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Copyright 2014 © Paula Roose

überarbeitete Neuauflage 2017

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Copyright Zeichnung © 2017 Samer Al Kousa

Korrektorat: Schreib- und Korrekturservice Heinen,

http://www.sks-heinen.de, Paula Roose

Covergestaltung: Rica Aitzetmüller, Cover & Books - Buchcoverdesign unter Verwendung von Adobe Stock Motiven!

Herstellung und Verlag: BoD– Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 9783752882445

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Klatschnass erwachte Bernhard. Verdammt, es war nur ein Traum! Er versuchte, sich zu beruhigen. Aber es war mehr gewesen. Er hatte Dinge gesehen, die ihm beängstigend vertraut waren. Mühsam rang er nach Luft. Die Erlösung kam nur langsam.

Er stand in der Drachenhöhle, tief im Inneren des Berges. Es war ein Verlies, ohne Tür, ohne Licht und ohne Leben. Dort sah er eine Frau. Ihre Haut war weiß wie Schnee, ihre Lippen blutleer. Unaufhörlich schritt sie im Kreis. Ihr weißer Rock umspielte mit Fransen die Beine wie Fangarme. Ein ärmelloses Hemd ließ den Blick auf die Taille frei. Schwarze Haare umrahmten die Schultern und gaben ihr eine menschliche Erscheinung — bis man in den Abgrund ihrer Augen sah.

Ihre Fingernägel kratzten über den Felsen. Das Geräusch hatte ihn in den Wahnsinn getrieben. Der Stein zerrieb unter ihren hageren Fingern, erneuerte sich sogleich und verwischte die Spur. Drachenzauber hielt den Stein zusammen.

Bernhard hatte im Traum gewusst, wer sie war: Proélia.

Seit fünfhundert Jahren verharrte sie in diesem Verlies. Sie hatte das Feuer des Drachen Tumaros unterschätzt. Ein Fehler. Im Kampf hatte er sie aller Kälte beraubt und eingesperrt. Regungslos hatte die Eishexe am Boden gelegen, Jahrhundert um Jahrhundert. Aber der Drachenzauber hatte plötzlich nachgelassen. Ihre Kälte konnte zurückkehren und ihr neue Kraft verleihen.

Noch war er wirksam. Aber Proélia kannte weder Zeit noch Raum. Dunkelheit und Gefangenschaft erschütterten sie nicht. Seit geraumer Zeit schritt sie im Kreis, folgte ihrem eigenen Rhythmus und kratzte am Felsen. Nur noch ein drachenblütiges Wesen, dessen Kraft sie rauben konnte, fehlte, um ihrem Gefängnis zu entkommen. Sie hatte so ein Wesen gespürt, als sie sich das erste Mal im Verlies erhoben hatte. Es war eine Frage der Zeit, bis es wieder in ihre Nähe kommen würde.

Proélia konnte warten.

Bernhard schlug die Decke zur Seite und öffnete das Fenster. Ein kühler Lufthauch wehte ihm entgegen. Er wusste, dass sich in der Schwärze der Nacht der Drachenberg verbarg, und er fragte sich, was in seinem Inneren vor sich ging. Kam die Vergangenheit zurück?

Bernadette schlief. Sie bemerkte die Albträume nicht, die ihren Mann quälten. Und er sagte es ihr nicht. Warum auch? Gegen das Grauen einer Drachenhöhle konnte niemand etwas ausrichten. Und wenn es wahr war, was er nachts in seinen Träumen sah?

»Hört das denn niemals auf?«, flüsterte Bernhard in die Nacht und legte sich wieder ins Bett. Aber an Schlaf war nicht mehr zu denken.

Drachenberg

Die Spätsommersonne stand im Zenit und schickte mit aller Kraft ihre letzten wärmenden Strahlen. Patrizia lag auf der Picknickdecke und kaute auf einem Grashalm. Ihre Gedanken hingen am Drachenberg, dem kleinen, bizarren Gebirge, das sich direkt vor ihrem Picknickplatz aufbaute. Die Felsen ragten wetterzerklüftet in die Höhe, unwegsam und rau. Kein Leben ließ sich darin vermuten und doch war es nicht nur die Wohnstatt des Drachen Tumaros gewesen, sondern auch die Kinderstube ihres Vaters, Bernhard Drachenbär, dem Förster des Finsterwaldes.

Sie setzte sich auf und schlang die Arme um die Knie. Jedes Jahr kamen sie zum Familienausflug an diese Baumgrenze. Der Finsterwald umfasste den Drachenberg wie das Meer eine Insel. Aber eigentlich war es umgekehrt. Der Wald war die Insel und der Drachenberg das Meer mit endloser Tiefe. Wenn der Schrecken alter Tage auch daraus verschwunden war, so war die eiserne Stille, die hier einst geherrscht hatte, noch immer zu spüren.

Auf halber Höhe des Gipfels war ein Geröllhaufen sichtbar. Patrizia vermutete dahinter den Eingang. Ihr Vater schwieg dazu. »Er ist verschüttet und das ist gut so«, pflegte er zu antworten. Auch als sie nicht lockerließ, blieb er hart. »Du bist ein Bär und meine Tochter, mehr brauchst du nicht zu wissen.«

Aber nein, sie war nicht nur ein Bär. In ihren Adern floss Drachenblut. Patrizia sah es nicht nur an ihren saphirblauen Augen, sie fühlte es, wenn sie Widerspruch nicht ertragen konnte oder wenn die Sehnsucht nach Gold und Diamanten sie umtrieb. Dann war sie Drache und sie hasste sich dafür.

»Hey, du Faulpelz! Du solltest uns beim Pilzesuchen helfen.« Benjamin, der zweitälteste der vier Geschwister, riss sie aus ihren Gedanken.

»Ich helfe lieber, Pilze zu essen.« Patrizia wollte sich auf den Rücken fallen lassen, aber Benjamin warf seinen Korb auf die Decke und breitete sich neben ihr aus. Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss demonstrativ die Augen. Zwei Sapiruspilze kullerten ins Gras.

»Du bist dran. Ich habe schon mindestens eine Stunde gesucht.«

»Du hättest noch eine Stunde länger suchen können. Der Sapirus wächst nicht in südlicher Richtung. Weiß doch jedes Baby.« Patrizia schnappte sich den Korb und stand auf.

Benjamin tat, als ob er eingeschlafen wäre. Sie griff eine Handvoll Erde vom Waldboden und ließ sie über sein Gesicht rieseln.

»Hey, lass das!« Bevor er aufspringen konnte, suchte Patrizia das Weite. Im Laufschritt wandte sie sich nach Norden, an der Baumgrenze entlang.

Der Sapiruspilz wuchs dicht an den Wurzeln der Bäume. Mit seinen schwarzen Hütchen sah er wie Erdklumpen aus und war nur schwer vom Waldboden zu unterscheiden. Aber wenn man die richtigen Stellen kannte, konnte man reiche Beute machen. Und Patrizia kannte sie.

Der Wald war nach dem Drachentod unter Bernhards Hand gesundet, doch die Naht zwischen Wald und Berg war noch immer eigenartig. Wie abgeschnitten trennte sich der Felsen vom Wald. Zwischen den Randbäumen breiteten sich Brombeerbüsche aus, als wollte der Wald sich mit einer Dornenmauer schützen.

Patrizia lief, bis sie sich in einem Strauch verfing und ihre Sandalen verlor. Für den Moment war sie froh, dass Benjamin sie jetzt nicht sah, spottete er eh schon genug darüber, dass sie als Einzige in der Familie Schuhe trug. Sie warf einen Blick zurück. Der Picknickplatz war nicht mehr zu sehen, dafür hatte sie die Westseite des Berges beinahe erreicht.

Zögernd schaute sie sich um. Es war die verbotene Zone, ihr Vater hatte strikt untersagt, über die Ostflanke des Berges hinaus zu laufen. Aber wo sie schon mal hier war? Der Weg führte hinter dem Berg nach Süden, genauso markant wie auf der Ostseite. Der Wald präsentierte sich wildwüchsig, war aber durchaus von Bernhard in Augenschein genommen. Bäume, die zum Fällen anstanden, hatte er mit roten Kreuzen markiert.

Die gewohnten Zeichen lockten Patrizia, weiterzugehen. Ein paar Schritte konnten nicht schaden. Sie schlüpfte in ihre Schuhe und warf einen Blick zurück. Von ihrer Familie war niemand in Sicht.

Die Westseite des Berges erschien abweisend und wild. Doch im oberen Drittel war ein Pfad, der in Serpentinen den Felsen hinaufstieg. Sie folgte ihm mit den Augen und zu ihrer Überraschung endete er über einem Busch, der mitten in der Felswand wuchs. Merkwürdig!

Dahinter könnte der Gang sein, durch den ihr Vater dem Drachen entkommen war! Patrizia hatte ihre Eltern belauscht, wenn sie darüber gesprochen hatten. Ihr Herz pochte. Der Erzählung nach war er sehr eng, aber Patrizia war zierlich. Ihr rotes Minikleid hinderte sie nicht am Klettern. Und wenn sie Glück hatte, konnte sie einen Blick in die Drachengrotte werfen. Nur einen kurzen, damit sie rechtzeitig zurück war, bevor die anderen sie vermissten. Sie könnte … ja, sie könnte den Schatz sehen. Einen echten Drachenschatz.

Sie stieß mit einem tiefen Seufzer die Bedenken beiseite, schwang ihren schwarzen Zopf mit einer energischen Kopfbewegung zurück und begann mit dem Aufstieg. Patrizia war eine gute Kletterin. Sie tastete nach Vorsprüngen, zog sich Stück für Stück hoch und erreichte nach einer guten Stunde den Busch. Wie fand man einen Zaubergang? Der Felsen war grau und kantig, nichts gab unter ihrer Berührung nach. Enttäuscht lehnte sie sich zurück und ließ die Sonne auf ihren hellbraunen Pelz scheinen. Wenn der Aufstieg schon umsonst war, dann wollte sie wenigstens einen Moment die Aussicht genießen. Sie ließ den Blick über den Wald schweifen. Die Baumwipfel wiegten ihre Blätter im Wind. Ein frischer Luftzug wehte von unten herauf um ihre Nase. Für den Moment überkam sie die Sehnsucht, Flügel zu haben, abzuheben und über dem rauschenden Meer dahinzusegeln.

Urplötzlich fiel sie nach hinten, schlug mit dem Hinterkopf auf den Stein und lag rücklings in einen Gang. Entsetzt fuhr sie hoch. Einen Atemzug lang war sie gezwungen, die Augen zu schließen — bis der Schwindel vorüber war.

Im Felsen klaffte ein Loch, gerade so groß, dass Patrizia sich durchschlängeln könnte. Ein eisiger Luftzug wehte sie an. Sie zuckte zurück und im selben Moment siegte die Neugier.

Sie hatte den Zaubergang gefunden!

Patrizia warf einen Blick auf die Sonne. Eigentlich war sie schon zu lange weg. Aber am anderen Ende des Tunnels lockte der Schatz — vielleicht — und wann hätte sie die nächste Gelegenheit, den Berg zu erkunden? Ihre Eltern würden es niemals erlauben. Pilze suchen war eine gute Ausrede, um lange wegzubleiben.

Bevor der nächste Zweifel kam, war sie in die Röhre geschlüpft. Einen Moment dachte sie noch, eine Stimme hätte ihren Namen gerufen, hielt inne — und robbte dann vorwärts.

Ein neuer Eiswind wehte sie an. Patrizias Fell stellte sich auf. Es fühlte sich an, als würde sie den Tunnel vollständig ausfüllen. Er verschluckte sie förmlich. Das Licht folgte ihr nicht. Sie zog sich einmal, zweimal, dreimal vorwärts — und steckte in völliger Dunkelheit. Ihr Atem hallte dumpf gegen die Wände. Für den Moment wähnte sie sich lebendig begraben. Es war doch keine gute Idee gewesen. Sie schwankte einen Moment beim Gedanken an den Schatz, dann versuchte sie, zurückzukriechen.

Aber ihre Arme gehorchten ihr nicht.

Als wären sie kein Teil mehr von ihr, bewegten sie sich. Mechanisch robbte sie weiter. Ihre Glieder wurden mit jeder Bewegung steifer, die Kälte drohte, sie einzufrieren.

Urplötzlich endete der Gang. Noch bevor sie begriff, dass sie ins Leere fasste, stürzte sie nach vorn und schlug mit dem Kopf auf. Eiskalte Finger kamen aus dem Boden und tasteten über ihren Körper. Patrizias Herz schlug wild. Sie japste. Die frostige Luft schmerzte beim Atmen. Angstschweiß auf ihrer Stirn gefror zu Eisperlen und fiel mit leisem Klang auf den Felsen. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber sie schien festgefroren. Die Eisfinger saugten an ihr. Sie wurde in einen Strudel gezogen. Immer tiefer sank ihr Geist hinab. Ihre Kehle wollte schreien. Wie eine Spinne die Beute aussaugte, sog etwas ihren Lebenssaft aus. Schon war sie am Ende des Strudels angelangt und sank in eine erlösende Bewusstlosigkeit.

Kälte

Bernhard erstarrte, als Benjamin ihm sagte, in welche Richtung Patrizia gegangen war. »Wieso hat sie nicht gewartet?« Eine düstere Ahnung stieg in ihm auf.

»Was regst du dich denn so auf? Wir sind doch nicht das erste Mal hier. Sie wird gleich wiederkommen.«

»Wie lange ist sie fort?«

»Keine Ahnung. Vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. Ich hab gedöst.«

»Ich gehe sie suchen.«

»Was ist denn los?«, rief Benjamin ihm hinterher. »Sapiruspilze sind schwer zu finden. Sie kommt gleich zurück. Wir sollten lieber schon mal Feuer machen.«

Bernhard hörte es nicht mehr. Er rannte Richtung Norden die Waldgrenze entlang. Es war erst wenige Tage her, dass er an der Westseite Bäume markiert hatte. Keuchend suchte er mit den Augen den Berg ab. Am Busch blieb sein Blick hängen. Die Sonne blendete. Er kniff die Lider zusammen, beschirmte seine Augen mit der Hand — verflucht! Angestrengt starrte er auf den grünen Punkt. Da! Ein roter Fleck. Genau über der Stelle, die er so gut kannte. Und er bewegte sich.

»Patrizia!«, brüllte er aus Leibeskräften und rannte weiter. »Patrizia!«

Der Fleck verschwand. Bernhard war noch nie den Berg hinaufgeklettert. Jetzt wünschte er, er hätte es wenigstens mal versucht. Wo war nur dieser verflixte Pfad, der dort hinaufführen sollte? Hektisch suchte er den Felsen ab, bis er endlich eine Linie ausmachte, die sich zum Klettern zu eignen schien.

Sein Herz klopfte rasant. Alte Bilder bedrängten seine Gedanken, Bilder von seiner Flucht aus der Drachenhöhle. Er zwang sich, sie nicht zu beachten.

Der Aufstieg dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Keuchend ließ er sich hinter dem Busch nieder. Beinahe dreißig Jahre war es her, dass er hier nach langer Gefangenschaft als freier Bär die Sonne gesehen hatte. Bis die Freiheit auch in seinem Herzen angekommen war, sollte es Jahrzehnte dauern. Erst seine Frau Bernadette mit ihrer sanften, entschlossenen Liebe vermochte die letzten Schatten zu vertreiben. Doch auch sie trug eine Last der Vergangenheit in sich und brauchte seine Stütze. Sie waren Seelenverwandte.

Und nun saß er hier und der kleine Bär in ihm, der geflohen war, meldete sich zurück. Zögerlich schaute er in den Tunnel. Kälte und Dunkelheit schlugen ihm entgegen. Er schloss die Augen und kämpfte die Erinnerung runter.

»Patrizia!«, brüllte er in den Gang. Dumpf schluckten die Wände seinen Ruf.

»Patrizia!«

Stille.

Ein letzter Blick auf die Sonne, dann kroch er in den Tunnel. Seine Schultern berührten die Wände. Jetzt war er froh, dass er nicht wie die meisten Bären behäbig, sondern athletisch war. Im Takt seines Herzschlages zog er sich vor, zwang sich durch die Dunkelheit, während die Kälte seinen Atem gefrieren ließ. Der Wunsch, Feuer zu speien, überkam ihn. Er hielt ein paar Atemzüge lang inne, irritiert von dem fremden Gelüst. War er mehr Drache, als er ahnte?

Ein dumpfes »Bumm« erklang.

»PATRIZIA!«

Stille.

Bernhard kroch. Ehe er sich versah, fiel er in die Tiefe. Direkt auf sie.

Himmel sei Dank! Aber …

»Patrizia!« Hastig tastete er über ihren Körper. »Sag doch was.«

Eiskalt lag sie da. Ihr Atem war nur noch ein Hauch.

Schon griff die Kälte auch nach ihm. Das Bild der weißen Frau aus seinen Träumen blitzte vor ihm auf. Er sah in ihre Augen. Einen Moment schien sie verwundert zu sein, dann begriff sie, was er vorhatte. Bernhard spürte den Befehl, sich hinzulegen — und wieder den Drang zum Feuerspeien. Er durfte seine Kraft nicht mit der Hexe vergeuden. Dieser Frau war niemand gewachsen. Raus hier! Entschlossen griff er Patrizia unter die Arme, ertastete den Gang und zog sie hinein. Sein Atem schlug sich mit winzigen Kristallen in seinem Gesicht nieder.

Stück für Stück rückte er Patrizia durch den Gang. Schlaff hing ihr Körper in seinen Armen, gehalten von der Enge des Tunnels. Beinahe wahnsinnig vor Angst erreichte er den Ausgang.

»Sag was. Aufwachen.« Bernhard klopfte ihr auf die Wange, aber sie rührte sich nicht. Ein Hauch kalter Luft strömte aus ihrem Mund. Bernhard beugte sich zu ihr herab, hauchte ihr seinen warmen Atem ein, bis sie schwach hustete. Erleichtert klopfte er abermals ihre Wange. »Patrizia! Aufwachen!« Sie antwortete nicht. Nur das flache Heben und Senken ihres Brustkorbes zeigte, dass nicht alle Lebensgeister sie verlassen hatten.

Sie braucht Wärme! Bernhard hob Patrizia über die Schulter und rutschte mit ihr die abschüssige Felswand hinunter. Im Laufschritt trug er sie durch das Unterholz zurück.

An der Ostseite kam Bernadette ihm entgegen. Erschrocken sah sie ihre leichenblasse Tochter. »Was ist passiert? Was ist mit ihr?« Sie strich ihr über den Kopf. »Meine Güte. Sie ist ja eiskalt.«

»Sie war im Drachenberg. Ich bringe sie nach Hause. Komm nach, so schnell du kannst.« Bernhard wartete keine Antwort ab. Wie von Sinnen rannte er den Waldweg entlang. Angst krallte sich um sein Herz. Er spürte Patrizias Kälte und die Sorge um sie trieb ihn gnadenlos an.

Der Anblick der Forsthütte brachte den ersten Hoffnungsschimmer. Er stieß die Tür auf und ging durchs Halbdunkel direkt ins Schlafzimmer. Vorsichtig legte er seine erschlaffte Tochter ins Bett. Aber sie rührte sich nicht.

Wärme!

Bernhard deckte sie zu, suchte sämtliche Decken zusammen, die er im Haus hatte, und stapelte sie über ihrem Körper. Er schloss die Fenster und Türen, schürte das Feuer im Kamin, schichtete in einer Metallschale glühende Kohlen auf und stellte sie neben das Bett.

Schweißperlen rannen ihm von der Stirn, als Bernadette eintraf. Doch Patrizia war kalt und leblos. Lediglich ein leises Zittern war in ihren Gliedern zu spüren. Bernhard gab es Hoffnung. Sie begann, sich gegen die Kälte zu wehren.

»Du hast Drachenblut. Du schaffst es«, flüsterte er ihr ins Ohr.

Er hätte jetzt gerne geweint, aber … ach, verdammt.

Am Abend hatte die Wärme den Eispanzer nicht durchbrochen, obwohl die ganze Familie im Schweiß stand. Die Geschwister begannen, sich abwechselnd zu ihr ins Bett zu legen, um sie mit dem eigenen Körper zu wärmen. Jeder nur kurz, weil weder Patrizias Kälte bäuchlings noch die Hitze rücklings lange zu ertragen waren. Keiner sprach ein Wort. Das hätte Kraft gekostet.

Bis Mitternacht war Patrizia nicht zu Bewusstsein gekommen. Nur die Liebe einer Mutter konnte sehen, dass sie am Leben war. Aber auch dieser letzte Hauch drohte sie zu verlassen.

Vergangenheit

Bernhard saß am Küchentisch und stützte sein Kinn auf. Der Vollmond schien ins Fenster, verbreitete sein trostloses Licht und mit jedem Ticken der Wanduhr rann kostbare Zeit dahin, um Patrizias Leben zu retten.

Bernhard hatte die Kälte nicht mehr ausgehalten. Er wünschte sich nur eine Verschnaufpause. Sein Blick ging durch das Fenster zum Drachenberg, der wie ein Wächter des Bösen über dem Wald thronte.

Die mühsam verdrängten Bilder kamen zurück. Aber nicht wie eine Erinnerung. Vor seinen Augen spielte ein Film und er stand mitten drin. Mit rasendem Herzen sah er seine Mutter vor sich. Tumaros versengte ihr Bärenfell. Gezielt und Stück für Stück. Sie schrie erbärmlich, bettelte um Gnade. Aber der Drache kannte kein Erbarmen. Er ließ erst von ihr ab, wenn Rachedurst und Wut befriedigt waren.

Ein Drache hatte viel Wut.

Dann sah er sich, wie er seinen Vater berührte, nur einmal in seinem ganzen Leben, und dieser dann verstarb. Danach hatte er die Waldfee befreit, die von seinem Vater gefangen gehalten worden war. Die ganze Drachenhöhle stürzte ein. Mit knapper Not waren sie entkommen.

»Hoffen wir, dass der Tod des Drachen nicht ein schlimmeres Übel geweckt hat«, hatte die Fee zum Abschied gesagt. Er hatte nie erfahren, was sie damit gemeint hatte. Aber was immer es gewesen war, es hatte Patrizia beinahe erwischt. Schon lange hatte Bernhard sich nicht so ohnmächtig gefühlt. Er wollte einen Stein in die Dunkelheit werfen, aber seine Hand war leer.

Ein bisschen frische Luft würde ihm guttun. Bernhard stand auf und ging nach draußen in die kühle Nachtluft. Er atmete tief ein. Es war ungewöhnlich hell. Zur Gartenpforte war es nur ein kurzes Stück durch den Vorgarten. Daneben stand die alte Holzbank direkt am Mittelweg. Kraftlos sank Bernhard darauf nieder und starrte in die Nacht.

Ein Waldkauz fühlte sich gestört, erhob sich und verschwand lautlos zwischen den Bäumen. Bernhard schaute ihm nach. Plötzlich vernahm er, dass der Wald nicht schwarz blieb. Er glaubte zu träumen, einer Sinnestäuschung zu erliegen, und rieb sich die Augen. Die Sinnestäuschung blieb, der Wald erhellte sich, begann zu flimmern und die Konturen einer zierlichen Frau wurden sichtbar.

Bernhard erkannte sie sofort. Eschagunde trug ein grünes Blättergewand. Sie war von Zauberschimmer umgeben und auf ihrem Haupt trug sie eine Krone aus goldenen Eschenblättern. Ihre Füße waren nackt, und wenn sie lief, schien es, als würden sie den Boden nicht berühren.

Bernhard hatte den ganzen Tag gehofft, sie würde kommen. Und jetzt, wo er seine Tochter verloren glaubte, war sie da.

»Wie immer lässt du dir viel Zeit, Eschagunde. Bist du gekommen, um den Tod meiner Tochter zu beweinen?«

»Ich bin gekommen, um ihn zu verhindern, Bernhard Drachenbär.«

Sie verschwand wieder. Bernhard holte tief Luft. Die Angst der letzten Stunden schraubte sich um seinen Hals. Doch bevor er zu ersticken drohte, tauchte Eschagunde wieder auf.

»Deine Tochter schläft. Sie ist kalt, aber das wird nachlassen.«

»Heißt das, sie kommt durch?«

»Was das Körperliche angeht, ist sie über den Berg. Aber wie es ihrer Seele geht, weiß ich nicht. Das ist mitunter die tiefere Wunde.«

Bernhard schaute auf den Boden. »Danke, Eschagunde.« Seine Stimme klang brüchig. »Es ist meine Schuld. Ich hätte besser aufpassen müssen, dass sie nicht auf die Westseite geht.«

»Deine Tochter ist erwachsen. Wie hättest du es verhindern wollen? Sie zu bewachen, wäre ein Fehler gewesen.«

»Sie war im Zaubergang. Weißt du nicht, was das bedeutet?«

»Selbst die größte Vorsicht ändert nichts daran, dass es diesen Gang gibt. Was existiert, kann gefunden werden. So ist der Lauf der Dinge.«

Bernhard schaute auf. »Du hast damals gesagt, dass unter dem Drachen ein größeres Übel verborgen sei. Ist es das, was du meintest?«

Eschagunde nickte. »Mit dem heutigen Tag wurden unsere schlimmsten Befürchtungen wahr.«

»Dann war der Frieden der letzten Jahre nur ein Schein.«

»Oder ein Aufschub, eine Atempause. Es gibt keinen Zweifel mehr. Im Berg ist die Eishexe Proélia verborgen.«

»Eishexe? Die aus der Sage, die uns verflucht haben soll?«

»Das hat sie getan.«

»Ich habe immer geglaubt, dass es ein Märchen ist.«

»Ich wünschte, es wäre so. Aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sie den Berg verlassen wird.«

»Du bist die Königin der königlichen Waldfeen. Warum rufst du die anderen Feen nicht zusammen und ziehst in den Kampf? Du hast einen Drachen besiegt.«

Eschagunde schaute zum Drachenberg. »Das würde ich tun, wenn es Aussicht auf Erfolg hätte. Proélia verfügt über enorme Kräfte. Tumaros hat sie nicht aus eigener Kraft besiegt. Lange haben wir gerätselt, wer oder was ihm geholfen hat. Nicht zuletzt war diese Frage der Grund für meine lange Abwesenheit, als Rosa mit dem Drachen davongeflogen war.«

»Das klingt, als hättet ihr das Rätsel gelöst.«

»Das haben wir und die Antwort behagt uns ganz und gar nicht.«

Bernhard hob die Augenbrauen. Die ungewöhnliche Gesprächigkeit der Waldfee ließ ihn nichts Gutes ahnen.

»Siehst du die Sterne, Bernhard?« Eschagunde tippte mit ihrem Zauberstab zum Himmel.

Bernhard zuckte die Schultern. »Was hat die Hexe mit den Sternen zu tun?«

»Nicht jeder Stern ist eine Sonne. Einige wenige verfügen über unermessliche Zauberkraft. Nur einmal in Millionen Jahren passiert es, dass so ein Stern vom Himmel fällt. Stella-Caelo nennen wir ihn. Vom Himmel gefallener Stern.«

»Ein Sternenstein soll Tumaros geholfen haben?« Bernhard schüttelte den Kopf. »Ich habe seinen Schatz gesehen. So ein Stein war bestimmt nicht dabei.«

»Zu der Zeit war er nicht mehr in seinem Besitz. Vor tausend Jahren wurde der uralte Zeitenwächter das letzte Mal gesehen. Meine Schwester Birkalinde ist ihm begegnet. Sie trug zu jener Zeit die höchste königliche Würde. Sein Erscheinen bedeutet immer einen Wandel. Aber eine Veränderung wurde nicht sichtbar. Lange haben wir gerätselt, welche neue Zeit begonnen hat. Jetzt wissen wir es.«

»Der Caelo ist vom Himmel gefallen?«

»So ist es.«

»Und Tumaros hat ihn gefunden?«

»Wann er in seinen Besitz gelangt ist, wissen wir nicht. Wir haben uns große Vorwürfe gemacht, dass wir das Erscheinen des Zeitenwächters nicht besser erforscht hatten. Wir ließen es zu früh auf sich beruhen. Dann kam Proélia und hat unsere ganze Aufmerksamkeit gefordert. Erst als Tumaros sie besiegte, bekamen wir eine Ahnung und machten uns auf die Suche.«

»Du sagst, zu Rosas Zeiten besaß er ihn nicht mehr. Wie hat er ihn verloren?«

»Gute Frage. Wir haben lange gebraucht, um die Antwort zu finden. Jetzt sind wir sicher. Atrox hat den Stern.«

Bernhard kräuselte die Stirn. »Atrox?«

»Das ist der Drachenkönig. Tumaros wird versucht haben, den Besitz geheim zu halten. Aber der Sieg über die Hexe hat ihn verraten. Atrox hat den Stein von ihm verlangt. Damit hatte Tumaros einen Grund, ihn zum Kampf herauszufordern und somit selbst Drachenkönig zu werden.«

»Und warum ist er nicht Drachenkönig geworden? Er hätte doch diesen Caelo gegen Atrox einsetzen können?«

»Das Drachengesetz verbietet das. Sie müssen aus eigener Kraft gegeneinander kämpfen. Nur der Stärkste kann König sein.«

»Macht nicht der Stärkste das Gesetz? Was kümmert es ihn, wenn er im Besitz dieses mächtigen Steines ist?«

»Gegen ein Drachengesetz kann kein Drache verstoßen. Das wäre, als würde man gegen das Gesetz zu atmen verstoßen.«

»Es wäre sein sicherer Tod gewesen?«

»So ist es. Alle Drachen würden sich gegen ihn erheben.«

»Dann hat Atrox den Caelo, den ihr Waldfeen braucht, um die Hexe zu vernichten?«

»So muss es sein.«

»Holt ihn euch. Ihr seid auch nicht ohne Macht. Tarnzauber. Schutzzauber. Denkt euch was aus und stattet Atrox einen Besuch ab.«

»Genau das wollen wir tun. Wir müssten nur noch wissen, wo er wohnt.«

Bernhard schüttelte ungläubig den Kopf. »Wieso wisst ihr nicht, wo der Drachenkönig wohnt? So klein wird er doch nicht sein?«

»Oh nein, wahrlich nicht. Er ist gewaltig und seine Nähe ist tödlich. Er wohnt im Pallatgebirge.«

Die Erwähnung dieses Namens brachte Bernhards Blut in Wallung. Er sprang auf. »Pallatgebirge? Wo habe ich diesen Namen gehört?« Er schaute nach Südwesten, als könnte man es dort sehen.

Eschagunde nickte. »Deine Reaktion zeigt mir, dass meine Vermutung richtig ist. Jeder Drache findet den Weg zum Pallatgebirge.«

»Ich bin ein Bär.«

»Und ein Drache.«

Der Boden schwankte unter Bernhard. Alles begann, sich um ihn zu drehen. Er ließ sich auf die Bank fallen. »Verdammt, ich bin ein Bär«, presste er durch die Zähne. »Ich habe so lange damit gerungen und jetzt kommst du und sagst, ich bin ein Drache.«

Eschagunde drückte seine Hand. »Heute bin ich froh darum. Du bist unsere einzige Hoffnung. Zeig uns den Weg zum Pallatgebirge.«

»Ich soll noch einmal in eine Drachenhöhle gehen?« Bernhards Stimme zitterte.

Eschagunde forschte in seinem Gesicht. »Ich sehe, dass die Drachenhöhle sich tief in deine Seele gebrannt hat. Und trotzdem frage ich dich, ob du uns helfen willst.«

»Um meine Familie zu schützen, würde ich, ohne zu zögern, in den Tod gehen. Aber das, was du verlangst, ist schlimmer als der Tod.«

»Ich wünschte, es gäbe eine andere Lösung.«

»Ich brauche ein wenig Zeit, Eschagunde. Ich … ich muss Abschied nehmen … dann komme ich mit dir.« Er schaute nicht auf, während er das sagte. Seine Stimme war am Ende nur noch ein Flüstern.

Eschagunde nickte. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, bevor sie verschwand.

Bernhard hob einen Stein auf und warf ihn mit aller Kraft Richtung Drachenberg.

Innere Stimmen

Noch vor Sonnenaufgang klopfte Bernhard an Rosas Tür. Es dauerte nicht lange, bis seine Mutter öffnete. Sie verdeckte ihre Narben mit einem langen roten Kleid und einem Kopftuch. In ihrem Gesicht spiegelte sich sowohl Wärme als auch Entschlossenheit.

»Bernhard! Komm herein. Ich habe gehört, was passiert ist. Wie geht es Patrizia? Ist sie über den Berg?«

»Eschagunde war bei ihr. Sie ist bei Bewusstsein, aber sie friert noch sehr.«

»Ich werde uns einen Tee kochen. Dann kannst du mir berichten.«

Eilig verschwand Rosa in der Küche und Bernhard machte es sich im Salon vor dem Kamin bequem. Rosas Haus war das größte in Mühlenau. Sie wohnte über zwei Etagen. In den unteren Räumen waren Büros und ein Atelier untergebracht. Dort entwarf sie Kleider und Korbmöbel, die weit über die Landesgrenzen hinaus gefragt waren. Ihr Mann Bodo verwaltete den Betrieb.

Bernhard schaute in das prasselnde Kaminfeuer und atmete den Duft seiner Mutter, der den Raum erfüllte. Er liebte ihren Geruch.

Rosa kam mit einem Tablett zurück und reichte Bernhard eine Tasse heißen Tee.

»Schläft Bodo noch?«, fragte er und beobachtete, wie der Zucker sich beim Rühren auflöste.

»Nein, nein. Er ist früh in die Werkstatt gegangen, aber er müsste bald zurück sein. Und jetzt erzähl. Was ist passiert?«

Bernhard seufzte und begann seine Schilderung mit den Albträumen der jüngsten Vergangenheit. Mit dem Stella-Caelo, und dass Eschagunde ihn zum Drachenkönig schicken wollte, um den Stein zu finden, beendete er seinen Bericht. »Ich würde mein Leben für Patrizia geben. Keine Drachenhöhle der Welt würde mich aufhalten. Aber der Gedanke an das Drachenfeuer lässt mich erstarren. Meinen Körper könnte ich zwingen, aber meine Seele … verwandelt sich in einen kleinen Jungen, der Angst hat.«

Rosa drückte seine Hand und nickte. »Ich könnte auch keinen einzigen Feuerstrahl mehr ertragen. Schon bei der Erinnerung schmerzt jede einzelne Narbe.«

»Was soll ich bloß tun? Eschagunde sagt, es ist die einzige Möglichkeit, diesen Kristall zu finden.«

»Du bist nicht mehr das kleine Kind, dessen Mutter gefoltert wird. Und du bist stark. Ich weiß, dass du es schaffen kannst.« Sie versuchte, überzeugend zu klingen, aber über ihre Wange lief eine Träne. Hastig wischte sie sie weg. »Ich rede klug daher, doch schon der Gedanke, dass du zu einem Drachen gehst, macht mich krank.«

»Ich bin ein Feigling, Mama. Wir alle sind in großer Gefahr und ich sitze hier mit schlotternden Knien.«

»Wie kannst du das sagen. Du bist der mutigste Bär, den ich kenne.«

Sie lauschten dem Knistern des Kaminfeuers und wussten beide für den Augenblick nichts zu sagen.

»Es scheint, als würde uns die Vergangenheit immer wieder einholen«, brach Bernhard die Stille.

Rosa schüttelte den Kopf. »Nein, Bernhard, das tut sie nicht. Was vergangen ist, ist vergangen. Ich sage es noch einmal, du bist nicht mehr der kleine Junge.«

»Ich hätte meinen Kindern mehr von der Drachenhöhle erzählen sollen. Dann hätte Patrizia besser verstanden, warum sie sich von dort fernhalten soll. Es ist meine Schuld.«

»Oh, das alte Spiel. Läuft etwas schief, bist du schuld. Patrizia ist neugierig und willensstark. Sie hat noch immer ihren Kopf durchgesetzt. Ganz der Vater, wenn du mich fragst.«

Ein Lächeln huschte über Bernhards Gesicht. Aber aus seinen Augen sprach die Verzweiflung. »Was passiert, wenn ich nicht gehe?«

Rosa legte den Arm um ihren Jüngsten. »Dann werden wir das Dorf verlassen. Höre auf dein Herz. Mühlenau hat dir viel zu verdanken. Niemand wird dir Vorwürfe machen. Niemand muss von dem Stein erfahren.«

»Hat Mühlenau nicht fünfhundert Jahre darum gekämpft, das Dorf nicht verlassen zu müssen?«

Rosa seufzte. Sie wusste keine Antwort.

Bernhard stellte die Tasse zur Seite. »Kommst du am Nachmittag bei uns vorbei?«

»Das werde ich.«

»Danke, Mutter.«

Eschagunde wartete auf der Holzbank, als Bernhard nach Hause kam. Die beiden ungleichen Wesen sahen einander an.

»Was passiert, wenn ich nicht gehe?«

»Das kann niemand sagen. Genauso, wie niemand wissen kann, was passiert, wenn du gehst.«

»Ich brauche Bedenkzeit, Eschagunde. Es ist nicht die Angst vor dem Drachen, die mich zurückhält. Es ist die Angst vor meiner Erinnerung. Ich kann das nicht noch einmal erleben.« Er blickte auf den Boden. »Und Patrizia geht es doch besser«, fügte er leise hinzu.

»Ich wünschte, ich könnte sagen, was dich erwartet. Aber kein Wesen, außer Drachen, ist jemals im Pallatgebirge gewesen.«

Bernhard schaute auf seine zitternden Hände. »Halte mich nicht für einen Feigling. Bitte lass mir noch ein paar Tage Zeit.«

»Ich werde mich mit meinen Schwestern beraten, wie wir dich schützen können. Warte auf meine Rückkehr, Bernhard Drachenbär. Und habe ein waches Auge auf Patrizia.«

»Wie meinst du das, ein waches Auge?«

Die Waldfee war verschwunden.

»Eschagunde! Verdammt! Wie meinst du das?« Es war immer das Gleiche mit diesen Waldfeen. Er öffnete die Pforte und eilte in die Hütte.

Bernadette stand am Herd und bereitete den Kaffee für das Frühstück. Sie warf Bernhard einen Blick zu und setzte sich an den Tisch. Er folgte ihrem Beispiel.

»Ich denke, es wird Zeit, dass du mit mir sprichst. Was geht hier vor sich?«

Bernhard nickte. »Du hast recht.« Er fasste ihre Hände. »Bitte verzeih mir, dass ich dich nicht eingeweiht habe.«

»Eingeweiht in was?«

Mit einem tiefen Atemzug wiederholte er, was Eschagunde von ihm wollte. »Nur Drachen können den Weg zum Drachenkönig finden«, beendete er seinen Bericht.

»Aber du bist ein Bär.«

»Ich habe Drachenblut.«

Bernadette klammerte sich an seinen Händen fest. »Du willst doch nicht etwa in die Drachenhöhle gehen?«

»Genau darum hat Eschagunde mich gebeten.« Er hielt inne. »Schon der Gedanke verursacht mir Übelkeit.«

»Ich habe Angst, Bernhard. Können wir nicht einfach von hier weggehen? Irgendwohin, wo die Hexe uns nicht findet?«

Bernhard stand auf. Seiner Frau rollten Tränen über die Wange. Er zog sie in seine Arme und hielt sie stumm.

Dicke Wolken hielten den Mond gefangen und nur hin und wieder gelangte ein Lichtstrahl zur Erde. Bernhard saß in der Wohnzimmerecke am Fenster und starrte hinaus. Eine Woche war vergangen und nichts geschehen. Eschagunde war nicht aufgetaucht. Das Leben um ihn herum versuchte, seinen gewohnten Gang zu nehmen. Doch die Bilder, die in Bernhards Kopf zurückgekehrt waren, vergifteten seine Träume. Er wollte losgehen, den Drachenkönig suchen, den Kristall holen und der Hexe den Garaus machen. Aber seine zitternden Hände sprachen eine andere Sprache. Bernhard schämte sich. Er konnte seine Familie nicht beschützen. Genau wie damals. Drache bleibt eben Drache, dachte er bitter.

Patrizia war noch immer blass und fröstelnd. Sie war still und hatte ihr rotes Kleid gegen ein schwarzes getauscht. Ihre Eltern fragten täglich, was sie quälte. Aber sie schwieg und genau das raubte Bernhard den Schlaf.

Er dachte nach, kam zu keinem Ergebnis und begann wieder von vorne nachzudenken. Die Standuhr tickte. Bernhard lauschte, als dürfte er kein einziges Ticken verpassen.

Leises Knarren riss ihn aus dem Gedankenkarussell. Die Tür zu den hinteren Zimmern öffnete sich. Bernhard hielt die Luft an.

Patrizia schlich aus dem Zimmer, übersah ihren Vater in der Dunkelheit und schlich zum Ausgang. Das Öffnen der Hüttentür löste Bernhard aus seiner Erstarrung. Er sprang auf. »Wo willst du hin?«

Patrizia zuckte zusammen. »Papa. Was machst du hier?«

»Was machst du hier?«

Sie wich seinem Blick aus. »Nur ein bisschen frische Luft schnappen. Es ist so stickig in meinem Zimmer.«

Bernhard drückte die Tür zu und stellte sich davor. »Was verschweigst du mir?«

Patrizia senkte den Kopf. Tränen liefen ihre Wangen hinunter. »Es ist nichts. Wirklich.«

Bernhard packte ihre Schultern und schüttelte sie sanft. »Du musst mit mir reden, Patrizia.«

»Ich kann nicht … Ich darf nicht.«

»Wer verbietet es dir?«

»…«

»Sag es!«

»Sie.«

Bernhard erschrak. Mechanisch fragte er: »Wer sie?«

»…«

Er drehte den Schlüssel in der Tür und zog Patrizia auf das Sofa. »Was will sie von dir?«

Patrizia schlang die Arme um Bernhards Hals, schluchzte und schüttelte den Kopf.

Bernhard fasste einen Entschluss. Er löste sich aus der Umarmung. »Wir müssen das Dorf verlassen. Du und ich. Gleich morgen früh.«

»Aber … Das nützt nichts, Papa. Sie wird mich überall finden.«

»Wir gehen nicht, um vor ihr zu fliehen. Wir gehen, um sie zu bekämpfen.«

»Nein, Papa. Das geht nicht.«