Guy de Maupassant: Fettklößchen

 

 

Guy de Maupassant

Fettklößchen

Boule de suif

Novelle

 

 

 

Guy de Maupassant: Fettklößchen. Boule de suif Novelle

 

Übersetzt von Georg von Ompteda

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Pierre-Auguste Renoir, Studie einer Frau mit gelbem Hut.

 

ISBN 978-3-8430-6471-2

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-7463-6 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-7464-3 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

»Boule de suif«. Entstanden 1879, Erstdruck 1880. Hier in der Übersetzung von Georg von Ompteda, erstmals erschienen unter dem Titel »Dickchen«.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Fettklößchen

Tagelang waren in Auflösung begriffene Truppenteile durch die Stadt geeilt. Das waren keine Soldaten mehr, sondern zuchtlose Horden: die Leute trugen wilde ungepflegte Bärte, zerfetzte Uniformen, und ohne Fahne, ohne Ordnung bummelten sie regellos hin. Alle machten einen schlappen, erschöpften Eindruck, schienen unfähig, auch nur einen Gedanken oder einen Entschluß zu fassen, liefen bloß aus Gewohnheit weiter und weiter und fielen vor Müdigkeit um, sobald sie einmal Halt machten. Meist waren es Landwehrmänner, friedliebende Leute, ruhige Rentner, die unter der Last des Gewehres fast zusammenbrachen, kleine Kerls, die ebenso leicht das Entsetzen packte, wie die Begeisterung, kurz die ebenso gut angriffen wie ausrissen; unter ihnen ein paar Rothosen, Überreste irgend einer Division, die in einer großen Schlacht zersprengt worden. Dunkel uniformierte Artilleristen sah man zwischen Infanteristen, und ab und zu tauchte auch der glänzende Helm eines Dragoners auf, der, schwer zu Fuß, Mühe hatte, den schnellen Schritten der Linientruppen zu folgen.

Dann kamen Francs-tireurs-Legionen mit heroischen Namen: »Rächer der Niederlage«, »Bürger des Grabes«, »Genossen des Todes«. Sie sahen aus wie Banditen.

Ihre Anführer waren ehemalige Tuch- oder Getreidehändler, Talg- oder Seifenfritzen, die ein Zufall zu Soldaten gemacht, die Offiziere geworden wegen ihres Geldes oder wegen der Länge ihrer Schnurrbarte. Sie waren mit Waffen gespickt, mit Tressen und Litzen behängen, führten laute Reden, sprachen über den Feldzugsplan und taten, als ob sie ganz allein noch das sterbende Frankreich aufrecht erhielten. Aber manchmal fürchteten sie sich vor ihren eigenen Leuten, die zwar sehr tapfer waren, aber Plünderer und Räuber.

Es hieß, die Preußen würden in Rouen einmarschieren.

Die Nationalgarde, die seit zwei Monaten in den benachbarten Wäldern sehr ängstlich rekognoszierte, ab und zu ihre eigenen Posten anschoß und sich zum Kampfe rüstete, wenn im Dickicht sich nur ein Karnickel regte, war wieder eingerückt. Ihre Waffen, Uniformen, alle ihre Mordwerkzeuge, mit denen sie bisher die Heerstraßen drei Meilen in der Runde in Schrecken versetzt, waren plötzlich verschwunden.

Die letzten französischen Soldaten hatten eben die Seine überschritten, um über Saint-Sever und Bourg-Achard, Pont-Audemer zu erreichen. Hinter ihnen folgte zu Fuß zwischen zwei Ordonnanzoffizieren ihr verzweifelter General, der mit diesen Heerestrümmern nichts wagen durfte, und der niedergeschmettert war über den gewaltigen Zusammenbruch seines sieggewohnten Volkes, das überall geschlagen war, trotz seiner sprichwörtlichen Tapferkeit.

Dann hatte sich tiefe Stille, entsetzensvolle bange Erwartung über die Stadt gesenkt. Viele durch friedliches Gewerbe verweichlichte Bürger erwarteten ängstlich den Sieger, in steter Furcht, daß man etwa ihren Bratspieß und ihre großen Küchenmesser als Waffen ansehen könnte.

Alles Leben schien erstorben, die Läden waren geschlossen, stumm lag die Straße da. Ab und zu schlich ein Einwohner, verängstigt durch diese unheimliche Stille, eiligst längs der Mauern hin.

In der Qual der Erwartung erhoffte man beinahe die Ankunft des Feindes.

Am Nachmittag des Tages, nach dem Abmarsch der französischen Truppen, sprengten plötzlich ein paar Ulanen, die gekommen, man wußte nicht woher, durch die Stadt. Kurz darauf bewegte sich eine schwarze Masse den Abhang von Sainte-Catherine herab, während auf der Straße von Darnetal und Boisguillaume zwei weitere Abteilungen anrückten. Die Avantgarden der drei Heerkörper trafen genau zu gleicher Zeit auf dem Rathausplatz zusammen: durch alle Nachbarstraßen marschierten die deutschen Truppen ein, wälzten sich ihre Bataillone, unter deren scharfen Marschtritt das Pflaster erdröhnte.

Schnarrende Kommandos in unbekannter Sprache schallten an den Häusern hinauf, die tot und verlassen schienen, während man hinter den geschlossenen Läden die Sieger erspähte, »nach Kriegsrecht« nun Herren über Stadt, Besitz und Leben. Die Einwohner saßen verstört in ihren dunklen Zimmern, wie stets bei jenen großen Katastrophen und gewaltigen Umwälzungen dieser Erde, gegen die all unsere Weisheit, Schlauheit und Gewalt nichts auszurichten vermag. Denn dasselbe Gefühl bemächtigt sich immer der Menschen, sobald die bestehende Ordnung umgestürzt ist, sobald es keinen Halt mehr gibt, sobald alles, was unter dem Gesetz von Mensch oder Natur Schutz fand, einer brutalen, ungezügelten Gewalt überantwortet ist: beim Erdbeben, das unter einstürzenden Häusern eine ganze Bevölkerung begräbt; wenn ein Strom über die Ufer tritt, Leichen ertrunkener Bauern neben ersoffenem Vieh und Dächern zusammengebrochener Häuser mit sich reißt; beim Nahen einer siegreichen Armee, die niedermacht wer sich wehrt, alles andere gefangen fortführt, plündert mit dem Säbel in der Faust und beim Donner der Kanonen Gott preist! Das alles sind furchtbare Heimsuchungen, die den Glauben an die ewige Gerechtigkeit erschüttern und alles Vertrauen untergraben, das man uns gelehrt hat, in der himmlischen Gnade und in menschlicher Vernunft zu suchen.

Kleine Truppenabteilungen klopften an alle Türen und verschwanden dann in den Häusern. So wurde Besitz ergriffen nach dem Einmarsch; jetzt mußten die Besiegten sich gegen die Sieger entgegenkommend zeigen.

Als nach einiger Zeit der erste Schrecken vorüber war, ward es wieder ruhig. In vielen Familien aß der deutsche Offizier mit am Tisch. Manchmal war er taktvoll und beklagte Frankreichs Schicksal aus Artigkeit, drückte sein Bedauern aus, am Kriege teilnehmen zu müssen. Dafür war man ihm dankbar, – und dann konnte man heute oder morgen vielleicht seines Schutzes bedürfen. Am Ende bekam man gar, wenn man zuvorkommend gegen ihn war, ein paar Leute weniger Einquartierung. Und warum sollte man einen Menschen verletzen, von dem man ganz und gar abhing. Eine solche Handlungsweise wäre weniger Mut als Verwegenheit gewesen. Tollkühnheit aber kann man den Bürgern von Rouen heute nicht mehr verworfen wie zur Zeit jener heldenmütigen Verteidigungen, die die Stadt berühmt machten. Schließlich sagte man sich, unter Berufung auf seine französische Wohlerzogenheit, daß es sehr wohl erlaubt sei, daheim höflich zu sein, wenn man sich nur nicht gerade öffentlich mit den fremden Soldaten intim zeigte. Außerhalb des Hauses kannte man sich nicht, aber innerhalb seiner vier Pfähle schwatzte man gern, und der Deutsche blieb mit jedem Abend länger am gemeinsamen Kamin sitzen.

Die Stadt nahm allmählich ihr gewohntes Aussehen wieder an. Die Franzosen gingen zwar kaum aus, aber von feindlichen Soldaten wimmelte es in den Straßen. Übrigens schienen die Offiziere der blauen Husaren, die anmaßend ihre großen Mordwaffen auf dem Pflaster schleppen ließen, auf den einfachen Bürger durchaus nicht etwa mit mehr Verachtung herabzublicken als die französischen Jägeroffiziere, die ein Jahr vorher im selben Café gesessen.

Und doch lag etwas in der Luft. Etwas Fremdes, Rätselhaftes, ein seltsam unerträglicher Druck lastete auf allen: die Anwesenheit des Feindes. Sie machte sich fühlbar in den Wohnungen, auf den öffentlichen Plätzen, schien das Essen zu verbittern, rief den Eindruck hervor, als befände man sich gar nicht zu Haus, sondern weit fort, unter barbarischen wilden Völkerschaften.

Die Sieger verlangten Geld, viel Geld; die Einwohner zahlten immerfort. Übrigens waren sie reich. Aber je wohlhabender ein normannischer Kaufmann ist, desto mehr leidet er unter jedem Geldopfer, tut ihm jedes Teilchen seines Vermögens weh, das er in fremde Hände übergehen sieht.