Annemarie Schwarzenbach: Winter in Vorderasien

 

 

Annemarie Schwarzenbach

Winter in Vorderasien

Tagebuch einer Reise

 

 

 

Annemarie Schwarzenbach: Winter in Vorderasien. Tagebuch einer Reise

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Jean-Leon Gerome, Die Karawane, 1890

 

ISBN 978-3-8430-8242-6

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8619-9355-1 (Broschiert)

ISBN 978-3-8619-9356-8 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Zürich, Rascher 1934

 

Dieses Buch folgt dem in der Schweiz geschriebenen Deutsch ohne Eszett (ß).

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Istanbul

15. Oktober 1933

Die Griechen haben das Wort erfunden, schwer und volltönend wie eine farbige Abendstunde vor dem Erlöschen: Melancholie. Der Balkan war voll davon – nur eine Ahnung liess uns die flüchtige Durchfahrt von Ländern, Grenzen, Gebirgen und Hauptstädten –, aber welche unerlöste Folge von Stunden, welch langsamer Abend, welches Einschlafen unter dem Druck dieser grauen Berge und bräunlichen Ebenen! Schafherden weideten überall, die Maisfelder standen in herbstlicher Dürre. Die Bauern sandten unverständlich schweigsame Blicke unserer verschlossenen Wagenreihe nach, die Frauen verbargen ihre vorgewölbten Leiber unter dickgefütterten Jacken, ihre zerfurchten Klagegesichter unter dunklen Kopftüchern.

Ich versuchte, mich an die Namen der grossen Bulgarenzaren zu erinnern, der blutigen Schlachten mit den Byzantinern, an die türkischen Eroberer.

Da begann an einem elenden Bahnhof eine Bläserkapelle zu spielen. Es war schon dunkel, die Leute standen im Wind und bliesen, während der Zug sich in Bewegung setzte ... ein Volkslied vielleicht ... traurig und verloren wehten die Töne uns nach.

Heute morgen erwachten wir dann in einer neuen, urfremden Landschaft. Diese kahlen Hügelreihen, dieses Steppengras, diese zu weissen Wolken, von Windstössen gejagt – das war schon Asien, begrüsste uns schon wie rauher Nomadenschrei. Hirten, in Pelze gekleidet, die lange Flinte über der Schulter, jagten wie besessen auf ihren kleinen Pferden neben dem Bahngeleise her, während die Ochsen in träger Ruhe mit breiten Hörnern und hellem Fell in der Morgensonne lagen. Bald tauchte das Meer auf – eine tiefblaue Bucht –, leuchtend wie drüben an der verwandten Küste Südfrankreichs; hinausblickend wusste man: unendlich weit jenes geliebte Europa, und fühlte sich wehmütig angerührt.

Mauern tauchten auf, byzantinische Reste, gegen Meer und Land gewendet. In ihren Breschen und Höhlen hatten Hirten ihre Zeltdächer aufgespannt, kleine Rauchsäulen stiegen schwankend in den bewegten Himmel. Und plötzlich war es Stambul, das mit der Kuppel der Hagia Sophia (ein Kindheitstraumbild), mit glänzenden Ufern, Schiffen, Segeln und einem Meer weisser Häuser, von hellblauem Dunst verschleiert, aus der Spiegelflut emporstieg ... Man wird in den Strassen der Stadt vom Eindruck des Zeitlosen, Ungewissen und Preisgegebenen überfallen wie von einer Versuchung. Wie oft spielt man mit dem Gedanken, das gewohnte Dasein an einer Stelle willkürlich abzubrechen, sich von den alten Orten, Freunden, Tätigkeiten zu trennen, in Anonymität unterzutauchen – und wie weit ist man stets wieder von dieser Versuchung des Schicksals entfernt!

Hier, die Stadt an der Grenze Asiens, die Meerespforte, das glänzende Schwert zwischen Osten und Westen: sie ist wie eine Drohung überpersönlicher, ja übermenschlicher und zeitloser Abläufe.

Hier werden Völker aus den östlichen Ebenen gesammelt und hinübergeworfen nach Europa, Religionen formen und scheiden sich und erstarren zu goldenem Bilderdienst.

Hier landen Flotten, werden demütige Kreuzritter zu Thronräubern und östlichen Herrschern, Hellenen und Barbaren folgen aufeinander, und nichts ist der Einzelne oder ein Porphyrogennetos ...

 

Wir waren in den Moscheen, Basars und Handwerkervierteln. Wir sahen Bettler, kleine Mädchen, Wasserträger, Blinde und Betende, Popen, Makler, Fischverkäufer, Truthahntreiber – wir sahen all das Längstbekannte: den farbigen Orient, das Nie-ganz-zu-Erfahrende. Vielleicht ist es uns gelungen, eine gute Aufnahme des alten Mannes zu machen, welcher im Hof der Beyazit-Moschee sitzt: in einem hellroten, zerschlissenen Seidenmantel, die Hand zum Handeln und Geldeinnehmen ausgestreckt wie zur würdigsten Verrichtung und einen Weisheitsblick auf uns richtend, voll schmerzerfahrener Gelassenheit und ganz ohne Hohn.

Auch alte Frauen haben oft diesen Blick – man erinnert sich dann daran, dass die Türken ein Herrenvolk waren und Levantiner und Griechen, auch Ägypter, für sich handeln liessen.

 

Im grossen Basar war es sehr still. Die Leute priesen ihre Waren kaum zweimal an und liessen uns weitergehen – bis in die tiefsten und dunkelsten Gewölbe, wo Messingtöpfe, Lampen und Schwertklingen aus dem Dunkel der Nischen leuchteten ...

Dort sassen alte Männer neben zerlumpten Knaben, deren Augen wie Tieraugen glühten; sie schwiegen oder wiegten sich ein wenig und sangen. Manchmal hatten sie, zu Haufen aufgestapelt, alten Hausrat, darunter schöne, wenn auch meistens verdorbene und erblindete Stücke.

In alten Büchern sah man Miniaturen, deren zarte Goldlinien kaum noch erkennbar waren im vergilbten Papier; feingeflochtene Armbänder mit Türkisen und Korallen, wunderbar nebeneinander anzusehen; alte Klingen, zerbrochene Teller, in Farben bemalt, die man heute nicht mehr finden würde; russische Ikonenbilder mit rötlichgoldenen Heiligengesichtern und grossäugigen Gotteskindern; köstlich bestickte Fetzen alter Leinwand; irgendwo, in einem besseren Laden, einen türkischen Frauenmantel, schilfgrün und golddurchwirkt, mit offenem, stehendem Kragen, weiten, lang zulaufenden Ärmeln, für ein schlankes, hochgewachsenes und schmalschultriges Mädchen bestimmt.

Gegen Abend waren wir wieder auf dem grossen, grasbewachsenen Platz der Suleymaniye. Der Himmel, an dieser Stelle wie ein Baldachin über dem gobelingestickten Gemälde vom Goldenen Horn, über langen Brücken, angehäuften Barken, dem Galataturm und der ansteigenden Stadt Pera, den grünen Gärten des Serails, den blauen, bewegten Flächen des Bosporus, den reichen Ufern und Inseln und den gelben Küstenzügen, die schon Anatolien, Steppe, Asien aus der Ferne beschwören ...

Ein Gebetsrufer sang von einem der weissen, leuchtenden Minarette. Seine Stimme hallte klagend, schwebte langsam von der Höhe herab, verklang, als er sich auf die andere Seite des Turmes wandte. Drüben, über Galata und Beyoglu, stieg ein leichter Nebel auf und verhüllte die Häusermassen. Auf unserer Seite war die Luft durchsichtig, leicht bewegt und kühl. Wir sahen auf die runden Bleikuppeln der alten Volksküchen des Kalifen hinunter, in die enge Strasse, wo die Schmiede in den Mauerarkaden ihre dürftigen Werkstätten eingerichtet hatten. Ihr Hämmern tönte dumpf, daneben Klappern von Eselhufen und Holzsandalen und langgezogene Abendrufe der Strassenhändler. Ein Mann ging langsam über den Platz, eine Katze auf dem Nacken. Als er sich an einem der Brunnen die Füsse wusch, miaute sie ängstlich, sprang herab und strich durch das niedere Gras davon.

Die Gerüche in der Handwerkerstadt waren so durchdringend, dass mir beinahe übel wurde. Nicht nur Fische in flachen Körben: blauschillernde, grosse Tiere; nicht nur tausend Gewürze, Fleischmassen, Öle, Käse- und Quarkbuden, Melonen, Pfeffersäcke, Bier, gärender Traubenmost; nicht nur ungezählte Garküchen mit ihrem penetranten Hammelfettgeruch, ihren dampfenden Herdlöchern, Tomaten- und Fleischschüsseln, alles in gelber Fettsauce schwimmend – daneben noch, auf der Strasse, in den Buden und Werkstätten, kleine offene Feuer, Pfannen mit Gesottenem und Gebratenem, Fischkoteletts, überzuckerten Klössen, in Öl gedrehten Auberginen: ein erstickender Schwall schwerer Gerüche neben Staubwolken, Schmiederuss und feuchtem Wäschedampf. In den Fenstern der Garküchen sah man manchmal, neben Hühner- und Taubenleichen, nackte Hammelköpfe mit leeren Augenhöhlen wie heidnische Symbole über den dampfenden Schüsseln aufgerichtet.

Inmitten der Handwerkerstadt fanden wir die kleine Moschee, zu der eine Treppe zwischen den Häusern und Läden emporführt. Wir zogen die Schuhe aus und gingen hinein; ein Raum von unendlich reinen Ausmassen und beruhigender Wirkung empfing uns. Wände und Säulen waren ganz mit den köstlichen blauweissen Fayencekacheln verkleidet: eine Ablenkung zuerst, sanfte Verwirrung stiftend – dann aber hinüberleitend zu Abstraktion und Andacht.

Ein Türke zeigte mir einen alten, handgemalten und handgeschriebenen Koran. »Nur so lange darf man an dem heiligen Buch schreiben«, sagte er mir, »als man sich vom Denken fernhalten kann. Sobald der Gedanke die innere Ruhe stört, muss man mit der Arbeit abbrechen.«

Um die Abendstunde kamen viele Leute in die Moschee: alte Männer, Zerlumpte und phantastisch Gekleidete, ehrbare Handwerker und fettleibige Händler, Aristokraten und Gaunergesichter. Niemand beachtete uns. Durch die offenen, vergitterten Fenster drangen der Lärm der Strasse, Geschrei, Zank, Anpreisung und Feilschen herauf. Die Alten aber, auf hellen Teppichen kniend, verrichteten in tiefer Ruhe ihre mannigfachen Gebetsübungen.

 

Ankara

26. Oktober 1933

Asphaltstrassen führen von der neuen Hauptstadt in die Steppe und die Anstiege und Schluchten aus braunem, unbewachsenem Erdreich. Unendliche Farbenskalen spielen an fernen Horizonten, der Himmel selbst ist so gross wie über dem Meer und spannt sich, ein durchsichtig seidenes Gewölbe mit langen Wolkenstreifen, über dem trostlosen Land.

Es ist eine öde Hochgebirgslandschaft: Zwischen den letzten flachen Gipfeln der Welt führt die Strasse ins Unbekannte, wo man ewig im Kreise geht ...

Manchmal gibt es eine Wasserader, ein bescheidenes Rinnsal; da grünen einige Büsche, neigen sich schwache Bäume, wächst ein zarter Rasenteppich: Leben und Wachstum genug; ein Pferd weidet am Bachufer, sein Reiter liegt im kleinen Schatten und schläft. Weiter draussen, in einem Becken zwischen Felshügeln, wird das grosse Stauwerk der Stadt Ankara gebaut. Eine Mauer aus Eisenbeton wächst gewaltig empor, aber das Wasser ist noch nicht gefunden, welches das Becken füllen soll. Nun wartet die Mauer, ein verirrter Gigant.

Als wir im Ford, der sinkenden Sonne entgegen, heimwärts fuhren, erblickten wir von weitem die ersten Kamele.

Sie standen in langer Kette auf einem Hügelrücken, dunkel und gross im leeren Himmel. Wir riefen Hassan zu, dass er halten solle, sprangen aus dem Wagen und liefen die Anhöhe hinauf. Die Tiere standen und lagen, einige reglos, andere bewegten beim Fressen die sonderbaren Langhälse auf und ab, taten ein paar Schritte und liessen sich in die Knie nieder.

Als ich mich einem Kamel bis auf zwei Meter genähert hatte, um es zu fotografieren, wandte es mir sein uraltes Faltengesicht mit feuchtglänzenden Augen zu und folgte mir; ich fühlte seine wiegende Grösse in meinem Rücken.

Die Treiber, Mongolentypen, lachten uns an. Als wir, ausser Atem, wieder beim Wagen anlangten, war der Hügel schwarz, und die gereckten Hälse und dunklen Höcker schienen leuchtend umrissen wie auf überbelichteten Filmbildern.

Es ist die Zeit der grossen Kamelkarawanen, die zum Salzsee aufbrechen und durch die einsamen Hochebenen das weisse, im Sommer verkrustete Salz zu den Städten der Menschen bringen. Ein Aufbruch ohne Kalender, dem Zug der Vögel vergleichbar und den Wanderungen der Tierherden. Denn solche Völker, umgeben von einer kargen und übermächtigen Natur, bewahren sich das Gefühl für Notwendiges und die fromme Abhängigkeit von den Mächten der Erde und des Himmels. Da wird das einzelne Leben geringer bewertet, man handelt ohne Eile und Ehrgeiz; was aber mit den grösseren, von natürlichen Bedürfnissen vorgeschriebenen Handlungen zusammenhängt, tut man ernst und unwandelbar, wie einen religiösen Akt.

Drei Tage brauchen die Kamele von hier bis zum Salzsee. Langsam, wiegend, begleitet vom Ruf ihrer Treiber und dem dumpfen Klang der Glocken, ziehen sie zwischen den meergleichen anatolischen Hügeln hindurch, während oben die Flugzeuge pfeilgeschwind vom Bosporus herfliegen und täglich die Diplomaten aus der ganzen Welt mit dem Taurus-Express eintreffen. Sie verlassen den Zug am kleinen, windigen Bahnhof, werden von neuen Autos in die neue Stadt gefahren; die Räume des Ankara-Palace füllen sich, Wiener spielen Johann Strauss in roten Fräcken; draussen beflaggen eifrige Pfadfinder alle Strassen und Gebäude, ein blutroter Block mit Hammer und Sichel steht drohend an einer Kreuzung ... und Soldaten, Soldaten kampieren rings um die Stadt, in runden weissen Zelten, die der Nachtwind schüttelt, in rasch errichteten Baracken, in offenen Lagern.

Dies sind die Vorbereitungen für den 29. Oktober, den Festtag der jungen, türkischen Republik. Eine Hymne wird gesungen: Jeder Bauer, jeder Soldat, jeder Schuljunge weiss sie auswendig. Nadolny kommt aus Berlin, Titulescu aus Bukarest, und Litwinow schickt seine Vertreter, junge Russen in feldgrauen Blusen. Und alle erleben staunend das Schauspiel der Stadt Ankara, die, so versichert man uns, das schlagende Herz der Türkei sein wird. Da thront noch die Burg mit mächtigen dreigekanteten Seldschuken-Mauern auf dem Hügel, häufen sich die steilen Gassen des alten dörflichen Angora; eine Moschee lehnt sich an die Ruine des Augustus-Tempels ...

Unten aber wächst die Stadt in die Ebene und erobert sie, Strassen laufen asphaltiert und ohne Ziel und verlieren sich als Feldwege in den Hügeln; eine Promenade führt, kilometerweit, in das Regierungsviertel, wo das Innenministerium Holzmeisters breit die Front beherrscht; davor wird ein Forum entstehen, man wird Obelisken aufrichten; links davon sollen, in kurzer Zeit, die Ministerien von Handel, Industrie, Landwirtschaft ihre Plätze einnehmen. Unheimlich ist dies alles, sinnlos, imponierend wie die Ereignisse einer Film-Wochenschau. Der Mensch greift ein ...

Und nun rollen des Nachts hölzerne Taxicabs durch die dunklen Strassen, elegante Frauen lassen sich vom Palace zum Club bringen; unter viel Gelächter, »denn bei uns«, sagen sie, »werden die Kälber in solchen Wagen befördert«. Sie erschauern ein wenig und verstummen, als man unter dem Russenblock hindurchfährt, wo Arbeiter in rötlichem Lampenschein die Dekorationen für den Aufzug der Tausenden fertigstellen.

Dies alles ist Ankara, der steingewordene Wille des Ghasi. Ein paar Stunden davon entfernt, in der Steppe, ein anatolisches Dorf.

 

Man stelle sich einen Hügel vor, von unregelmässigen, rohen Grabsteinen bedeckt. Dahinter die Sonne, verhüllt und milchig. Einen gelben Schäferhund, feig wie die Hunde im Orient, der schattenhaft rasch zwischen den Gräbern hindurchläuft. Einige Stellen aufgewühlt: Knochen, ein Schädel. Wenn man sich umwendet, sieht man unten und den jenseitigen Hügeln hinangebaut das Dorf. Graue Lehmbauten, in der Farbe des Bodens. Ein grauer, metallener Himmel, Wolken, vom scharfen Wind vorübergejagt. Ganz oben steht ein Greis unter der offenen Türe seines Hauses und hebt die Hand an die Augen. Dann wütendes Gebell, und um die Ecke biegen Reiter, zehn oder zwanzig, in eine Staubwolke gehüllt. Sie singen laut, während sie den Hügel hinabtraben. Unten springen sie von ihren kleinen Pferden, immer noch singend: die neue Hymne für den 29. Oktober. Ihre Pferde tragen schwere Sättel, buntbestickte Satteltaschen, Mäntel, rote Schlafsäcke. Um den Hals blaue Perlenketten, als Schutz gegen böse Geister.

Jetzt belebt sich das Dorf. Die Frauen, in langen Hosen, das Gesicht unter gelben Tüchern verborgen, schauen aus engen Hoftüren. Die Männer stehen in einem Haufen beisammen, reglos. Sie wechseln mit den Reitern kein Wort, gehen ihnen nicht entgegen. Der Wind weht ihnen Staub und Sand ins Gesicht. Sie sind dunkelbraun, rasiert, flachäugig. Alle in Lumpen gekleidet, ihre Kleider waren nie neu. An einer Hausmauer sitzen die kleinen Knaben in einer langen Reihe. Die Mauer schützt sie vor dem Wind. Sie sitzen still nebeneinander und beobachten die Reiter. Grössere haben die Pferde am Halfter genommen und führen sie umher. Die Reiter stehen auf dem freien Platz und singen.

Aus einer der Lehmhütten kommt ein Mann und fragt, ob wir Kaffee haben wollen. Herr W. unterhält sich mit ihm. »Wohin gehen die Reiter?« fragt er.

»Sie kommen aus Kaletschik und reiten nach Ankara zum Fest.«

Kaletschik ist eine alte Stadt, sie hat einen Burghügel, der wie eine Basaltpyramide emporsteigt; oben sieht man die Reste der Seldschuken-Festung. Unten liegt die Stadt. Die Reiter haben einen ganzen Tag bis in dieses Dorf gebraucht. Morgen werden sie in Ankara sein.

Wir trinken den heissen Kaffee. Der Greis ist von seinem Haus heruntergekommen und unterhält sich mit Herrn W. Die anderen Männer hören schweigend zu. Dann steigen wir in unser Auto und fahren weg.

Es wird Abend. Wir fahren an den Arbeitern vorbei, die die Strasse verbessern. Sie laden jetzt ihre Betten auf die kleinen Esel, nehmen die Schaufeln auf den Rücken und ziehen die Strasse entlang. Viele kampieren schon im Feld, sie schichten die Betten auf, kauern um ihr Feuer und warten auf die Dunkelheit. Viele singen und jauchzen uns zu. Und immer wieder überholen wir Reiter, Bauern, Greise, Jünglinge, die nach Ankara unterwegs sind. Einmal im Leben wollen sie den Ghasi sehen ...

Einem biblischen Brunnen begegnen wir. Da fliesst Wasser in einen schmalen, langen Trog; dahinter eine Mauer, zwei Bäume, ein wenig Gras. Frauen sitzen am Trog, verhüllt, auf ihre Tonkrüge gestützt.

Von einer Anhöhe aus überblicken wir das gelbe Land. An den Hügeln lagern wie weisse Schatten grosse Schafherden. Das Licht bricht sich an den Wolken, eine eigentümliche Nachthelle erfüllt den Himmel, anwachsend bis zu sanfter Mondklarheit. Dann ist es Nacht. Kurden lagern an der Strasse, ihre Weiber hocken um runde Kupferkessel, deren Rand, eine kreisrunde Scheibe, über dem dürftigen Feuer leuchtet.

Von weither tönt das kreischende Drehen der »Nachtigallen«, der geduldige Gesang der Ochsenkarren seit hundert und tausend Jahren auf allen Wegen des grossen Landes. Esel trotten, verhüllte Frauen mit Säuglingen tragend – stumm und eilig ziehen sie vorüber, dem heiligen Land zu.

Aber wer weiss wirklich, wohin die Strassen führen, und wer kennt die Namen der Städte, der uralten, versunkenen und wiedererstandenen?

Der Weg wird sich ausdehnen, die Strasse sich endlos über Hügel wellen, immer am Horizont der rötliche Glanz der namenlosen Stadt. Und Esel, Kamele, Reiter werden vor uns herziehen, hinter uns auf allen Wegen die schwarzen Ochsenkarren aufbrechen; ihr Gekreisch wird vielfältig sein, und das Echo der Felstäler wird es verhundertfältigen. Nun ist es schon ein gewaltiger Aufbruch, selbst das Land setzt sich in Bewegung, die Hügel drehen sich um ihre Achse in einer sanften, schwingenden Kreisellinie, die steinigen Bachbette eilen wasserlos, aber wie von Wellen auf- und niedergehoben; die bebauten Felder schrumpfen ein, die jungen Kulturen vertrocknen, die Bäume werden gelb und neigen sich schweigend dem Steppenboden zu; aber der Steppenboden selbst streckt gelbe Zungen aus, die fressen sich wie sickerndes Wasser und wandernde Flamme bis in die namenlosen Städte-Strassen; nun schiesst Unkraut aus den Ritzen der Pflastersteine, nun fallen die Gebäude langsam in Schutt, Staub hüllt die sinkenden Mauern ein, die Leute leben noch, essen in den Lokalen unter erblindeten Fensterreihen; über ihnen droht die Burg; die Kurden, die Verschleierten, die Räuber, die Bettler kommen hügelabwärts, breiten sich aus wie Fledermäuse, singen ihre traurigen Gesänge – da rumpeln die Ochsenkarren an, da ist die Steppe wieder in der Stadt; noch stehen die Soldaten, die eisern Gehorsamen, aber Unruhe ergreift sie vor ihren hölzernen Wachthäuschen, sie sehen: ein Sturm trägt ihre runden Zelte fort, sie stehen auf verlorenen Posten und warten auf das Signal der Ablösung, das niemals ertönen wird ...

Die Europäer fürchten sich in diesem Land. Keiner von ihnen wird heimisch; daran ändern Jahre nichts.

Man stellt ihnen grosse Aufgaben, sie lösen sie, ohne dass der Erfolg sie zufriedener macht.

Als man, vor einigen Jahren, in Ankara noch täglich Schaffleisch oder Hühner zu essen bekam, gerieten die Herren einer bedeutenden Firma eines Abends an den Eisschrank, aus dem sie Selterswasser holen wollten. Statt der Flaschen fanden sie darin, sorgfältig gerupft und zusammengebunden, die Hühner für das Mittagessen des nächsten Tages. Die Herren rissen die Hühner heraus und schleuderten sie in einem sinnlosen Zornanfall an die frisch getünchten Wände ihres Speisezimmers. Es war eine Hassorgie.

Seither kann man in Ankara Schweinebraten und Apfelstrudel essen wie in Wien. Man lässt nichts mehr an den Hühnern aus.

Man hat hübsche Wohnhäuser, Tennisplätze, einen Klub, gute Pferde. Man besitzt noch dies und jenes, und man lebt in einem Land, welches an seine Zukunft glaubt und an die Güter der Vernunft, der Zivilisation und des Fortschritts, die man in Europa so erniedrigend preisgibt.

Das Land wird von einer Auswahl geistig hochstehender Männer regiert, von aufrichtigen Demokraten, die kein anderes Ziel kennen, als ihr Volk möglichst bald mündig zu machen.

Und die Europäer, die man beruft, um an dieser Aufgabe mitzuwirken, dürfen glauben, dass sie bald überflüssig werden. Keiner zweifelt an dem Land, am Volk. Aber jeder zweifelt an seiner Aufgabe. Das ist die Furcht ...

Ich kam gestern erst in der Dunkelheit von einem Spaziergang zurück. Es wird hier so rasch Nacht und ganz anders als in unsern Ländern: mit einem Konzert von Farben, die strichweise den Himmel überfluten, und dies mit solcher Gewalt, dass unter ihnen Hügel und Täler es gleichsam erschauernd über sich ergehen lassen.

In Europa beansprucht uns die Natur fast niemals unfreiwillig, und wenn einmal ein Gewitter unerwartet und mit grosser Macht ausbricht, sind wir davon betroffen wie von einer übernatürlichen Äusserung.

Hier ist die Natur immer gegenwärtig und stets stärker als die Menschen.

Als wir gestern am frühen Vormittag draussen bei der Zementfabrik auf die Pferde warteten, die von den Burschen herausgeführt werden sollten, äusserte sich dies augenfällig und eindringlich. Es waren viele Personen mitgekommen: die Damen von den Gesandtschaften, Kinder, Diener, Burschen. Man unterhielt sich und rauchte; ein fahrendes Buffet wurde eingerichtet, die Zeit verging.

Da erschienen plötzlich, weit drüben auf der Anhöhe, die Pferde. Sie tauchten über den Hügelrand empor, eine Schar von dreissig Tieren, dunkel, sonderbar gross, umwettert von weissem Licht, versanken dann wieder in den Schatten und trabten durch den glatten Talgrund auf uns zu.

Wir galoppierten; endlos schien der sanfte Wechsel von Hügel und Ebene, von abgeernteten Feldern und trockenen Sandflächen voll hoher Disteln, über welche die Pferde mit kleinen Sprüngen hinwegsetzten. Wir ritten schnell genug, ein scharfer Wind pfiff und sauste, ich fühlte mich von allem Missbehagen befreit und fragte mich, was hier den Fremden, den Europäern nicht geheuer sein könne.

Da sah ich über mir einen Falken in grossem Kreis durch das Gewölbe schweben. Einen Augenblick verwirrte mich das Licht – der Flügel des Vogels wuchs und verdeckte den leuchtenden Himmel wie die Sonnenscheibe der Mondschatten. Ich sah auf, da schwebte der Vogel wieder reglos in der Höhe. Das war die Gefahr, dachte ich, fand mich ein wenig abseits von den anderen und trabte zu ihnen zurück.

 

Ritt auf den Hussein Ghasi

Ankara, 20. November 1933

Das Grabmal Hussein Ghasis, ein weithin verehrtes Heiligtum, liegt auf dem Berg, der seinen Namen trägt und sich vierzehnhundert Meter über dem Meeresspiegel und fünfhundert über der anatolischen Hochebene erhebt. Noch vor wenigen Jahren wurden drei Schweizer, die den Berg bestiegen hatten, auf dem Rückweg von Hirten verfolgt, misshandelt und bedroht, angeblich, weil sie die Tekke, das Grabmal Hussein Ghasis, betreten hatten.