Ödön von Horváth: Zur schönen Aussicht

 

 

Ödön von Horváth

Zur schönen Aussicht

Komödie in drei Akten

 

 

 

Ödön von Horváth: Zur schönen Aussicht. Komödie in drei Akten

 

Vollständige Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Ilya Mashkov, Genfer See, 1914

 

ISBN 978-3-8430-6071-4

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-7820-7 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-7821-4 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Entstanden 1926. Uraufführung: 5. Oktober 1969, Schauspielhaus Graz.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Personen

 

Max

 

Karl

 

Müller

 

Strasser

 

Emanuel Freiherr von Stetten

 

Ada Freifrau von Stetten

 

Christine

 

Zeit: Ungefähr zwölf Stunden

 

Erster Akt

Halle des Hotels zur schönen Aussicht.

Dies Hotel zur schönen Aussicht liegt am Rande eines mitteleuropäischen Dorfes, das Dank seiner geographischen Lage einigen Fremdenverkehr hat. Saison Juli-August. Zimmer mit voller Verpflegung sechs Mark. Die übrige Zeit sieht nur durch Zufall einen Gast.

Es ist drei Uhr Nachmittag und die Sonne scheint. Im Monat März. Links Portierloge. Rechts Glastüre mit Aufschrift: Speisesaal. Im Hintergrunde führt eine Treppe nach oben und eine breite weit offene Türe ins Freie. Am Horizont Berge. Im Vordergrund ein kleiner Tisch und zwei Rohrstühle. In der Ecke eine vergilbte Palme. Eine mächtige alte Karte von Europa hängt an der Wand. Alles verstaubt und verwahrlost.

Max in Hemdsärmeln; sein Kellnerfrack liegt neben ihm auf dem Pulte der Portierloge; er liest Zeitung, frißt Brot und schlürft aus einer großen Tasse Kaffee.

Im Zimmer über der Halle spielt ein Grammophon Südseeweisen.

 

KARL in lederner Chauffeuruniform, erscheint in der Türe im Hintergrund; fixiert Max; tritt langsam auf ihn zu und beugt sich über das Pult. Guten Morgen, Liebling.

MAX. Gute Nacht, Liebling.

KARL. Kannst du es erraten, was ich jetzt am liebsten tun würde?

MAX. Nein. Und dann interessiert es mich auch nicht.

KARL. Aber mich. Du hast dein Ehrenwort gebrochen.

MAX. Interessiert mich nicht.

KARL. Du hast mich bestohlen. Du Hund.

MAX. Es interessiert mich nicht. Mein Herr.

KARL. Du bist eine korrupte Kreatur.

MAX. Sie haben ja den Südpol entdeckt! Man gratuliert.

KARL. Oh, bitte! Diese gewaltige Entdeckung ist nicht mein Verdienst, sondern ist bereits gerichtsnotorisch protokolliert!

MAX. Brüll nicht! Er lauscht. Es gibt doch auch Fehlurteile.

KARL grinst. Freispruch.

MAX. Und Justizmord.

KARL finster. Das auch.

 

Schweigen.

 

MAX. Apropos korrupte Kreatur: Baronin lassen sagen, der Chauffeur solle warten.

KARL. So? – Was mich das Frauenzimmer neuerdings warten läßt!

MAX. Was sich liebt, das läßt sich warten. Und apropos Justizmord: ich habe einmal läuten hören, daß du damals, als du noch hübsch und knusprig warst, vor 1914, ich glaube in Portugal –

KARL scharf. Was war in Portugal?

MAX. Du warst doch in Portugal?

KARL. Ja.

 

Schweigen.

 

Was ist mit Portugal?

MAX. Du warst doch auch mal Kaufmann, vor 1914 – in Portugal?

KARL. Ja. Und?

MAX. Stimmt.

KARL. Was stimmt?

MAX. In Portugal gibt es korrupte Charaktere, sehr korrupte – besonders vor 1914 gab es dort außerordentlich korrupte Charaktere. Da konnte man keinen ungestraft an sein Ehrenwort erinnern.

KARL. Was soll das?

MAX. Es ist schon mancher bestraft worden, in Portugal. So um die Ecke – bestraft.

KARL. Wer?

MAX. Zum Beispiel: Jener – Er stockt.

KARL. Wer jener?

MAX. Was weiß ich!

KARL brüllt. Heraus damit!

MAX. Verzeihung! – Ich dachte, jener hätte sich nur verletzt, leicht verletzt, oberflächlich verletzt, ich dachte, du hättest jenen nur niedergeschlagen, leicht, oberflächlich niedergeschlagen, gewissermaßen k. o. – und jener hätte sich dann wieder erholt, hätte blühender ausgesehen wie je zuvor, aber jener ist verschieden, inzwischen – so ganz von allein verschieden –

KARL finster. Ganz von allein. Hörst du?

MAX schluckt. Ganz von allein. Gut. Lassen wir den Spiritismus.

 

Im Zimmer über der Halle fällt ein Stuhl um. Karl, Max starren empor. Das Grammophon bricht plötzlich ab.

 

MÜLLER erscheint in der Eingangstüre; hält auf der Schwelle. Na guten Tag! Mein Name ist Müller, Vertreter der Firma Hergt und Sohn. Ich will mal Direktor Strasser sprechen.

MAX. Herr Direktor ist leider im Augenblick –

MÜLLER unterbricht ihn. Nanana! Wann kommt denn der Augenblick, in dem man bezahlt wird? Wann denkt man denn hier, die Rechnung zu begleichen? Oder wird hier geglaubt, die Schulden werden erlassen, wie?

MAX. Da ich nur Kellner bin, kann ich diese Fragen nicht beantworten. Ich kann nur sagen, daß ich den Eindruck habe, als würde es uns sehr schwerfallen zu bezahlen. Wir haben seit fünf Monaten nur einen einzigen Gast, eine alte Dame, die sich hierher zurückzog, um still leben zu können.

 

Im Zimmer über der Halle lacht eine Frau kreischend; das Grammophon ertönt wieder.

 

MÜLLER lauscht. Nur ein Gast?

MAX. Leider.

MÜLLER grinst. Nur Mut, junger Mann! Nur Mut! Die Masse macht es nicht! Qualität ist Trumpf! Einer zählt für zwanzig, einer zahlt für zwanzig, wenn er eine Persönlichkeit ist!

 

Wieder fällt im Zimmer über der Halle ein Stuhl um; und dann hüpft jemand hin und her, daß alles erzittert.

 

Toll! – Still leben. Und zurückgezogen. Mit wem hat sie sich denn zurückgezogen? Er wiehert.

MAX. Mit dem Kaiser von China.

MÜLLER. Nanana, Kellner! – Seit wann ist unser Freund und Meister Direktor Strasser, Besitzer dieses Etablissements, Kaiser von China, Sohn des Himmels? – Na denn auf Wiedersehen! Ab.

 

Strasser mit schiefsitzender Krawatte und zerwühlter Frisur; steigt langsam die Treppen herab; hält auf der letzten Stufe und ordnet Krawatte und Frisur.

Das Grammophon verstummt: schläft ein.

 

KARL hatte sich gesetzt; erblickt Strasser. Na endlich!

STRASSER. Der nächste.

 

Karl erhebt sich und ordnet sich die Uniform.

 

Baronin dürften sogleich erscheinen. Baronin ziehen sich nur an.

KARL. Haben Baronin mit Stühlen jongliert?

STRASSER. Baronin tanzten.

KARL. Menuett!

STRASSER. Wie ein Roß. Er erblickt Max. Mensch! Wie siehst du wieder aus?

MAX. Wie?

STRASSER. Zieh dir doch den Frack an! Das will Kellner sein!

MAX. Erstens: will ich ja gar nicht Kellner, und zweitens: eigentlich bin ich ja –

STRASSER unterbricht ihn. Laß das! Erstens, zweitens, drittens: du bist Kellner! Daß du ursprünglich Plakate entworfen, Kunstgewerbler oder dergleichen Schnee warst, geht uns hier nichts an! Erwähne ich denn mein Vorleben?

MAX. Im eigenen Interesse? Kaum!

STRASSER. Kehre ich jemals den Offizier hervor? Betone ich jemals, daß ich eine Hoffnung, ja mehr als das, eine Erfüllung der europäischen Filmindustrie war? Daß ich ein Bonvivant, einmalig!

MAX. Aber der Bonvivant hat Pech gehabt.

STRASSER. Ich verbitte mir das! Das ist ja alles nicht wahr! Das sind gemeine Verleumdungen! Das war schon lange vorher! Der Bonvivant hat sich dieses Hotel gekauft, weil seine Augen die Jupiterlampen nicht ertragen konnten!

MAX. Wird gesagt.

STRASSER. Halt dein Maul! Und Schluß! Jetzt bist du Kellner! Verstanden?! Ob du noch vor einem Jahre Autos verschoben hast –

MAX unterbricht ihn. Mit dir!

STRASSER. Mit mir. – Ja, was soll denn das?

MAX. Ich meinte nur.

STRASSER. Der Zeigefinger hat mir nicht gefallen, der Zeigefinger!

MAX. Der? – Das war ja gar nicht der Zeigefinger, nur der kleine Finger. Der kleinste Finger.

STRASSER. Jetzt hast du dir den Frack anzuziehen. Was sollen denn die Gäste denken?

MAX. Es kommen keine Gäste. Höchstens Vertreter. Ab und zu.

STRASSER. War einer da?

MAX. Ja. Ein Herr Müller.

STRASSER. Ich bin nicht zu sprechen.

MAX. Er wird wiederkommen. Pinke, Pinke!

STRASSER. Zieh dir den Frack an.

MAX. Nein. Ich schwitze.

KARL gehässig. Im März?

MAX. Gott, auch im März kann es einem heiß werden, im August werden wir vielleicht frieren.

KARL. Vielleicht!

MAX. Vielleicht sicher sogar.

STRASSER. Also kriegen wir dann überhaupt keine Saison mehr?

MAX. Möglich. Die Erdachse soll sich ja verschoben haben.

STRASSER. Woher weißt du denn das?

MAX. Ich beschäftige mich doch mit Astrologie.

STRASSER. Du sollst dir den Frack anziehen.

 

Max folgt zögernd; zieht sich unter allerhand Faxen langsam den Frack an und lächelt gelangweilt.

Die Sonne verschwindet hinter einer Wolke.

 

Schüttelt sich und schlägt rasch den Kragen hoch. Brrr! Jetzt friert es mich. Er tritt vor das Pult; er ist barfuß. Ich muß mir nur noch die Schuhe holen. Ab in den Speisesaal.

 

Die Sonne scheint wieder.

 

KARL sieht Max nach. Ein geborener Verbrecher.

STRASSER. Die Alte behauptet, er hätte eine reine Seele.

KARL. Aber dreckige Füße.

STRASSER geht auf und ab; lacht vor sich hin. Die Erdachse, die Erdachse – Diese Erdachse! Er bleibt vor der Landkarte stehen. Europa. Europa.

KARL. Man müßte fort.

MAX kommt aus dem Speisesaal; er ist noch immer barfuß. Hat vielleicht jemand meine Schuhe gesehen? – Hat niemand meine Schuhe gesehen? – Ich kann meine Schuhe nirgends finden –

EMANUEL FREIHERR VON STETTEN ein zierlicher Lebegreis mit Trauerflor, tritt rasch durch die Eingangstüre; betupft sich mit einem Spitzentaschentuch nervös die Stirne. Bin ich hier richtig? Bin ich hier richtig? Hotel zur schönen Aussicht, wie? Ja? – Melden Sie mich Baronin Stetten. Da! Er übergibt seine Karte Karl, der ihm am nächsten steht. Karl reicht sie, ohne sie eines Blickes zu würdigen, Strasser.

MAX im Hintergrund. Wer ist denn?

 

Stille.

 

Wer ist denn?

EMANUEL. Nun – wird man es noch erleben können? Bewegung, bitte! Bewegung!

KARL. Sie werden es auch noch erleben. Die kommt gleich runter.

EMANUEL. Wer ›die‹?

MAX. Wer ist denn?