Titel „Du hast mich heimgesucht bei Nacht“ – Psalm 17, 3

In memoriam Käthe Kuhn, die mit Helmut Gollwitzer und Reinhold Schneider unter dem gleichnamigen Titel „Du hast mich heimgesucht bei Nacht“ Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des deutschen Widerstands herausgab.

Für Myriam und Raymond

Inhalt

Vorwort

Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten. Das heißt doch Auswanderer. Aber wir wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss wählend ein anderes Land, wanderten wir doch auch nicht ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer. Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.

Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm (…).

Aus Bertolt Brecht, Svendborger Gedichte, um 1938.

Mitte der 70er Jahren studierte ich Romanistik und Geschichte an der Universität Bremen.

Die Ziele der Frauengruppen in meinem studentischen Umfeld interessierten und faszinierten mich. Frauen wollten Frauen befähigen, sich gegen die vielfältigen geschlechtsspezifischen, gesellschaftlichen Benachteiligungen zu wehren und kritisch ihre Stellung in der Gesellschaft zu hinterfragen. Meine Professorin Helga Grubitzsch prägte mich in meinem Denken und Handeln: Es ging um die Stärkung des Selbstbewusstseins der Frauen, das Durchbrechen traditioneller Rollenmuster, die Unterstützung ihrer Identitätsfindung und die Erweiterung ihrer Fähigkeiten, die Neugestaltung der eigenen Lebenssituation in die Hand zu nehmen.

Im Fach Geschichte ging es darum, die Menschheitsgeschichte aus der Perspektive der Frauenforschung darzustellen. Dieses Anliegen verfolgte neben Helga Grubitzsch auch die Bonner Historikerin Annette Kuhn. Beide Professorinnen waren an der Publikation „Die Chronik der Frauen“ beteiligt.1 Das Leben von Annette Kuhn interessierte mich. Ihre Autobiographie gab mir viele Aufschlüsse über ihr Leben. Nach dem Lesen dieses Buches wollte ich unbedingt mehr über die Exilgeschichte der Familie in Erfahrung bringen. Zufälle häuften sich. Vor Jahren hatte meine englische Freundin Susan de Laszlo als Lehrerin in Haslemere, dem Wohnort der Familie Kuhn im englischen Exil, gearbeitet. Sie nannte mir auch den Namen von Katharine Whitaker, einer ehemaligen Schülerin der Stoatley Rough School, die auch Reinhard Kuhn, Annettes Bruder, besucht hatte. Katharine Whitaker hatte Hilde Lion noch persönlich gekannt und eine Geschichte der Stoatley Rough School veröffentlicht. Katharine Whitaker, Donald Watson und Ingrid Addicks, die weit reichende Kenntnisse über die Geschichte der deutschen Emigration nach England hatten, gaben mir weitere Tipps. So entstanden die ersten Recherchen über die Hamburger Warburgs, Gertrud Bing, Fritz Saxl und die Warburgbibliothek, die nach der Überführung nach London im Jahre 1933 eine englische Forschungseinrichtung wurde. Die Quellen aus dem Warburg Institut und der London School of Economics eröffneten mir viele Einsichten in das Leben der Familie Kuhn in England. Die zahlreichen Versuche von Helmut Kuhn, als Philosoph in einer universitären Einrichtung in Großbritannien oder in den USA Fuß zu fassen, die schmerzvollen Erfahrungen eines Lebens im Exil, das allen Familienmitgliedern tiefe, vielleicht nie heilende Wunden zufügte, werden auch die Leser und Leserinnen nicht unberührt lassen. Die Quellen der Universität von Chapel Hill /North Carolina und der Emory Universität 2 eröffnen Einblicke in das Wirkungsfeld von Helmut Kuhn und seiner Familie. Dazu gehört nicht nur die wissenschaftliche Arbeit von Helmut Kuhn, sondern auch das große humanitäre Engagement des Ehepaares Kuhn.

Der Leser und die Leserin begleiten die Familie Kuhn auf allen Stationen des Exils: Pontigny (Frankreich), London, Haslemere/Surrey, Chapel Hill in North Carolina und an die Emory University in Atlanta/Georgia. Anhand dieser beschriebenen Stationen des Exils entsteht möglicherweise das Bild einer „gelungenen Emigration“. Das war aber nur begrenzt der Fall. Die Emigranten seien „Vertriebene“, „Verbannte“ gewesen, so Bertolt Brecht in seinem Gedicht, das trifft für die Familie Kuhn sicherlich zu. Im englischen Exil drohte Käthe Kuhn – trotz der unermüdlichen Unterstützung von Gertrud Bing vom Warburg-Institut – fast zu zerbrechen. Die Sehnsucht nach der Heimat war in den Jahren des Exils immer spürbar. So betonte auch Annette Kuhn, dass das Wort „Heimat“ in den USA für sie eine magische Kraft besessen habe: „the treasured word“.3 Der Erwerb der amerikanischen Staatsbürgerschaft konnte das Gefühl der Fremdheit nicht überdecken. Die Kuhns bauten viele Brücken zum Nachkriegsdeutschland. Dazu gehörte der Kontakt mit deutschen Kriegsgefangenen in den USA und mit ehemaligen Widerstandsfamilien des 20. Juli 1944. Hier ist im Besonderen der unermüdliche Einsatz von Käthe Kuhn zu würdigen, das Leben der Hinterbliebenen des deutschen Widerstands zu erleichtern. Käthe Kuhns Aufopferung erinnert an das Wirken von Gertrud Bing im Warburg Institut. Mit der Herausgabe der Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes waren Käthe Kuhn, Helmut Gollwitzer und Reinhold Schneider in der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Widerstandes ihrer Zeit weit voraus.4 Die Deutschen, die an einer Aufarbeitung dieser Epoche interessiert waren, gehörten zu einer Minderheit. Dennoch war die Publikation, auch in Großbritannien, ein sehr großer Erfolg. Erst mit dem Beginn der Studentenbewegung von 1968 gelang der entscheidende Schritt, die Geschichte des Nationalsozialismus und des deutschen Widerstandes umfassender aufzuarbeiten. Käthe Kuhns Idealismus und Schaffenskraft verflachten in der postfaschistischen Ära der Bundesrepublik, fanden keinen fruchtbaren Boden und keine Betätigungsfelder mehr und ihre Krankheiten führten zu einer zunehmenden Isolierung von der Umwelt. Eric Warburg würdigte in seinem Kondolenzschreiben anlässlich ihres Todes ihr großes humanitäres Engagement in der Nachkriegszeit. Ein großer Dank geht an dieser Stelle an Dorothea Hauser, die mir die Quellen aus dem Hamburger Warburgnachlass zur Verfügung stellte. In meiner Darstellung geht es mir nicht um eine vollständige Aufarbeitung der Exilgeschichte der Familie Kuhn. Ich möchte an ihrem Beispiel vor allem einen zweifachen Verdrängungsprozess transparent machen: die gezielte Ausschaltung von jüdischen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen anhand von Einzelbeispielen aus deutschen Institutionen und Bildungseinrichtungen durch die Nationalsozialisten nach 1933 und die bis heute andauernde Verdrängung dieses Vorgangs aus dem Bewusstsein der Generation nach 1945.

Heinrich Kuhn, Gertrud Bing, Hilde Lion und viele andere deutsche Juden und Jüdinnen kehrten nicht nach Deutschland zurück. Der große Intellekt, die weit entwickelten Forschungen und die persönlichen Reichtümer der „Verbannten“ gingen unserer Gesellschaft zum größten Teil für immer verloren. Dieser Umstand gehört zu den schwersten Verlusten der deutschen Nachkriegsgeschichte. Mein besonderer Dank geht an Ingrid Addicks, Susan Ballinger (Archivist at Chapel Hill), Ilsetraud Dahms, Prof. Dr. Ingrid Galster, Albert Goldenstedt, Prof. Dr. Andreas Graeser, Prof. Dr. Helga Grubitzsch, Dorothea Hauser, Prof. Dr. Annette Kuhn, Dr. Anselm Kuhn (Stevenage/England), Susan de Laszlo, Dr. Manfred Liska, Dr. Eckart Marchand (The Warburg Institute/ University of London), Rita Schäfer (Bayerische Staatsbibliothek), E. Kathleen Shoemaker (Emory Universities Archives, Atlanta), Prof. Dr. Monika Simmel-Joachim, Dr. Donald W.T. Watson, Katharine Whitaker und an meinen Biografiekreis. Für das Lektorat danke ich Marion Machtan und Gisela von Ohlshausen.

 

1 Vgl. Annette Kuhn (Hrsg.), Die Chronik der Frauen, Dortmund 1992.

2 Mein Dank geht an Herrn Dr. Liska, der mir bei der Aushändigung der Quellen der Emory University behilflich war.

3 Vgl. Annette Kuhn, Ich trage einen goldenen Stern. Ein Frauenleben in Deutschland, Berlin 2003, S. 50.

4 Helmut Gollwitzer, Käthe Kuhn, Reinhold Schneider (Hrsg.), Du hast mich heimgesucht bei Nacht, Abschiedsbriefe und Aufzeichnungen des Widerstandes 1933 –1945, München 1954. Unmittelbar nach 1945 war im Umfeld des deutschen Widerstandes die Vorstellung lebendig, in Deutschland müsse an die Männer des Widerstandes erinnert werden. Annedore Leber und Ricarda Huch, letztere beeinflusste Käthe Kuhn maßgeblich, vertraten diesen Gedanken öffentlich. In den fünfziger Jahren wurde dieser Ansatz zurückgedrängt, von der 68er Bewegung aber wieder aufgenommen.

1 Auswanderung nach Frankreich und England

1.1 Erste Exilstation – die Familie Kuhn in Pontigny 1936/1937

Die ehemalige Zisterzienserabtei von Pontigny aus dem 12. Jahrhundert liegt einsam zwischen Fontenay und Sens in der verwunschenen Gegend des Nordburgunds. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging die Abtei in den Besitz von Paul Desjardins über, der sozial und kulturell engagiert war, aber außerhalb von Parteien und Religionen stand. Nun begannen die berühmten Dekaden von Pontigny, denn Paul Desjardins und seine Frau machten die Abtei zu einer nationalen und internationalen Begegnungsstätte. Allsommerlich fanden sich Gelehrte und Schriftsteller in Pontigny zusammen, um über Themen aus Kultur, Geschichte und Politik Vorträge zu halten und darüber zu diskutieren.5 An diesen sommerlichen Treffen nahmen beispielsweise Antoine de Saint-Exupéry, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, André Gide und Heinrich Mann teil. Es ist davon auszugehen, dass auch Helmut Kuhn zu den Teilnehmern dieser illustren Kreise zählte, denn er gehörte in dieser Zeit zu den viel versprechenden und begabten Jungphilosophen in Deutschland.6 Er hatte seine philosophische Schulung bei Richard Königswald erhalten und sich später bei Max Dessoir in Berlin habilitiert.7 Sein Buch über die idealistische Ästhetik und seine bekannte Publikation über Sokrates wiesen ihn als hervorragenden Forscher aus, der seine eigenen Wege suchte und eine ganz ungewöhnliche kritische Begabung besaß, so Hans-Georg Gadamer in seinem späteren Nachruf über Helmut Kuhn.8 Die erste angegebene Adresse der Familie Kuhn im Exil ist die Abbaye de Pontigny.9 Bereits am 30. Oktober 1936 hatte Helmut Kuhn in Pontigny einen Personalausweis beantragt, auf dem die Auswanderung nach London im Monat Mai 1937 vermerkt war.10 Die Familie Kuhn war mit ihrem gesamten Mobiliar nach Frankreich geflüchtet. Der umfangreiche Hausstand aus Berlin-Dahlem, der viele Bücher umfasste, blieb zunächst in Frankreich und wurde später auf einem Speicher in Paris deponiert.11

Wie war es überhaupt zur Ausreise von Helmut Kuhn und seiner Familie gekommen? Helmut Kuhn wurde am 22. März 1899 in Lüben in Schlesien geboren und war der erste Sohn des Rechtsanwaltes Wilhelm Kuhn und seiner Frau Martha, geborene Hoppe 12. Das Ehepaar hatte zwei Söhne: Helmut und Heinrich. Wilhelm Kuhn war ein assimilierter deutscher Jude und seine Frau Martha die einzige „Arierin“ in der Familie. Sie stand für Preußen- und Deutschtum, für den Protestantismus und machte dies auch gegenüber ihrer späteren Schwiegertochter Käthe deutlich.13 In ihrer Autobiographie verschweigt Annette Kuhn den Nachnamen ihrer Großmutter. Letztere erschien ihr manchmal in ihren Träumen als „Hexe“.14 Helmut Kuhn hatte von 1914 –1919 als Kriegsfreiwilliger gedient, war ein überzeugter Nationalist und vom Deutschtum beseelt, was ihn aber nicht vor dem Übergriff der Nationalsozialisten schützte, denn nach deren rassistischen Grundvorstellungen war er „Mischling ersten Grades“, zudem mit einer Jüdin verheiratet.15

Im Jahre 1925 vermählten sich Käthe Lewy und Helmut Kuhn. Käthe war die Tochter von Max Lewy und Margarete Löwenstädt, einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie in Breslau.16 Käthe hatte Altphilologie studiert, gab aber mit der Geburt des ersten Sohnes ihr Studium und ihr Dissertationsvorhaben über Kinderspielzeug im alten Rom auf.17 Als Jüdin war Käthe Kuhn einer zweifachen Diskriminierung unterworfen: der geschlechtlichen und der ethnischen.18 Sie entging zunächst diesem Dilemma, indem sie ihre jüdische Herkunft und ihre jüdische Identität verschwieg: Bereits in ihrer Berliner Zeit trug sie den Geburtsnamen Lanke.19 Helmut und Käthe Kuhn hatten zwei Kinder. Der Sohn Reinhard kam am 06. 09. 1930 zur Welt, die Tochter Annette, die in den USA den Zweitnamen Veronica erhielt, am 22. 05. 1934.20 Es gibt keine präzisen Hinweise darüber, wann das Ehepaar Kuhn die Entscheidung fällte, ins Exil zu gehen. Im Jahre 1933 hatte Hitler mit Brachialgewalt in Verbindung mit Parteiformationen, SA und SS, mit Reichswehr, Bürokratie und einer akklamationsbereiten Öffentlichkeit die Machtübernahme durchgesetzt. Nach der Verkündung der Nürnberger Rassegesetze im Jahre 1935 hatte sich die Rechtsstellung der Juden im Reich einschneidend verändert und fast alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens waren davon betroffen. Die Juden und Jüdinnen waren bis 1938 nahezu rechtlos geworden, bevor ab 1938 die Gewalt zum bestimmenden Merkmal des NS-Staates gegenüber diesen und gegenüber Oppositionellen wurde. Die Freiheit war nur noch als Hauch im Deutschen Reich spürbar, Angst und Repressalien bestimmten das Leben. Das galt auch für das Ehepaar Kuhn. Im Januar 1936 wurde Helmut Kuhn von der Berliner Universität beurlaubt und ihm wurde rückwirkend die Lehrerlaubnis entzogen. Gegen den Entzug seiner Venia versuchte er Dispens zu erwirken, unterzeichnete diesen Antrag sogar mit deutschem Gruß, aber seine Anfrage wurde abschlägig entschieden.21 Helmut Kuhn hatte verstanden. Seine Anwesenheit im Deutschen Reich war nicht mehr erwünscht.

Die Abbaye de Pontigny – das war die erste Adresse der Familie Kuhn im Exil. In einem Brief vom 21.04.1937 an Prof. Dr. Saxl vom Warburg Institut betonte Helmut Kuhn, dass sich die Familie in Frankreich unglücklich fühle und er hoffe, dass der Aufenthalt dort nur von kurzer Dauer sei.22 Trotz des Lebens im Exil war sein Ehrgeiz ungebremst. Er arbeitete unermüdlich weiter an seiner Karriere, nahm an Kongressen in London, Paris, Amsterdam und Göteborg teil,23 erweiterte alte Kontakte und baute neue Beziehungen auf. Dank des Warburg Instituts in London erhielt Helmut Kuhn Bücher von namhaften Professoren, wie zum Beispiel von Francis Macdonald Cornford, Before and after Socrates.24 Käthe Kuhn tippte die Literaturverzeichnisse für die Vorträge ihres Mannes, die an Professoren verschickt wurden.25 Helmut Kuhn bewarb sich um ein Stipendium für die Mitarbeit am Corpus Platonicum, denn das Warburg Institut bot vielen der ins Ausland Gezwungenen Stipendien oder kleine Hilfsdienste in seiner hervorragend ausgestatteten Bibliothek an.26 Die Korrespondenz von Helmut Kuhn blendet in diesen ersten Monaten weitgehend persönliche Themen aus. Engere Briefkontakte bestanden mit seinem Bruder Heinrich Kuhn, der bereits im Jahre 1933 nach England emigriert war und der sich darum bemühte, seinem Bruder Helmut eine Stelle am Warburg Institut in London zu beschaffen.

1.2 Heinrich Kuhns langer Weg in die englische Gesellschaft – Oxford 1933

„Ich habe ihn sehr gemocht“, 27 schrieb Annette Kuhn fast siebzig Jahre später über ihren Onkel Heinrich. Wer war Heinrich Kuhn? Sein Lebensweg verlief anders als der seines älteren Bruders Helmut, denn Heinrich Kuhn emigrierte bereits 1933 mit seiner Familie nach England und kam nach 1945 nicht nach Deutschland zurück. Am 10. März 1904 wurde Heinrich Kuhn in Breslau geboren. Nach dem Abitur studierte er Chemie an der Universität Greifswald und seit 1924 Physik in Göttingen. Er promovierte bei James Franck, der 1920 den Lehrstuhl für Experimentalphysik erhalten hatte und der mit Gustav Hertz im Jahre 1925 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde. Heinrich Kuhn wurde außerplanmäßiger Assistent bei Franck in Göttingen und konnte sich 1931 habilitieren. Am 7. April 1933 verabschiedete die nationalsozialistische Regierung das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das die Entlassung von Beamten jüdischer Herkunft und demokratischer Gesinnung vorsah. In einem Brief an das Wissenschaftsministerium bat James Franck am 17. April 1933 aus Protest gegen die Entlassung jüdischer Wissenschaftler darum, von seinen Pflichten als ordentlicher Professor entbunden zu werden, obwohl er selbst als Wissenschaftler jüdischer Abstammung durch das Frontkämpferprivileg geschützt war, das Teilnehmern des 1. Weltkriegs von Entlassungen ausnahm. Francks Hoffnung, dass sich viele Kollegen seiner Protestaktion anschließen würden, wurde bitter enttäuscht. Nach Aufenthalten in Kopenhagen und Baltimore erhielt er im Jahre 1938 eine Professur für Physikalische Chemie in Chicago. Auch Heinrich Kuhn, der Vorfahren jüdischer Abstammung hatte, bat von sich aus um seine Entlassung.28 Noch im Jahre 1933 emigrierte er mit seiner Frau Marie, der Tochter von Hermann Noll, nach Großbritannien. Professor Frederick A. Lindemann, später Lord Cherwell, verschaffte ihm ein zweijähriges Stipendium von den Imperial Chemical Industries, das in den nächsten Jahren verlängert wurde. Erst im Jahre 1945 erhielt er eine planmäßige Anstellung an der University of Oxford als University Demonstrator.29 Obwohl Heinrich Kuhn seit 1940 an kriegswichtigen Atombombenprogrammen mitarbeitete, musste er insgesamt zwölf Jahre auf eine feste Anstellung an der Universität warten. Diese befristeten Verträge an der Universität boten zwar Sicherheit, waren aber nicht mit einer Professorenstelle vergleichbar und bedeuteten eindeutig einen Karriereknick. Hier trat ein Phänomen auf, das in der historischen Forschung umfassend aufgearbeitet wurde. Kaum einer der emigrierten Hochschullehrer und Forscher aus Deutschland oder Österreich fand sofort ungeachtet seiner wissenschaftlichen Qualifikation eine auf Dauer angelegte Beschäftigung.30 Vor allem waren in den Vorkriegsjahren die Bedingungen für Emigranten ungünstig. Hierfür sind mehrere Ursachen anzuführen. Die Zahlen der Dozenten und Studenten an britischen Hochschulen stiegen zwischen 1929 und 1939 nur unwesentlich an. So fanden die Emigranten in den für sie entscheidenden Jahren nur ein begrenztes Ausbildungssystem mit sehr geringen Aufnahmekapazitäten vor.31 Zudem spielten die qualitativ unterschiedlichen Ausbildungsweisen und -ziele, die die deutsche Elite vor hohe Herausforderungen stellten, in den britischen Hochschulen und Schulen eine große Rolle. Es gab große Anpassungsschwierigkeiten.

“Has he any experience of coaching Cricket or Rugby Football and has he any proficiency at these games?”,32

so wurde ein Deutscher bei einem Bewerbungsgespräch von einem Headmaster gefragt. Von Bedeutung war auch der geringe Umfang der ‚graduate studies’ in England, also jener spezialisierten Studiengänge, die den emigrierten Hochschullehrern und Hochschullehrerinnen in Deutschland sehr vertraut waren. Im Studienjahr 1928/29 gab es in Großbritannien nur 2100 post-graduierte Studenten, davon allein 1300 in den Naturwissenschaften.33