur um so viel, als er mit seelischer Mehrleistung bezahlt. Dieser innere Einsatzzwang beraubt ihn der Möglichkeit, einen Zustand zu genießen oder Vorteil aus ihm zu ziehen, der stets in Gefahr ist, sich selbst aufzuheben, weil er ja im reinen Sein keine Entsprechung hat. Selbst die berechtigtsten Unsterblichkeitshoffnungen scheitern, wenn wir sie an der Unendlichkeit der Zeit messen; darüber habe ich in früheren Jahren oft mit meinem verstorbenen Freund Arthur Schnitzler debattiert; als ich mich eines Tages wieder heftig ins Zeug legte, hielt er mir ungeduldig entgegen: was wollen Sie denn mit Ihrem bißchen Unsterblichkeit? Gut, ich gebe Ihnen hundert Jahre; und die anderen fünfmalhunderttausend? Das brachte mich natürlich zum Schweigen, aber wenn ich in einer schönen Nacht den Sternenhimmel betrachte, will es mir in meiner Torheit noch immer scheinen, daß er mir die Gewähr gibt für eine andere Verwirklichung als die mit der Vernunft umspannbare.