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Dank an Rudolf Aichner für seine unermüdliche und kritische Redigierung, Silke Ruthenberg für die feine Grafik, Angela Schumitz, Lydia Pointvogl, Eva Amberger, Christiane Hüttner, Dr. Martin Engler für das Lektorat und Dank an Prof. Guntram Knapp, der mich für die Philosophie begeistert hat.

Inhalt

Kants große Entdeckung

Immanuel Kant (1724-1804) gilt als der vielleicht bedeutendste Philosoph aller Zeiten. Tatsächlich machte er im 18. Jahrhundert zwei große Entdeckungen, die uns bis heute in Atem halten. Zum einem begründete er den weltweit gültigen ‚kategorischen Imperativ’, zum anderen gelang es ihm als erstem Philosophen überhaupt, die uralte Menschheitsfrage zu beantworten, wie in unserem Gehirn Erkenntnisse zu Stande kommen. In seinem Hauptwerk, der ‚Kritik der reinen Vernunft’, untersuchte er auf über tausend Seiten die Funktionsweise des menschlichen Denkapparates.

Alle Philosophen vor ihm, so ärgerte sich Kant, behaupteten mal dieses, mal jenes und kamen am Ende sogar zu gegensätzlichen Erkenntnissen:

Der Grund dafür sei, so Kant, der falsche Gebrauch der Vernunft. Zwar sehen alle Menschen und somit natürlich auch die Philosophen ein und dieselbe Wirklichkeit. Aber aufgrund von Täuschungen und Denkfehlern kommen sie am Ende, so Kant, zu äußerst widersprüchlichen Meinungen. Um nicht selbst solchen Denkfehlern zu verfallen, zog er es vor, erst einmal keinerlei philosophische Aussagen mehr zu machen. Elf lange Jahre veröffentlichte er gar nichts, kein einziges Buch, keinen Aufsatz, kein Wort, obwohl das von ihm als Philosophieprofessor eigentlich erwartet wurde. Stattdessen zog er sich mit sechsundvierzig Jahren in sein Studierzimmer zurück und erforschte hartnäckig, wie unser Denkapparat im Einzelnen funktioniert und wie wir ihn richtig einsetzen, um fehlerfreie Aussagen zu machen. Er prüfte kritisch, was der Mensch mit seiner Vernunft erkennen kann und was nicht. Deshalb nannte er sein Hauptwerk die „Kritik der reinen Vernunft“:

Entscheidend war für ihn immer nur die kritische Frage: Was kann die Vernunft wirklich mit Sicherheit erkennen und wo beginnt die Spekulation?

Wie ein Besessener suchte er nach der Antwort. Jeden Morgen ließ er sich schon um fünf Uhr von seinem Diener mit den Worten wecken „Es ist Zeit!“. Noch im Schlafrock setzte er sich zwei Stunden an den Schreibtisch, bevor er von sieben bis neun seine Universitätsvorlesung hielt. Gleich anschließend arbeitete er den ganzen Vormittag weiter, um dann Punkt zwölf mit seinen Freunden das Mittagessen einzunehmen. Allerdings durften diese auf keinen Fall über philosophische Themen sprechen, da er sich entspannen wollte, um am Nachmittag umso konzentrierter weiter arbeiten zu können. Punkt siebzehn Uhr machte er jeden Tag seinen Spaziergang, so dass die Königsberger, wenn sie ihn mit Hut und Spazierstock aus der Türe treten sahen, ihre Uhr nach ihm stellen konnten. Den Abend nutzte er, um Bücher anderer Philosophen zu lesen, bevor er sich pünktlich um zehn Uhr schlafen legte. Unermüdlich und mit eiserner Disziplin stellte er sich Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr immer wieder dieselbe Frage: Wie funktioniert die menschliche Vernunft und was kann der Mensch mit Hilfe der Vernunft erkennen?

So grübelte er – das ist für heutige Menschen fast nicht vorstellbar – elf lange Jahre, bis er endlich der Menschheit seine Antwort gab. Und die hatte es in sich. Sein Buch „Die Kritik der reinen Vernunft“ war eine Sensation. Es verbreitete sich nach einer gewissen Anlaufzeit um die ganze Welt und ist bis heute das wichtigste philosophische Werk aller Zeiten. Es brachte ihm aber auch großen Ärger mit der Kirche ein. Denn sein Ergebnis war knallhart. Die kritische Untersuchung des menschlichen Denkapparates oder, wie Kant sagt, die kritische Untersuchung der reinen Vernunft, hat nämlich ergeben, dass unsere Erkenntnisfähigkeit sehr begrenzt ist. Unsere Vernunft, so Kant, ist nur in der Lage, das mit Sicherheit zu erkennen, was wir zuvor auch mit unseren fünf Sinnen gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt oder ertastet haben. Kein Mensch kann allein durch bloßes Nachdenken über einen Gegenstand zu einer wirklich gesicherten Erkenntnis kommen, wenn er den Gegenstand nie zuvor sinnlich wahrgenommen hat. Auch Gott können wir letztlich nicht erkennen, da wir ihn nicht sinnlich wahrnehmen können. Gott hat keine Anschauung. Es gibt zwar das Wort „Gott“, aber niemand hat ihn je zuvor gesehen. Deshalb ist Gott zunächst nur ein abstrakter Gedanke oder, wie es Kant formuliert, ein leerer Begriff:

Kant lehnte deshalb alle Gottesbeweise als unwissenschaftlich ab, obwohl Gottesbeweise zu seiner Zeit noch weit verbreitet waren. Weder Gott noch Teufel noch das Weiterleben nach dem Tode können, so Kant, von der Vernunft erkannt und bewiesen werden. Damit machte er sich natürlich den Papst und die Kirche zum Feind. Vom frommen preußischen König Friedrich Wilhelm dem Zweiten wurde ihm die Verbreitung seiner Meinung über Gott und die Religion strengstens verboten. Auch die anderen Professoren durften in Preußen jahrelang keine Vorlesungen über Kants religionskritische Schriften halten.

Der Naturwissenschaft aber hat Kant mit seiner Erkenntniskritik einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Er gab den Forschern erstmals ein sensationell einfaches und perfektes logisches Instrumentarium an die Hand, das bis heute Gültigkeit hat und alle Ergebnisse weltweit vergleichbar macht. Jede Theorie, so gut sie auch sein mag, muss immer, so Kant, durch Anschauungen, also beispielsweise durch wiederholbare Experimente bewiesen werden. Erst dann handelt es sich um eine wirkliche Erkenntnis. Damit begann die Naturwissenschaft und die Technik ihren einzigartigen Siegeszug, der bis heute anhält. Endlich konnten die Forschungsergebnisse auf der ganzen Welt überprüft, miteinander verglichen und weiterentwickelt werden, da sich alle derselben erkenntnistheoretisch abgesicherten Methode bedienten, der Methode Immanuel Kants. Denn er beantwortete als erster die erkenntnistheoretische Frage „Was kann ich wissen?“ und bereitete damit den Boden für den universalen Aufbruch der Wissenschaft.

Aber das war bei Weitem noch nicht alles. In seinem zweiten Hauptwerk, der „Kritik der praktischen Vernunft“, geht Kant einer vielleicht noch wichtigeren Frage der Menschheit nach:

Im Leben geht es nicht nur darum, die Welt zu erforschen und zu erkennen, sondern vor allem darum, sich richtig zu verhalten und das Richtige zu tun. Was ist gut, was ist böse? Wie soll ich handeln? Gibt es eine Handlungsorientierung, die für alle Menschen gleichermaßen richtig ist?

Auch auf diese Frage gelang Kant eine sensationelle Antwort, der sogenannte ‚kategorische Imperativ’. Millionen Schüler und Studenten auf der ganzen Welt lernen heute noch den berühmten Handlungsimperativ, den Kant vor über zweihundert Jahren entwickelt hat.

So groß auf der einen Seite seine Wirkung war, so bescheiden war auf der anderen Seite sein eigenes Leben. Den Geburtsort Königsberg, das heutige Kaliningrad, hat er angeblich nie verlassen. Von einem zeitgenössischen Biografen wird sogar überliefert, dass Kant nur ein einziges Mal mit der Kutsche ein paar Kilometer über die Stadtgrenze hinauskam, um einen Freund zu besuchen.

Doch die ungewollt späte Heimkehr, die seinen Tagesablauf durcheinander brachte, bereute er so sehr, dass er künftig auf solche Abenteuer verzichtete und sich ausschließlich seinen Studien widmete. Selbst Frauen hatten in seinem Leben keinen Platz. Sie galten ihm wohl als Zeitfresser, die ihn von den wesentlichen Dingen hätten ablenken können. Auf seine Ehelosigkeit angesprochen pflegte er zu sagen:

Kants größte Lust war nun mal das Denken und er nahm sich die Freiheit, dieser Leidenschaft uneingeschränkt nachzugehen. Sowohl seine Zeitgenossen als auch spätere Denker belächelten Kant wegen seiner zwanghaft asketischen Lebensweise. Fest steht aber, dass am Ende seines Schaffens der bedeutendste ethische Entwurf stand, den der menschliche Geist je hervorgebracht hat und der bis heute gilt: der kategorische Imperativ. Zeitlos und modern ist der kategorische Imperativ schon deshalb, weil Kant damit erstmals ein moralisches Handlungsprinzip vorlegte, das ausschließlich auf Vernunft basiert und nicht mehr, wie in früheren Jahrhunderten, auf dem Glauben an Gut und Böse.

Mit Kant kam ein ganz neues Denken in die Geschichte der Philosophie und der Menschheit: das kritische Denken. Kant war insofern vielleicht der konsequenteste Vertreter der Aufklärung, als er die Menschen aufforderte, jedes Wissen selbstkritisch zu hinterfragen und sich radikal von überkommenem Scheinwissen zu befreien:

Kants Kerngedanke

Was kann ich wissen?
Die Kritik der reinen Vernunft

In einer philosophischen Vorlesung hat Kant einmal gesagt, dass es in der Philosophie überhaupt nur vier Fragen von wirklicher Bedeutung gibt: Was kann ich wissen? Was kann ich tun? Was kann ich hoffen? Was ist der Mensch? Er selbst hat sich vor allem mit den ersten beiden Fragen beschäftigt.

Die fundamentale Frage, was kann ich als Mensch wissen und erkennen, untersucht er in seinem gewaltigen tausendseitigen Hauptwerk, der ‚Kritik der reinen Vernunft’. Das Wort Kritik verwendet er dabei weniger im modernen Sprachgebrauch als negatives Urteil, sondern vielmehr im ursprünglichen Sinne des griechischen Wortes ‚krinein’, was übersetzt ‚untersuchen’ oder ‚prüfen’ bedeutet. Er will prüfen, was die reine Vernunft überhaupt leisten kann und was nicht. Diese kritische Überprüfung vergleicht er mit einem Gerichtsprozess, bei dem die Vernunft zugleich Anklägerin und Angeklagte ist, da sie sich ja selbstkritisch auf ihre eigene Leistungsfähigkeit hin untersuchen muss. Ein solch strenger Gerichtsprozess sei nach zweitausend Jahren Philosophie-geschichte längst überfällig. Die jahrhundertealte Diskussion der Philosophen um die Wahrheit drohe nämlich, so Kant, in Widersprüchen und Chaos zu versinken und sei eine überdeutliche Aufforderung, endlich Klarheit zu schaffen: