Eine kleine Widmung

Der Text hat lange geschlummert. Jetzt wecke ich ihn einfach mal. Mal schauen, was passiert. Vor 30 Jahren habe ich mir die Kerngeschichte ausgedacht. Dann wollte ich ein paar Jahre meinem damaligen Idol Eric Ambler nacheifern. Und es wurde eine immerhin umfangreiche Erzählung daraus. Vor dem Begriff „Roman“ scheue ich mich bis heute, selbst „Kriminalroman“ ist mir bis heute zu hochgegriffen.

Ich wünsche den Lesern, die die Erzählung findet, den Spaß, den ich beim Ausdenken und Schreiben hatte. Inspiriert ist die Geschichte von der realen Berliner Hütte, die man heute noch im Zillertal besuchen kann. Bei den historischen Ereignissen und Fakten habe ich mich um größtmögliche Authentizität bemüht. Der Rest ist frei erfunden.

Eine anständige Widmung gehört aber auch zu einem Buch. Ohne meine damalige Lebensgefährtin Susanne und ihre Schwester Martina, die mich immer nervten Krimigeschichten zu erfinden, wäre mein Urlaub im Zillertal 1970 nur eine schwache Erinnerung geblieben. Ohne die Zeitzeugenerzählungen meines Vaters aus den 30er und 40er Jahren hätten auch wichtige Inspirationen gefehlt.

Ansonsten widme ich dieses Buch meiner Familie. So wird nicht nur ein Fachbuch mit meinem Namen verbunden sein, sondern auch eine Geschichte. Ob sie gelungen ist, entscheide nicht ich.

Buch 1

Buch 2

3. Buch

Inhaltsverzeichnis

I.

Wie ein Berserker stürmte ich die Treppe hinauf. Durch die Halle tönte es aus allen Lautsprechern: „…nach Innsbruck, Kurswagen nach Zürich. Bitte Vorsicht bei der Abfahrt.“

Ich konnte mich gar nicht so schnell entschuldigen, so viele Reisende rempelte ich an. Der Zug setzte sich in Bewegung, als ich gerade den Bahnsteig erreichte. Jetzt bekam ich auch noch Seitenstiche. Am letzten Waggon sprang ich auf das Trittbrett, klammerte mich mit einer Hand an der Griffstange fest und riss den Türgriff herunter. Der Zug hatte schon ein ganz schönes Tempo erreicht.

„Nur nicht hinunterschauen.“

Die Tür ging auf und jemand griff mir unter die Arme. Ich flog förmlich auf die Plattform. Die Tür schloss sich hinter mir.

Mein Herz pochte, die Seitenstiche peinigten mich und außer Atem war ich auch.

„Das ist nicht nur gefährlich, es ist auch verboten.“ Der hilfreiche Mensch war ausgerechnet der Zugschaffner, der mich nun umso misstrauischer anschaute. „Ihre Fahrkarte bitte.“

Ich setzte meine Reisetasche auf den schmutzigen Waggonboden und fischte die Brieftasche aus meiner Jackentasche.

Was sollte ich ihm entgegnen, er hatte ja Recht. Der Zug war schon in Bewegung gewesen, und ich konnte von Glück sagen, ihn überhaupt erwischt zu haben. Laut ratternd fuhr er jetzt über eine Unzahl von Weichen. Ich erhielt meine Fahrkarte zurück. Wenigstens die hatte ich noch am Schalter lösen können.

Der Mittagsexpress nach Innsbruck bestand fast nur aus Großraumanhängern. Lediglich für die Reisenden Erster Klasse gab es Abteile. Direkt hinter der Lok war es noch am leersten, und ich suchte mir einen halbwegs ruhigen Platz am Fenster. Der Zug fuhr an einem Stellwerk im Vorfeld des Wiener Westbahnhofs vorbei. Ich schaute auf die Uhr.

Noch nicht einmal eine Stunde war es her, dass in der Redaktion des Wiener Morgen die Meldung über den Fernschreiber getickert war.

Schicksal oder Fügung, ich hatte Glück gehabt, dass ich den ganzen Vormittag vor dem Büro des Chefredakteurs herumlungerte. Ich stand direkt neben der Maschine, als der Lüfter lautstark ansprang, und das Typenrad anfing loszurattern. Zeile für Zeile las ich die Nachricht, an der ich aber nach dem ersten Satz schon jegliches Interesse verlor, was beweist, dass mein journalistischer Instinkt mich manchmal im Stich lässt.

*** Innsbruck. Im Gletschergebiet des Hornkees, in den Zillertaler Alpen, fand eine Münchner Seilschaft die Leiche eines Bergsteigers. Bislang konnte sie noch nicht identifiziert werden, da weder eine aktuelle Vermisstenmeldung vorliegt noch eine frühere Personenbeschreibung zutrifft. ***

Ein abgestürzter Bergsteiger in den Alpen ist nichts Außergewöhnliches, besonders in den Sommermonaten. Spätestens, wenn man die Leiche als den Zahnarzt Dr. Schramm aus Graz oder den Studienrat Hubel aus Schweinfurt identifiziert hätte, das Interesse der Polizei und auch das der Medien wäre ruckzuck auf Null.

Ganz automatisch riss ich das Fernschreiben ab und legte es meinem Freund Vraniki, einem der Sportredakteure, auf den Schreibtisch.

„Hier ist etwas für Dich.“

Es sollte ein Scherz sein, denn Bergsteigen hatte ja etwas mit Sport zu tun. Aber er gefiel ihm nicht, denn er fuhr selbst öfter zum Bergsteigen ins Zillertal. Gelangweilt gab er es mir zurück.

Im Büro des Chefs klingelte das Telefon; ich hörte undeutlich seine Stimme durch die dünne Wand, die sein Büro von dem Großraumbüro der restlichen Redaktion trennte, aber verstehen konnte ich nichts.

Ich trieb mich nahezu täglich in der Redaktion herum, in der Hoffnung, einen Artikel zu ergattern, für den die festen Schreiberlinge mit anderen Dingen zu beschäftigt waren. An dem morgendlichen Ritual der Redaktionskonferenzen durfte ich als freier Mitarbeiter nicht teilnehmen, obwohl dort die besten Themen vergeben wurden.

Magister Prochaska, der Chefredakteur, riss die Tür von seinem Büro auf.

„Welcher Trottel hat das Fernschreiben aus Innsbruck versackt?“

Blitzschnell reagierte ich und drückte ihm das Schreiben in die Hand; einen Augenblick später saß ich ihm an seinem Schreibtisch gegenüber. Über einen Lautsprecher verfolgte ich das Telefongespräch mit Pürschel, einem Lokalredakteur der Tiroler Heimat. Er war unserem Blatt sehr verbunden, denn eine Story an den Wiener Morgen zu verkaufen, war für ihn eine lukrative Nebeneinnahme.

Sein Anruf hatte mit dem abgestürzten Bergsteiger zu tun. Es war sehr mysteriös, was er uns berichtete. Die erste Leichenschau hatte ergeben, dass der Leichnam über vierzig Jahre im ewigen Eis eingeschlossen war. Aber es fehlte jeder Anhaltspunkt. Der Polizeihauptmann, der für Vermisstenmeldungen und Identitätsermittlungen zuständig war, schien überfordert.

Es versprach keine Routinesache zu sein. Vielleicht eine Spitze vom Eisberg der sensationellen Story vom „tiefgefrorenen Toten“ „Bei einer anderen Gelegenheit hatte ich Pürschel kennengelernt. Er entpuppte sich sehr schnell als einer jener Reporter, die neidisch auf den reisserischen Ton der Sensationsblätter sind, zu denen auch der Morgen gehört. Zu jeder unpassenden Gelegenheit müssen sie ihre Sensationsgier nebst dem gemäßen Jargon demonstrieren. Dieses Gehabe sollte mir in Innsbruck noch gehörig auf die Nerven gehen.

Prochaska hatte den Hörer aufgelegt und dachte eine Weile still nach.

Zu meinem Glück weilte in Wien gerade ein hoher Staatsgast aus dem Mittleren Osten. Die Truppenreduzierungsverhandlungen begannen gleichzeitig eine neue Runde, ein Wirtschaftsskandal stand in der Reife, Kreisky grantelte öffentlich, und der Bundespräsident wurde von einigen weiteren Staaten dieser Erde zur „unerwünschten Person“ erklärt. Prochaskas Problem war offensichtlich.

„Ich könnte ja…“, doch bevor ich meinen Vorschlag ausführen konnte, fiel er mir schon ins Wort.

„Wenn man jemanden braucht, ist keiner da. Dann fahren halt Sie, aber rapide. Sonst hängen Sie eh nur hier herum.“

So saß ich also unverhofft im Zug nach Innsbruck, nur zweiter Klasse, aber immerhin auf Spesen und mit einem gesicherten Einkommen für die nächste Zeit.

Ich war damals nur ein kleiner Journalist. Es war für mich nicht leicht, dazu als Bundesdeutscher, in Wien Fuß zu fassen. Dem einheimischen Jargon konnte ich mich nicht so recht anpassen, vielleicht wollte ich es gar nicht. Folglich bekam ich nur selten einen Artikel unter, der mir selbst gefiel. Als „Springer“ schrieb ich manchmal für drei Wiener Zeitungen, als „unser Gerichtsberichterstatter“ über die kleinen Raubfische der Zivilisation, die Ladendiebe, Schwarzfahrer und harmlose Betrüger. Gelegentlich recherchierte ich für ein Hamburger Nachrichtenmagazin. Das war leicht, denn in den Redaktionen konnte man viel aufschnappen. Doch meinem Ruf war das nicht unbedingt förderlich. Wenn ich doch keine Zeile unterbekam, dann las ich zum Überleben die Handelsregisterauszüge Korrektur, wovon ich damals, wie ich zugeben muss, viel zu häufig meinen Hauptlebensunterhalt bestritt. Doch ein wenig hatte sich meine Situation schon gebessert. Immer öfter fiel im Wiener Morgen etwas für mich ab.

Daher hatte ich es heute nicht schlecht getroffen. Ein wenig würde die Geschichte schon hergeben, Stoff für den Ehrgeiz und Spesen fürs Leben. Vielleicht konnte ich sie sogar zu einer kleinen Serie in die Länge ziehen. Meinetwegen durfte der Ausflug aus dem alltäglichen Kleinkram einige Tage dauern. Ich ging in den Speisewagen.

Vor Salzburg hatte der Regen angefangen. Ich kam selten nach Tirol, aber immer hatte es geregnet.

Eigentlich ist die Stimmung im Zug nicht ungemütlich, wenn es aus dunklen Regenwolken feste auf das Dach des Waggons prasselt und dicke Regentropfen auf die Scheiben spritzen. Nur möchte man in solcher Stimmung alleine und ungestört in einem Abteil sitzen. Leider hatte ich auch noch einen Korridorzug erwischt, der bei Salzburg über die österreichisch-deutsche Grenze fährt. Früher interessierte dieser „Niemandszug“ nicht. Keiner der Fahrgäste betrat deutschen Boden; nur in Rosenheim hielt der Zug, von gelangweilten Grenzschützern unlustig beäugt, für einen Lokwechsel. Seit der Terroristenhysterie kontrolliert der Bundesgrenzschutz regelmäßig die Papiere der Reisenden. Vier oder fünf uniformierte Beamte gehen von Abteil zu Abteil, Pech für den, der seine Papiere nicht dabei hat, weil er dachte, er führe von einer österreichischen Stadt im Osten in eine im Westen. Dass dem nicht so ist, bekommt er dann korrekt, aber genüsslich auseinandergelegt, während die Daten des Führerscheins oder des Presseausweises misstrauisch aufgeschrieben oder per Funk nach irgendwohin weitergegeben werden. Mir ist das schon zweimal passiert. Ein Vergnügen ist es wirklich nicht.

Es war schon fast dunkel, als der Zug in den Innsbrucker Hauptbahnhof einlief.

II.

Auf dem Bahnsteig erwartete mich Pürschel und winkte mir mit einem Lodenhut zu. Im Gegensatz zu mir hatte er mich sofort wieder erkannt. In Wien hatte er etwas anders ausgesehen.

Pürschel hatte meine Größe, war Mitte 40, kahlköpfig und sehr blass. Er trug eine grüne Lodenjoppe, dazu Kniebundhose und den Trenkerhut, mit dem er mir zugewinkt hatte. In der Hand hielt er einen Schirm, von dem noch das Wasser auf den Bahnsteig troff. Sein äußeres Habit passte so gar nicht zu den Keckheiten am Telefon. Wir hatten die „Grüß Gott’s und ‘wie war die Fahrt, angenehm, was macht der vom Kurier und der von der Kronen.“ noch nicht ganz ausgetauscht, da hatte er mich schon durch die Bahnhofshalle zu seinem Parkplatz bugsiert.

Er gehörte zu den Typen, die einem zwar den Schirm hinhalten, aber man wird trotzdem durchnässt, während er absolut trocken bleibt. Das machte ihn mir nicht gerade sympathisch. Dabei hatte ich mir vorgenommen, ihn nicht nach seinem Äußeren zu beurteilen. Überhaupt, wer es in diesem triefenden Teil der Welt aushalten kann, hat bei mir schlechte Chancen auf ein gerechtes Urteil.

Es regnete noch immer in Innsbruck. Ich saß in dem kleinen Frühstückssaal meines Hotels und schaute durch das Fenster auf den Bahnhof. Einige Waggons wurden gerade rangiert, aber das Quietschen und Rattern war durch die dicken Fenster nicht zu hören. Pürschel wollte um halb zehn kommen, um mit mir zur Universitätsklinik zu fahren.

Gestern hatte ich nicht mehr viel in Erfahrung gebracht. Pürschel war mit mir vom Bahnhof direkt zur Bundespolizeidirektion gefahren. Ich hatte gerade zwanzig Minuten, um mich mit Major Schremser, der den Fall bearbeitete, zu unterhalten. Er war wohlwollend, aber sein Dienstschluss schien ihm wichtiger. Schremser war ein jung-dynamischer Polizeibeamter, blond, Ende dreißig, mit modischer Lederjacke und sonnengebräunt, was mich angesichts des Lokalklimas doch sehr verwunderte.

Er berichtete mir rapportartig, was die Polizei bisher herausgefunden hatte.

Der Tote war am Gletschertor des Hornkees gefunden worden. Die Seilschaft, die die Leiche entdeckte, war so entsetzt, dass ihr nichts Besonderes an der Kleidung des Toten auffiel. Die Bergwacht achtete auch nicht weiter auf ihn, denn es war Wochenende und es gab viele Einsätze. Ein Rettungshubschrauber wurde zur Bergung herbeigerufen und brachte die Leiche nach Innsbruck. Erst einem Mediziner im Gerichtsmedizinischen Institut der Universitätsklinik fiel auf, dass dem Toten die Schuhe fehlten und seine Kleidung überhaupt etwas altertümlich anmutete. So stellte man also fest, dass er schon vor einigen Jahren auf dem Gletscher umgekommen sein musste. Vom Eise konserviert war er zu Tal transportiert worden. Der Berg hatte ihn wieder hergegeben.

An dem altertümlichen Schuhwerk, das ein Bergwachtmann kurz nach der Bergung fand und zur Polizei gab, hätte man das sicher früher erkennen können. Schremser erzählte mir, so ein Fall sei nicht einmalig, in Zermatt habe man im vorigen Sommer einen Toten gefunden, der um die Jahrhundertwende abgestürzt war und seither vermisst wurde.

„Ich bin sehr zuversichtlich. Die Leiche ist innerhalb von einer Woche identifiziert.“

So selbstbewusst und herablassend, wie er das vortrug, konnten keine Zweifel aufkommen.

„Die alten Hüttenbücher und alte Zeitungsmeldungen forsten wir gerade systematisch durch. Außerdem ist der Tote Mitglied des Alpenvereins gewesen, das haben wir an einem verschrammten Abzeichen erkannt.“

Dann ginge man daran, die Identität anhand von Röntgenaufnahmen zu verifizieren. Schremser brachte mich zur Türe, die mir für meinen Geschmack etwas schnell ins Schloss fiel.

Ich war enttäuscht, also doch eine Art Dr. Schramm aus Graz. Das einzig Mysteriöse blieb die Tatsache, dass er schon seit vierzig Jahren tot war. Pürschel musste meine Gefühle bemerkt haben, als ich zu ihm ins Auto stieg. Er versuchte mich zu trösten.

„Morgen bringe ich Sie zur Tiefkühlabteilung der Uniklinik. Dort können Sie sich den Korpus ja mal anschauen. Soll ich einen Fotografen mitbringen?“

Ich winkte ab. Er brachte mich in seine Redaktion und ich konnte dort den ersten und einzigen von mir verfassten Artikel über die Geschichte per Telex nach Wien senden, noch rechtzeitig für die nächste Ausgabe. Mehr hatte der erste Tag in Innsbruck nicht gebracht.

Pürschel kam endlich und setzte sich zu mir. Er bestellte sich einen Tomatensaft mit Salz und Pfeffer, den er mit der Grandezza eines Weltreisenden trank. Ich hätte lieber einen Grog bestellt, denn mir war in dem schlecht geheizten Raum recht frisch.

Er hatte schon die Pläne für den Tag gemacht, mich eingeschlossen. Dabei bot er mir an, für unsere beiden Zeitungen gemeinsam zu schreiben.

„Ich bringe die aktuellen Aspekte: Interview mit der Bergwacht, dem Helikopterpiloten, Fotos vom Fundort, von den Bergen, von der Seilschaft.“

Die Ideen sprudelten nur so hervor.

„Du recherchierst über die Vergangenheit.“

Mir gefiel sein Vorschlag nicht schlecht, aber erstmal wollte ich auf eigene Faust etwas mehr erfahren. Ich lenkte ab und redete über das Wetter, für das er sich überschwänglich entschuldigte, als sei er dafür verantwortlich.

Wir fuhren durch den Regen zur Klinik. Von den Bergen, jenseits des Inn, war nichts zu sehen, so tief hingen die Wolken.

Pürschel kannte sich genau aus und führte uns direkt in das Gerichtsmedizinische Institut. Dort erwartete uns bereits ein Mediziner. Dr. Heinrichs war nicht älter als ich, schwarzhaarig mit südlichem Teint. Er gab sich sehr sportlich und sehr selbstsicher.

In einem riesigen gekachelten Raum waren längs der Wände unzählige Türen aus Edelstahl. Es sah fast so aus, als habe ein italienischer Designer einen Friedhof entworfen, mit all den kleinen Grabkammern. Statt persönlicher Daten trugen die blinkenden Türen nur Nummern.

Durch eine Stahltür ging es in einen Autopsieraum. Der unbekannte Tote lag, zugedeckt mit einer weißen Plane, auf einem Tisch.

„Wir haben ihn wieder etwas hergerichtet“, entschuldigte sich Dr. Heinrichs.

„Wir haben ja schon mit der Autopsie begonnen.“

Er schlug die Plane zurück. Vor mir lag der nackte Körper eines etwa fünfzigjährigen Mannes, leicht untersetzt, mit auffällig starken Knien. Man konnte wirklich nicht erkennen, dass er schon vierzig oder fünfzig Jahre tot war. Die Haut wirkte etwas schlabberig, und das Gesicht war durch eine Verletzung leicht entstellt.

Der Arzt begann seine Erklärungen, die mich schamlos anmuteten. Er zeigte, fast obszön, auf den nackten Körper. Ich war noch nie in einem Autopsiesaal gewesen. Das Wissen von den Leichen in den Stahlkammern, der hinterhältig beißende Geruch eines Desinfektionsmittels und der aufgebahrte nackte Körper trieben mir das Blut aus dem Kopf, direkt in die Magengegend. Mir wurde speiübel. Pürschel schien die Situation eher zu gefallen. Er unterbrach den Arzt öfter, um unbedeutende Fragen zu stellen.

Der Tote, so hatte man ermittelt, musste etwa im Sommer 1936 verunglückt sein. Ein Sturz aus hoher Höhe hatte ihm die Schädelbasis und drei Halswirbel gebrochen. Die Verletzung des Gesichts konnte von einem Stein herrühren, auf den er gefallen war.

„Der Hornkees, der Fundort der Leiche, führt an den Seiten viel Geröll mit“, erklärte Dr. Heinrichs.

„Ich kenne die Gegend von einigen Bergtouren. Anhand von eingefrorenen Blütenpollen, die wir am Körper fanden, erhoffen wir uns eine exaktere Analyse.“

Dann machte er uns noch auf verschiedene Prellungen aufmerksam, deren Blutergüsse das Eis konserviert hatte.

„Wir müssten nur die Speisekarten der Hotels überprüfen, dann wüssten wir es ganz genau.“

Pürschel und ich schauten ihn überrascht an.

„Ja, sehen Sie, wir haben natürlich auch den Mageninhalt, der konserviert war, unter die Lupe genommen. Die Ergebnisse der Analysen lassen einen Rückschluss auf das zu, was er selbst noch am Vortag gegessen hat. Selbst den Wein, den er dazu getrunken hat, können wir bestimmen. Ziemlich viel hat er davon genossen, denn im Blut fand sich noch jede Menge Restalkohol. Der Mageninhalt war noch erstaunlich gut erhalten“

Man kann nicht erwarten, dass ein halbwegs sensibler Mensch einem solchen Vortrag in der Atmosphäre einer Leichenhalle länger als drei Minuten folgen kann. Ich befürchtete schon, den Weg an die frische Luft nicht mehr zu schaffen. Mit einem halbumgedrehten Magen wankte ich durch das Labyrinth der hochmodernen Klinik. Nur halb zurechnungsfähig fand ich zum Empfang. Wäre mir Pürschel nicht gefolgt, es hätte nicht viel gefehlt und man hätte mich als Notfall einliefern können. Er schwieg taktvoll, grinste aber hämisch.

„Hier kriegen wir nichts zu trinken!“ Wir gingen in eine nahe gelegene Studentenkneipe und ich trank erst mal einen großen Enzian.

III.

Sie haben etwas verpasst!“ Pürschel grinste noch unverschämter. „Der Doktor hat mir einiges über das Sexualleben unserer Leiche verraten. Wir brauchen nicht die Hotelspeisekarte, nur das Gspusi vom Vortag und schon haben wir die Identität.“

Ich war entrüstet über diese Taktlosigkeit, bemühte mich aber, mir nichts anmerken zu lassen. Ich wollte ihn nicht vergrätzen, denn vielleicht hatten die Unannehmlichkeiten gerade erst begonnen, die ich getrost ihm aufhalsen konnte, da sie ihm nichts auszumachen schienen.

Pürschel zog einige zusammengefaltete Fotokopien aus der Jackentasche. Er sortierte sorgfältig die Blätter und gab mir einen Stapel.

„Mit einem Gruß vom Doktor“, kommentierte er seine Geste. Neugierig schaute ich die Unterlagen durch. Es war der Autopsiebericht. Das meiste verstand ich nicht. Wie sollte ich da ahnen, dass ich einen wichtigen Mosaikstein in den Händen hielt.

An diesem Tag hatte ich noch viel mehr Glück. Unverhofft fand ich später in der Universitätsbibliothek noch zwei Steinchen, geradezu Pretiosen.

Wenn ich heute die Beschreibungen jener Tage in Innsbruck lese, sehe ich, wie wenig ich damals von den Schwierigkeiten wusste, die mir aus meiner Jagd nach „der Story“ schlechthin, dem ersehnten Wendepunkt meiner Karriere, erwuchsen. Vielleicht hätte ich die Finger von der Geschichte gelassen und mich der offiziellen Version der Bundespolizei angeschlossen, die den Fall als gelöst ad acta legte.

Auch Pürschel brachte diese Version, noch immer zur Hälfte unter meinem Namen, was meiner Glaubwürdigkeit nicht eben förderlich war. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er so fair oder raffiniert war, alle seine Artikel für den Morgen und seine Tiroler Heimat auch mit meinem Namen zu zeichnen. Vielleicht hätte ich mich mehr für die Gegenwart und nicht so sehr für die Vergangenheit interessieren sollen.

Aber ich will zur Handlung zurückkehren, als ich in Innsbruck in der Polizeidirektion meine zwei Pretiosen unter den Mosaiksteinchen fand.

Wir waren nicht direkt in die Redaktion der Heimat gefahren. Ich hatte keine Lust, einen Artikel zusammenzuschustern. Pürschel brachte mich wieder zur Polizeidirektion. Major Schremser hatte Zeit und empfing mich. Er war sofort bereit, mir die Habseligkeiten des Toten aus der Asservatenkammer bringen zu lassen. Währenddessen hielt er mir einen Vortrag über die mathematische Wahrscheinlichkeit einer Lösung seines Problems. Ich hörte nur halb zu, was ihn nicht zu stören schien, ich hatte noch immer den Anblick des aufgebahrten, nackten Körpers vor Augen.

„Haben Sie die Narbe auf der Brust und an dem Arm gesehen?“ unterbrach ich ihn. Erst jetzt fielen mir die zwei Stellen auf. Schremser schaute mich unwillig an. Ich erklärte ihm meine Entdeckung.

„Haben Sie nicht den Autopsiebericht gelesen?“ fragte er zurück.

„Wir konnten insgesamt vier typische Verletzungen identifizieren.“

Er entnahm einer Registermappe einige Papiere und zitierte aus ihnen.

„Verletzung eins und zwei sind eine gesplitterte Fraktur, die von einem Steckschuss herrührt. Die mögliche Kaliberzahl und der Altzustand der Verheilung weisen auf eine Kriegsverletzung hin. Dr. Heinrichs und Prof. Winschinger vermuten mit einiger Sicherheit, dass der Tote Soldat im Ersten Weltkrieg war, was auch mit seinem möglichen Alter von 45 bis 50 Jahren übereinstimmt.

Die beiden Narben, die Ihnen aufgefallen sind, scheinen jüngeren Datums. Sie rühren von zwei Schusswunden her, einem Pistolenschuss und einem Karabinerschuss, die sich der Tote etwa 12 bis 15 Jahre vor seinem Exitus zugezogen haben muss.“

Zufrieden steckte er die Blätter in die Mappe zurück. Bevor ich etwas einwenden konnte, fügte er noch hinzu, dass man sich bei ihnen bereits Gedanken über diese Wunden mache, die letztendlich die Identifizierung nur erleichtern konnten.

Inzwischen brachte ein Wachtmeister einen Korb mit der Kleidung des Toten. An jedem Stück, das auf des Majors Schreibtisch ausgelegt wurde, hing ein Etikett mit einer Registraturnummer. Schremser erklärte die Einzelstücke:

„Ein Satz wollener Unterwäsche bester Qualität, ein Paar Wollkniebundstrümpfe und Wollübersocken Marke Adlon, eine Kniebundhose aus Schladminger Loden – maßangefertigt von einem Berliner Schneider – eine Wollwebjacke, schwere Qualität vom Sporthaus Schuster aus München, ein Baumwollmaßhemd, ein Pullover aus gewalkter Wolle, ein Paar doppelt genähter Bergschuhe mit genagelter Sohle. Dazu fand man einen Deuter-Rucksack mit einem Hanfseil und einer Regenjacke Marke Klepper.“

Ich sah sehr schnell, wie gründlich die Polizei bereits alles aufgenommen hatte, und schrieb mir das Wichtigste in mein Notizbuch. Langsam konnte ich mir vorstellen, wie der Tote angezogen ausgesehen haben musste.

Schremser gab mir einen Lodenhut in die Hand, an dem ein verschrammtes Abzeichen des DeutschÖsterreichischen Alpenvereins befestigt war. Ich legte ihn schnell wieder auf den Schreibtisch zurück und nahm andere Kleidungsstücke in die Hand. Mir fiel auf, dass sie alle sehr abgenutzt waren, was mit dem Erhaltungszustand der Leiche in Widerspruch stand. Ich fragte den Major nach seiner Meinung.

„Wir glauben, dass das vom Transport im Gletscher herrühren muss. Wir haben ein Gutachten von einem Glaziologen der Universität.“

Wahrscheinlich war der Tote im letzten Teil seiner Gletscherreise nahe der Sohle gewesen und so über Steine geschrappt, eine abscheuliche Vorstellung.

Ich nahm die Jacke in die Hand und entdeckte an der rechten Brusttasche und am Revers noch zwei Abzeichen. Beide waren ungeheuer verschrammt. Das Abzeichen am Revers war rund, maß vielleicht ein Zentimeter im Durchmesser, mit einem Adlerkopf obendrauf, der früher einmal vergoldet gewesen sein musste. Das Abzeichen selbst war mit einem Muster emailliert gewesen. Einzig drei winzige Farbflecke, rot, weiß und schwarz waren noch zu erkennen.

Das andere Abzeichen hing an den wenigen Fasern eines zerfetzten und verblichenen Bandes. Die Farben konnte man nur noch erraten. Das Abzeichen war in Form einer silbernen Medaille, beide Seiten aber so abgenutzt, dass man mit bloßem Auge nichts mehr erkennen konnte.

Das erste Abzeichen hatte ich sofort erkannt, obgleich ich es nur von Schwarzweißfotos kannte. Hier hatte ich die beiden Pretiosen meines Mosaiks in der Hand.

Unverfänglich fragte ich den Major nach seiner Meinung. Er glaube, es seien zwei Sportabzeichen oder etwas Ähnliches. Die Medaille sah auch wirklich einem Preis für eine Volkswanderung zu ähnlich.

Ich fragte den Major scheinheilig, ob ich alle Abzeichen mit in die Redaktion nehmen könne, um sie fotografieren zu lassen. Vielleicht würde einer unserer Leser sie erkennen. Er war sofort einverstanden und händigte sie mir aus, ohne jede Quittung. Die österreichische Schlamperei kam mir nicht zum ersten Mal zugute. Hätte der Major gewusst, dass er sie nie in seinem Leben wiedersehen würde, er hätte mich rausgeschmissen. Ich habe nicht erfahren, ob er irgendwelchen Ärger bekam, wahrscheinlich hat er meinen „Diebstahl“ nie angezeigt.

Der Beamte im Empfang der Polizeidirektion richtete mir aus, Pürschel sei schon in seine Redaktion gefahren. Er erklärte mir aber freundlich, wie ich zu Fuß hinfinden könne. In fünf Minuten wäre ich da gewesen, ich hatte aber keinen Nerv, ihm zu begegnen. Ich zog es vor, einen Spaziergang durch die Stadt zu machen. Der Regen hatte inzwischen aufgehört.

In einem Schreibwarengeschäft erstand ich eine billige Lupe und einen Bleistift. Ich suchte ein ruhiges Lokal unter den Arkaden aus und bestellte eine Kanne Kaffee.

Das runde Abzeichen war nichts anderes als das „Goldene Parteiabzeichen“ Ich hatte es zu oft auf den Fotos von Nazigrößen gesehen, um es nicht sofort zu erkennen. Der rote Fleck gehörte zu einem Kreis, der den Rand bildete. Das Innere füllte ein weißer Grund, auf dem ein schwarzes Hakenkreuz prangte. Hitler soll es selbst entworfen haben. Ich hatte gelesen, das Rot stehe für den Sozialismus, das Weiße für den Nationalismus. Wofür das Schwarz stand, fiel mir nicht mehr ein. Vielleicht war aber alles nur ein Plagiat der Kaiserfahne.

Vielleicht würde die Story doch ganz interessant werden. Der Tote war kein gewöhnlicher Bergsteiger, er war ein Nazi. Wenn er wirklich 1936 umgekommen war, musste er sehr selbstsicher gewesen sein, diese Akzidenzien in Österreich so offen zu tragen. Damals war das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich und der eigenwilligen Alpenrepublik nicht gerade freundschaftlich. Es gab aber schon zehntausende heimliche Parteigenossen. Ein zweiter Hinweis schränkte den Personenkreis, der in Frage kam, beträchtlich ein. Das „Goldene Parteiabzeichen“ durften nur die frühen Mitglieder tragen, die bis zur Mitgliedsnummer 100.000. Das waren also die Menschen, die schon vor 1933 in die Partei eingetreten waren. Ich wusste zwar auch, dass man sich über Beziehungen auch später noch ein Parteibuch mit einer kleinen Nummer eines verstorbenen Parteigenossen verschaffen konnte.

Aber die Medaille schränkte den Personenkreis noch weiter ein. Schade, dass beide Seiten so abgenutzt waren, denn selbst mit der Lupe konnte man kaum etwas unterscheiden. Ich riss ein Blatt aus meinem Notizbuch und legte es auf die Medaille. Mit dem Bleistift rieb ich vorsichtig darüber, und sanft zeichneten sich einige Konturen ab. Allerdings erkennen konnte man immer noch nichts.