Alexander Eliasberg: Sagen polnischer Juden

 

 

Alexander Eliasberg

Sagen polnischer Juden

 

 

 

Alexander Eliasberg: Sagen polnischer Juden

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

ISBN 978-3-7437-1510-3

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-7437-1181-5 (Broschiert)

ISBN 978-3-7437-1490-8 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

München: Georg Müller, 1916 mit der Widmung »Meinem Sohn Paul«.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Eliasberg, Alexander: Sagen polnischer Juden. Ausgewählt und übertragen von Alexander Eliasberg. München: Georg Müller, 1916.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Einleitung

Alle in diesem Buche enthaltenen Geschichten hängen innigst mit der chassidischen Richtung im Judentume zusammen. Es ist daher wohl angebracht, an dieser Stelle auf den Chassidismus einzugehen, der zu den interessantesten religiösen Erscheinungen der neueren Zeit gehört.

Die gesamte osteuropäische Judenheit zerfällt in zwei religiöse Richtungen: Misnagdim und Chassidim. Während die ersteren (die in der überwiegenden Majorität sind) religiös den westeuropäischen Juden entsprechen, stellen die Chassidim eine verhältnismäßig neue, erst in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts entstandene und nur in Osteuropa verbreitete Richtung dar. Der Chassidismus kann nicht als Sekte bezeichnet werden: er ist eben nur eine geistige Strömung innerhalb der gleichen Konfession, und es gibt zahllose Juden, die auf dem Grenzgebiet zwischen den beiden Strömungen stehen. Im folgenden bringe ich zunächst (nach S. Dubnow, dem verdienstvollen russisch-jüdischen Historiker und Erforscher des Chassidismus) die für die Geschichte dieser Strömung außerordentlich wichtige Lebensgeschichte ihres Stifters, des Rabbi Israel Baal-Schem, der zudem im Mittelpunkte der meisten Sagen dieses Buches steht.

Rabbi Israel ben Elïeser Baal-Schem-Tow (wörtlich: Meister des guten, d.h. göttlichen Namens; meistens abgekürzt »Bescht« genannt) wurde geboren im Jahre 1698 im Städtchen Okup an der polnisch-rumänischen[9] Grenze. Er verlor sehr früh beide Eltern und wurde auf Gemeindekosten großgezogen. Schon in der Schule zeigte er den Hang zum Träumen und Phantasieren und eine für den Ostjuden ungewöhnliche Liebe zur Natur. Er lief oft aus der Schule fort und verbrachte ganze Tage in Wald und Feld. Seine Lehrer kämpften dagegen vergebens und jagten ihn schließlich aus der Schule. Nun konnte der junge Israel nach Herzenslust in der freien Natur umherstreifen. Dieser Umstand war von größter Bedeutung für seine weitere Entwicklung.

Mit zehn oder elf Jahren bekam Israel die Anstellung als »Belfer« (Behelfer), d.h. Lehrergehilfe, der die jüngsten Kinder (es sind oft Fünf- und Sechsjährige) von zu Hause abzuholen und in die Schule zu begleiten hat, um sie nach dem Unterricht wieder heimzubringen. Er versah dieses Amt mit großer Liebe und fühlte sich in Gesellschaft von Kindern besonders wohl; auch die Kinder liebten ihn. Er erfand für sie neue Weisen, nach denen auf dem Wege zur Schule allerlei Gebete gesungen wurden. Er selbst betete mit ungewöhnlicher Inbrunst und lehrte auch die Kinder ebenso beten.

Mit dreizehn Jahren wurde er Gehilfe des Bethausdieners. Untertags, solange das Bethaus voller Menschen war, pflegte er zu schlafen oder sich bloß schlafend zu stellen. Doch des Nachts, wenn das Bethaus leer war, betete er mit starker Inbrunst oder studierte heilige Bücher. Beim Morgengrauen legte er sich wieder schlafen, damit die Leute nicht erfahren, daß er aufgewesen[10] war. Die Leute hielten ihn auch für halb verrückt, allein das rührte ihn nicht.

Schon um jene Zeit befaßte sich der junge Israel viel mit der Kabbala und studierte sie nicht nur aus Büchern, sondern auch aus alten seltenen Handschriften, die ihm, nach der Legende, ein geheimnisvoller Wundertäter Reb Adam vermacht hatte (vgl. Sage 2).

Mit siebzehn Jahren wurde er verheiratet, doch seine Frau starb bald nach der Hochzeit. Der junge Bescht verließ darauf Okup und ließ sich in einer kleinen Stadt in der Nähe von Brody als Lehrer für kleine Kinder nieder. In diesem Städtchen erlangte er durch seinen milden Sinn, großen Verstand und tiefe Frömmigkeit allgemeine Achtung, so daß die Leute anfingen, sich an ihn mit allerlei rituellen und rechtlichen Fragen zu wenden. Bei einem solchen Rechtsstreite lernte ihn Reb Awrohm, der Vater des berühmten Broder Rabbiners Reb Gerschon Kutower, kennen; er gewann ihn so lieb, daß er ihm seine Tochter zur Ehe anbot. Israel willigte darauf ein, doch unter der Bedingung, daß der Ehepakt eine Zeitlang geheim bleiben sollte. Reb Awrohm starb auf der Heimreise nach Brody, und sein Sohn fand unter den hinterlassenen Papieren den Ehevertrag zwischen seiner Schwester und einem unbekannten Israel ben Elïeser. Bruder und Schwester beschlossen, zu warten, bis sich dieser Israel selbst melden würde. Und eines Tages erschien bei Reb Gerschon Kutower ein unansehnlicher junger Mann und hielt um die Hand seiner Schwester an. Das Mädchen willigte ein, und die Ehe wurde geschlossen.[11]

Reb Gerschon gefiel es nicht, daß sein Schwager ein so einfacher und anscheinend ungebildeter Mann war. Er versuchte mit ihm Talmud zu studieren, doch Israel wollte sein wahres Wesen noch nicht offenbaren und stellte sich so, als ob er nicht die geringsten Fähigkeiten für das Studium hätte. Auch hatte er wirklich eine Abneigung gegen das trockene, scholastische System, nach dem damals Talmudstudien betrieben wurden. Reb Gerschon wollte einen solchen Schwager nicht in seiner Nähe haben und schlug seiner Schwester vor, entweder sich von dem ungebildeten Manne scheiden zu lassen oder mit ihm Brody zu verlassen. Sie wählte das Letztere.

Nach langen Wanderungen ließ sich das junge Paar in einem Dorfe in den Karpathen nieder. Eigentlich wohnte nur die Frau im Dorfe; der Ehemann pflegte Wochen und Monate allein in den Bergen zu verbringen. Die Frau fuhr ab und zu mit ihrem Wägelchen in die Berge, holte Lehm und verkaufte ihn an die Dorfleute; damit verdiente sie ihren Lebensunterhalt, während der Mann, der tagelang fastete und sonst auch nichts als trockenes Brot aß, fast nichts brauchte.

Die Gegend, in der sich der junge Bescht aufhielt, war herrlich: inmitten hoher Felswände, dunkler Wälder tiefer Taleinschnitte, reißender Ströme und Wasserfälle, weicher grüner Wiesen, Angesicht zu Angesicht mit der Natur verbrachte er seine Tage in voller Einsamkeit, in tiefe Gedanken versunken; und er bereitete sich zu der Sendung vor, die ihm beschieden war.

Einsam fühlte er sich nicht, denn er sah und fühlte[12] überall Gott. In der Stimme des Waldes, des Windes und des Wassers vernahm er Gottes Stimme; Gott erfüllte alles – »die ganze Welt ist voll seiner Herrlichkeit«. Hier, in den Karpathen, reifte sein tiefer Pantheismus, eines der Hauptelemente seiner späteren Weltanschauung.

So lebten Bescht und seine Frau sieben Jahre. Nahrungssorgen zwangen sie schließlich, nach Brody zurückzukehren. Der gestrenge Reb Gerschon Kutower versuchte, den Schwager in seinem Hause zu beschäftigen; da er aber auch dazu nicht taugte, pachtete er für ihn ein Wirtshaus in der Nähe von Kutow, am Ufer des Pruts. Die Frau versah die Wirtschaft, und der Mann verbrachte wieder ganze Tage und Nächte in der Einsamkeit, in einer Hütte, die er sich im Walde am Prutufer gebaut hatte, im Gebet und im Studium der Kabbala. Manchmal kam er nach Hause, half seiner Frau in der Wirtschaft und bediente die Reisenden wie ein gewöhnlicher Gastwirt. In seiner Waldhütte lebte er nur von trockenem Brot. Nur am Sabbat erlaubte er sich größeren Aufwand: er legte weiße Gewänder an, aß und trank und verbrachte den Tag in Lust und Freude.

Die Umstände fügten sich so, daß das Ehepaar das Wirtshaus, das ziemlich guten Verdienst abwarf, aufgeben mußte. Bescht zog mit seinem Weibe nach Tluste, wo er wieder als Lehrer in größter Not lebte. Endlich, in seinem sechsunddreißigsten Lebensjahre, entschloß sich Bescht, als Meister des Göttlichen Namens (Baal-Schem) und religiöser Reformator hervorzutreten.[13]

»Baal-Schem« nannte man um jene Zeit einen Mann, der durch Anrufung von Gottes Namen Wunder tut: Kranke heilt, aus Besessenen Teufel austreibt, Amulette anfertigt, die den Menschen von allem Bösen bewahren usw. Solche Wundertäter spielten in der damaligen finsteren jüdischen Masse eine große Rolle, und in der gleichen Rolle trat nun auch Rabbi Israel Baal-Schem-Tow auf. Es muß leider festgestellt werden, daß der Erfolg Rabbi Baal-Schems unter der großen Masse der Judenschaft mehr auf seinem Wunderwirken als auf den ideellen Seiten seiner Lehre beruhte. Darin glich er wohl allen großen Religionsstiftern.

 

Rabbi Israel stand mit seinem ganzen Wesen der großen Masse des Volkes nahe. Er war von dem Glauben an die Wunderwirkung des vom Reinen und Frommen angerufenen göttlichen Namens, ebenso wie an das eigene Vermögen, die göttlichen Kräfte zu lösen, tief durchdrungen. Denn in seiner Weltanschauung gab es keine Grenze zwischen Natürlichem und Übernatürlichem: alles war ihm gleich natürlich, oder vielmehr – übernatürlich. Er glaubte fest daran, daß es genüge, an etwas sehr intensiv zu denken, damit es erscheine; darum waren für ihn seine Gespräche mit den himmlischen Mächten und alle wunderbaren Erscheinungen, die er sah, – etwas ganz Natürliches. Er war ja überzeugt, daß Gott sich überall und in jeder Sache befinde; daher schien es ihm durchaus natürlich, daß ein Mensch, der sich durch intensives Denken Gott[14] genähert hat, durch Gottes Willen handeln, d.h. Wunder wirken könne.

Die meisten Sagen dieses Buches (3. bis 20.) melden von den von ihm gezeigten Wundern: er heilte Kranke (er wurde zu diesem Zweck sogar oft von Nichtjuden aufgesucht), sagte die Zukunft voraus, erriet fremde Gedanken, trat an verschiedenen Orten unsichtbar auf, hörte himmlische Stimmen usw. Etwa zehn Jahre lang wirkte er als Wundertäter in zahlreichen Städten und Städtchen Podoliens und Wolhyniens. Später ließ er sich in Miedziborz in der Nähe von Brody nieder, wo er die letzten zwanzig Jahre seines Lebens (1740–60) verbrachte, hauptsächlich mit der Entwicklung seiner religiösen Lehre beschäftigt.

Miedziborz wurde zu einem Zentrum, wohin Juden aus ganz Osteuropa zusammenströmten, um beim heiligen Manne Trost und Hilfe in ihren Leiden zu suchen und Weisheit aus seinem Munde zu hören. Um Israel Baal-Schem bildete sich ein enger Kreis von Jüngern, die nach seinem Tode seine Lehre unter den großen Massen verbreiteten. Die Anhänger der Lehre nannten sich »Chassidim«, d.h. die Frommen. Die chassidische Lehre beruhte auf folgenden Prinzipien (gleichfalls nach S. Dubnow zitiert):

1. Absoluter Pantheïsmus. Gott wohnt in allen sichtbaren Dingen; es gibt keinen Ort, der nicht von Gott erfüllt wäre; die ganze Welt ist nur ein Kleid, in das sich Gott hüllt.

2. Zwischen der irdischen und himmlischen Welt besteht eine ständige Wechselwirkung. Nicht nur[15] Gott wirkt auf den Menschen, sondern auch der Mensch kann auf Gottes Ratschlüsse einwirken. Alle menschlichen Gedanken, Gefühle und Handlungen rufen gewisse Wirkungen in den himmlischen Sphären hervor. Das stärkste Mittel, auf die himmlischen Sphären einzuwirken, ist das Gebet.

3. Die Aufgabe jedes religiösen Menschen ist, ständig der Gottheit anzuhangen, in Gott zu leben, alle seine Handlungen und Gedanken auf Gott zu richten, ihn in allen Dingen zu suchen, in allen irdischen Erscheinungen Gottes Kraft zu fühlen und seine Gedanken von allen unvollkommenen und zufälligen Dingen zur Wurzel und zum Urquell aller Dinge – zu Gott zu erheben. Darauf beruht Beschts Optimismus: es gibt nichts Böses, denn alles kommt von Gott. Was wir für das Böse halten, ist nur eine niedere Stufe des Guten. Daher muß der Mensch immer freudig sein, er darf seinen Leib nicht peinigen und muß Gott in Frohsinn und nicht in Tränen dienen; nur solche Tränen sind gut, die aus übervollem Herzen kommen. Diese Anschauung war ein Protest gegen die alte Kabbala, die den Menschen lehrte, seinen Leib durch Fasten zu peinigen, und gegen den Geist der Trauer, von dem damals die jüdische Religiosität erfüllt war.

4. Nicht das Thora- und Talmudstudium ist erstrebenswert, sondern die innige Verschmelzung mit Gott; nicht die peinliche Befolgung der zahllosen rituellen Vorschriften und Verbote, von denen das ganze jüdische Leben umgarnt ist, ist gottgefällig, sondern[16] nur die innerliche, heiße Inbrunst. Doch die Wissenschaft ihrer selbst wegen betrieben, das Studium zwecks Schärfung des Geistes, ist eine kalte und trockene Sache und stammt vom Satan, der auf diesem Wege jüdische Seelen fangen will. Diese Anschauung war eine direkte Auflehnung gegen das System der damaligen rabbinischen Wissenschaft und den toten religiösen Dogmatismus; die Rabbiner bekamen bald die Kraft der neuen Bewegung zu fühlen und eröffneten gegen sie einen erbitterten Kampf.

5. Der Weg zur innigen Verschmelzung mit Gott – ist das Gebet. Man muß Gott nicht nur kennen und fühlen, sondern auch mit heißer und leidenschaftlicher Liebe lieben. Auch das Gebet muß heiß und leidenschaftlich sein. Während des Gebetes muß der Mensch alles, was ihn umgibt, vergessen, muß alles Irdische abschütteln; nur dann kann seine Ekstase auf die höchsten Regionen einwirken. Der Mensch muß Gott mit der Seele dienen.

6. Nicht der Mensch ist Gott gefällig, der viel studiert, sondern der, der gut fühlt. Daher kann ein ganz einfacher Mensch, der nicht einmal die Gebetordnung kennt, auf einer höheren Stufe stehen, als der größte Gelehrte. »Bescht besaß seine Wunderkraft, nicht weil er viel studiert hatte, sondern weil er mit heißester Inbrunst betete.« Durch diesen Glaubenssatz bekämpfte Bescht die damalige Gelehrtenaristokratie.

7. Statt der Gelehrtenaristokratie schuf er eine neue Aristokratie – die der Zadikkim, d.h. der heiligen Wundertäter (wörtlich: der Gerechten). Diese auserwählten[17] Männer, die in sich die tiefsten religiösen Stimmungen entwickelt haben, stehen nach Beschts Lehre Gott besonders nahe und können als Vermittler zwischen Gott und der Menge wirken. Solche Zadikkim sind gleichsam die Hüter der himmlischen Tore, und ohne ihre Beihilfe kann sich kein Mensch Gott nähern. Darum muß der Chossid den Zaddik als einen göttlichen Menschen achten und ehren.

 

Alle diese Ideen entwickelte Bescht nicht in Schriften, sondern in Vorträgen und Gesprächen mit seinen Jüngern. Im Jahre 1747 schrieb er einen Brief an seinen Schwager Reb Gerschon Kutower, der inzwischen nach Palästina übersiedelt war, in dem er zum ersten Male klar und unzweideutig seine Prinzipien aussprach. Dieser Brief wird von den Chassidim als das Manifest ihrer Glaubenslehre betrachtet.

Die Wirkung Beschts auf die Menge beruhte hauptsächlich auf seiner Persönlichkeit. Die Masse hing an ihm, weil er stets das einfache Volk, welches Gott nicht mit der Vernunft, sondern mit dem Herzen diente, liebte, weil er sich selbst einfach gab und weil er Wundertäter war. Seine Lehre war für den damaligen einfachen Durchschnittsjuden wie geschaffen und fand daher eine ungemein rasche und große Verbreitung. Daß aber die chassidische Lehre auch nach dem Tode ihres Stifters immer mehr und mehr Anhänger in der großen Masse fand, beruht darauf, daß diese Masse unter der Last[18] des starren scholastischen Talmudismus verschmachtete und sich nach einer Befreiung sehnte; wesentlich ist auch, daß der Chassidismus in seinen Prinzipien durchaus volkstümlich und demokratisch ist und der jiddischen Sprache, der von den strengen Talmudgelehrten so sehr verlästerten Muttersprache des Volkes, stets ihr Recht gab: die berühmtesten Zaddikim predigten mit Vorliebe jiddisch, und auch die meisten Erbauungsbücher der Chassidim sind in dieser Sprache geschrieben.

Bescht starb im Frühjahre 1760, am ersten Tage des Wochenfestes, umgeben von seinen Freunden, Jüngern und Getreuen. Seine letzten Worte waren: »Bedauert mich nicht: ich gehe zu der einen Türe hinaus und zu einer andern Türe hinein. Doch ihr seid zu bedauern, denn euer Verlust ist unermeßlich.«

 

Die Verbreitung von Beschts Lehre begann schon bei seinen Lebzeiten, und Bescht gewann solchen Einfluß, daß er in vielen Gemeinden Rabbiner und andere Amtspersonen einsetzte und absetzte. Nach seinem Tode bauten seine fähigsten Schüler das System des Chassidismus aus und verbreiteten die Lehre, die einen neuen Geist in das religiöse Leben der Ostjuden brachte, in Galizien, Polen und Südwestrußland. Zwischen den Chassidim und den Misnagdim (den Anhängern der alten rabbinischen Lehre) tobten am Ende des 18. Jahrhunderts erbitterte Kämpfe, die nicht immer mit lauteren Mitteln geführt wurden. Heute bekennen sich zur chassidischen[19] Lehre so gut wie sämtliche Juden Galiziens; verbreitet ist sie auch in Russisch-Polen, Südwestrußland und Rumänien. Dagegen hat der Chassidismus in den westrussischen Gouvernements (Wilna, Minsk, Kowno usw.) fast keine Verbreitung gefunden.

Wie manche andere schön und ideell gedachte Lehre artete auch der Chassidismus bald nach dem Tode seines Stifters so aus, daß von Beschts Prinzipien fast nichts übrigblieb. Doch das von ihm geschaffene Institut des Zaddiks blieb erhalten, wenn auch in einer ganz anderen Form, als von ihm gedacht. Dieses Institut ist auch das wichtigste äußere Merkmal des nachbeschtianischen und späteren Chassidismus; man kann sogar statt Chassidismus – Zaddikismus sagen. Während allen übrigen Juden der Begriff eines Priesters, der zwischen der Gemeinde und der Gottheit vermittelt, fremd ist (denn der Rabbiner ist kein Priester, sondern nur ein besonders gelehrter Mann, an den man sich mit schwierigen rituellen und auch rechtlichen Fragen wendet), haben die Chassidim in Person des Zaddiks einen Priester und Mittler zwischen dem Menschen und Gott. Der Zaddik ist aber noch mehr als Priester: er ist beinahe Halbgott. Der talmudische Ausspruch, der sich auf den Gerechten bezieht: »Was der Gerechte beschließt, bringt Gott in Erfüllung, und was Gott beschließt, kann der Gerechte abwenden« wird von den Chassidim buchstäblich auf den Zaddik angewandt, denn der Gerechte heißt hebräisch Zaddik.

Die ersten Zaddikim waren Beschts Schüler; unter[20] ihnen ist der Maggid (Prediger) Dojw-Ber von Mizricz wohl der hervorragendste. Später wurde die Würde erblich: der älteste Sohn erbte die Residenz und die ganze Autorität des Vaters, während die übrigen Söhne in andere Städte zogen und neue Dynastien gründeten. Unter den in der Morgenröte des Chassidismus aufgetretenen Zaddikim, die noch sämtlich vom Geiste Beschts durchdrungen waren, gab es eine Reihe hervorragend lichter Gestalten. Wie Israel Baal-Schem, standen sie der großen Masse des gemeinen Volkes nahe, und das Volk liebte sie abgöttisch. Einer der volkstümlichsten unter ihnen war Rabbi Levi-Jizchok von Berditschew, von dem die Sagen 44 bis 48 handeln. Das Volk umwob die Gestalten der populärsten Zaddikim, und vor allem des Stifters des Chassidismus, Bescht, mit zahlreichen Sagen und Legenden, und so entstand ein neuer Mythos, in dem die Gestalt des Zaddiks durchaus fabelhafte Dimensionen annahm. Die Macht des Zaddiks ist grenzenlos: er kann kinderlosen Eltern Kinder geben (Sagen 8, 14, 16, 20), Kranke heilen (Sage 33), Tote auferwecken (Sagen 6, 15, 16), die Zukunft voraussehen (Sagen 9, 14, 16, 18, 48), in unmittelbaren Verkehr mit dem Himmel und der Gottheit treten (Sagen 2, 20, 27) und im Auftrage des Himmels über Tote und Lebende zu Gericht sitzen (Sagen 6, 34, 37). Er kennt die verborgensten Dinge, wie die Etappen einer Seelenwanderung (Sagen 3, 4, 5) und kann magische Fernwirkungen ausüben (Sage 28). Er kann dem Tode Halt gebieten (Sagen 15, 50). Seine Gewalt erstreckt sich sogar auf die Erde, die sich seinen[21] Urteilen fügen muß (Sage 47), und noch mehr als das: er kann über Gott selbst zu Gericht sitzen und ihn verurteilen (Sage 26).

Die Welt besteht nur des Zaddiks wegen. Gott verhängt manchmal eine Strafe über das Volk Israel, nur damit der Zaddik sie abwenden kann. Wenn aber Gott seinen Entschluß vollstrecken will, verheimlicht er ihn vor dem Zaddik (Sage 11). Wenn der Zaddik bei seinem göttlichen Studium durch irgend etwas gestört wird, geht ein Rauschen durch alle Welten (Sage 32). Nebenbei zeichnet sich der Zaddik auch durch Weisheit aus und die Kunst, in Gleichnissen zu sprechen (Sagen 21, 24, 30, 44, 45, 46).

Zur Propaganda der chassidischen Lehre und zur Verherrlichung der Taten ihres Stifters sowie dessen Nachfolger wurden zahlreiche fromme Bücher in hebräischer und jiddischer Sprache herausgegeben. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts haben diese Bücher, die Berichte über die Wundertaten der berühmtesten Zaddikim enthalten, eine sehr große Verbreitung gefunden und sind zu wahren Volksbüchern geworden. Von der großen chassidischen Masse werden sie nicht als Sagen- oder Märchenbücher, sondern beinahe als der Heiligen Schrift gleichwertig aufgefaßt.

Die folgenden fünfzig Geschichten habe ich ausschließlich jiddischen Andachtsbüchern entnommen; vor allem der ungemein populären Sammlung »K'hal Chassidim«, dann aber auch Monographien, die einzelnen Zaddikim und Zaddikimdynastien gewidmet sind. Die Übersetzung ist fast durchweg wortgetreu. Um[22] Fußnoten zu vermeiden, habe ich die meisten hebräischen rituellen und liturgischen Ausdrücke direkt im Texte umschrieben. Die Geschichten haben im Original keine Titelüberschriften; oft sind sie voneinander nicht einmal durch eine Interpunktion getrennt. Die Titel in diesem Buche stammen von mir.

München, Februar 1916.

Alexander Eliasberg.[23]

 

1. Der Wundertäter Adam

Es war einmal ein Meister des göttlichen Namens (Wundertäter) namens Reb Adam. Er hatte in einer Höhle Handschriften gefunden, die allerlei verborgene Geheimnisse der Thora enthielten. Er war aber sehr arm: er wohnte mit seinem Weibe in einem einzigen Kämmerchen, und beide hatten fast nichts anzuziehen. Einmal sagte das Weib: »Was soll ich anziehen, um ins Bethaus zu gehen?« Und er antwortete: »Geh in die Kammer und wähle dir dort ein Kleid nach deiner Herzenslust aus; wenn du aber vom Beten heimkommst, sollst du das Kleid sofort in die Kammer zurückhängen.« Sie tat so und ging jeden Tag ins Bethaus in einem neuen Kleide. Die Leute konnten nicht verstehen, wie das Weib des Bettlers zu solchen Kleidern kam, und sie fragten sie danach. Das Weib eröffnete ihnen das Geheimnis.

Die Sache kam dem Kaiser zu Ohren; er prüfte sie nach und sah, daß alles, was die Leute erzählten, stimmte. Der Kaiser berief Reb Adam an seinen Hof und gewann ihn lieb, doch dieser blieb ein Bettler. Unter den Hofleuten war aber einer, der alle Juden haßte und den es verdroß, daß der Kaiser dem Reb Adam gewogen war.

Reb Adam sagte einmal zum Kaiser: »Ich will dich zu einem Mahle laden.« Das verdroß jenen Höfling noch mehr. Der Kaiser nahm aber die Einladung an. Als der festgesetzte Tag kam, fuhr der Kaiser mit seinem ganzen Hofe zum Festmahle; auch der Feind Reb Adams war darunter. Dieser Höfling versuchte den Kaiser zu[24] überreden, daß er umkehre: »Der Mann will uns allen Schande antun. Wie ist es möglich, daß ein so armer Mensch ein Mahl für den Kaiser und den ganzen Hof beschaffen kann?« Doch der Kaiser gab nichts auf alle seine Worte.

Als man vor der Stadt anlangte, in der Reb Adam wohnte, schickte der Kaiser Boten voraus, um zu sehen, ob für ihn und sein Gefolge genügend Zimmer vorbereitet seien. Die Boten kamen zurück und berichteten, daß nichts vorbereitet sei, weder Zimmer noch ein Mahl; sie hätten nur das kleine Stübchen gesehen, in dem Reb Adam mit seinem Weibe wohnte. Der Kaiser setzte aber trotzdem die Reise fort, denn er sagte sich: »Er wird uns wohl ein großes Wunder zeigen!«

Um die gleiche Zeit wollte der König eines andern Landes ein großes Mahl für einen andern König bereiten; für dieses Mahl wurde zwei Jahre lang ein eigener Palast gebaut. Im Palaste waren allerlei Speisen vorbereitet, goldene und silberne Schüsseln und Becher, Diener und alles, was zu einem königlichen Mahle gehört. Und an dem Tage, für den Reb Adam den Kaiser eingeladen hatte, hob sich dieser Palast mit allem, was darin war, von der Erde weg und flog zum Ort, wohin Reb Adam den Kaiser geladen hatte.

Wie der Kaiser in die Stadt kam, fand er einen großen Palast vor, der überaus kostbar ausgestattet war. Der Kaiser trat ein, und die Diener bereiteten ihm und seinem Gefolge einen prächtigen Empfang. Reb Adam ging aber durch die Säle und sprach zu seinen Gästen: »Eßt und trinkt, doch niemand von euch soll[25] sich von seinem Platze rühren.« Und später sagte er: »Nun soll jeder von euch seine Hand in die Tasche stecken: er wird darin finden, was sein Herz will.« Der Kaiser und alle Hofleute taten so, und jeder fand in seiner Tasche das, wonach sein Herz gelüstete. Als aber der Höfling, der Reb Adam haßte, seine Hand in die Tasche steckte, fand er in ihr nur Kot. Und seine Hand roch so übel, daß es niemand ertragen konnte und daß man ihn hinausjagte. Da bat der Höfling die andern Hofleute, sie möchten sich bei Reb Adam verwenden, daß seine Hand nicht mehr stinke. Reb Adam sagte: »Wenn er sich verpflichtet, das Volk Israel nicht mehr zu hassen, wird der üble Geruch verschwinden.« Der Höfling gab das Versprechen, und Reb Adam befahl, daß irgendein Jude ihm auf die Hand spucke; als dies geschehen, verschwand sofort der üble Geruch.

Bevor die Gäste das Schloß verließen, nahm der Kaiser zwei goldene Becher zu sich. Später las man in den Zeitungen, daß ein König einen andern König zu einem Mahle laden wollte, daß man dazu zwei Jahre lang einen Palast gebaut hatte, daß der Palast plötzlich mit allem, was er enthielt, verschwunden war und nach einigen Tagen wieder auf seinen Platz zurückkehrte; nur zwei goldene Becher waren von der Tafel verschwunden. Und der Kaiser schrieb dem König: »Ich kenne einen Juden, der das getan hat. Und zum Beweis habe ich die beiden verschwundenen Becher bei mir.«[26]

 

2. Die geheimnisvollen Handschriften

Reb Adam hatte einen Sohn, und zu dem sprach er vor seinem Tode folgendes: »Ich hinterlasse dir sehr wertvolle Handschriften, du bist aber noch nicht würdig, in ihnen zu lesen. Darum sollst du nach der Stadt Okup reisen und dort einen Menschen aufsuchen, der Israel heißt und vierzehn Jahre alt ist. Und ihm sollst du die Handschriften anvertrauen. Und wenn du die Gnade findest, wird er mit dir in diesen Handschriften lesen.«

Als Reb Adam gestorben war, fuhr sein Sohn nach Okup und kehrte im Hause des Gemeindevorstehers ein. Dieser fragte ihn: »Was führt Euch her?« Und Reb Adams Sohn antwortete: »Mein Vater ist gestorben und hat mir vor dem Tode befohlen, daß ich mir ein Weib aus Eurer Stadt nehme.« Man schlug ihm verschiedene Partien vor, und schließlich nahm er sich die Tochter eines sehr reichen Mannes.

Bald nach der Hochzeit begann er den Israel, zu dem er gesandt war, zu suchen. Der Bethausdiener fiel ihm auf; es schien ihm, daß er der betreffende Israel sein müsse, und er begann auf ihn aufmerksam aufzupassen. Er bat seinen Schwiegervater, er möchte ihm eine Klause am Bethause anbauen, damit er für sich allein studieren könne. Der Schwiegervater tat so und stellte den Bethausdiener Israel als Diener bei seinem Schwiegersohne an. Wenn der Sohn Reb Adams nachts schlief, stand Israel auf und studierte die Thora und betete, wie es seine Gewohnheit war. Und als Israel einmal einschlief, nahm Reb Adams[27] Sohn ein Blatt von seinen Handschriften und legte es neben den Schlafenden. Als Israel erwachte und das Blatt sah, begann er zu zittern und nahm das Blatt zu sich. Am nächsten Tag legte er ihm wieder ein Blatt hin, und Israel nahm es wieder zu sich. Nun begriff der Sohn des Rabbi, daß sein Vater diesen Israel gemeint hatte.