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Dank an Rudolf Aichner für seine unermüdliche und kritische Redigierung, Silke Ruthenberg für die feine Grafik, Angela Schumitz, Lydia Pointvogl, Eva Amberger, Christiane Hüttner, Dr. Martin Engler für das Lektorat und Dank an Prof. Guntram Knapp, der mich für die Philosophie begeistert hat.

Inhalt

Die große Entdeckung Rousseaus

Rousseau (1712-1778) war der Denker des Gegenteils. Er widersprach so ziemlich allem, was seine Zeitgenossen im 18. Jahrhundert für wahr und richtig hielten: dem Gottesgnadentum, der Adelsgesellschaft, der Kirche, der autoritären Erziehung und dem Staat mit all seinen Institutionen.

Er war der erste wirklich radikale Gesellschaftskritiker. Sein ganzes Leben bewegte er sich gegen den Strom. Selbst heute noch ist sein Werk ein Stein des Anstoßes. Obwohl Rousseau sein Geld als Philosoph, Künstler und Dramaturg verdiente, kritisierte er ohne Bedenken auch die Philosophie, die Kunst und das Theater als bloße Ablenkung und Verblendung. Auch in die Pädagogik mischte er sich ein. An Stelle der strengen Aufzucht der Kinder befürwortete er deren freie Selbstentfaltung und wurde zum Begründer des antiautoritären Erziehungsgedankens.

Mit seiner Kritik an jeglicher Form von Unterdrückung und seiner politischen Forderung nach Demokratie und Gleichheit bereitete er der französischen Revolution den Boden und inspirierte sogar den Frühsozialismus, den Marxismus und die kritische Theorie. Aber auch entgegengesetzte Strömungen wie die Romantik, der Sturm und Drang und die Philosophie Nietzsches wurden vom ihm beeinflusst. Mit einem Wort: Der Querdenker Rousseau versetzte ganz Europa in Unruhe. Die geistigen Impulse, die von ihm ausgingen, waren ebenso vielfältig und turbulent wie sein Leben selbst. Kein anderer Philosoph hinterließ jemals eine derart schillernde Biografie.

Am Ende seines ruhelosen Lebens, mit 66 Jahren, hatte er es tatsächlich geschafft, zwölf verschiedene Berufe auszuüben, zweimal die Konfession zu wechseln und drei verschiedene Staatsbürgerschaften anzunehmen. Zudem bewohnte er eine zweistellige Zahl von Wohnsitzen und liebte eine beträchtliche, nicht genau feststellbare Zahl von Frauen.

Aber damit nicht genug: Der Querkopf Rousseau brachte das Kunststück fertig, sich mit fast allen Menschen zu zerstreiten, die ihm jemals nahe standen und unterstützten. So hat er sich im Laufe seines Lebens Voltaire, Diderot, d‘Alembert und die anderen ehemals befreundeten Enzyklopädisten ebenso zum Feind gemacht wie den englischen Philosophen David Hume, der ihn bei sich aufnahm, als er wegen seiner Schriften nach England fliehen musste.

Die meiste Zeit seines Lebens befand sich Rousseau auf Wanderschaft oder auf der Flucht. Mal wurde er von der Kirche, mal von Regierungen verschiedener Nationen gejagt. Aufgrund mehrerer Haftbefehle der Bürgerschaft von Genf und des Parlamentes von Frankreich floh er zwischenzeitlich zum aufgeklärten König Friedrich Wilhelm von Preußen und nahm die preußische Staatsbürgerschaft an.

Während seiner Wanderjahre schlug er sich als Musiklehrer, Dienstbote, Hauslehrer, Rechtsanwaltsgehilfe, Notenkopierer, Romancier, Philosoph, Theaterdramaturg und Opernschreiber durch, verdiente aber nie genug Geld, um einen eigenen Hausstand zu begründen. Dennoch − Rousseau war ein echter Tausendsassa: Mal schrieb er ein neues numerisches Notensystem, das sich allerdings nie durchsetzte, mal philosophische Bücher, die Furore machten, mal Romane; ein andermal Opern und Theaterstücke, die durchaus gespielt und wahrgenommen wurden.

Seine Mutter starb bei seiner Geburt. Sein Vater zog ihn alleine auf und machte ihn mit der Literatur vertraut, musste aber untertauchen, als er bei einer Auseinandersetzung einen Offizier mit dem Degen verletzt hatte. So kam Rousseau bereits als Zehnjähriger in die Obhut seines Schwagers und später seiner Tante in Genf. Dort begann er eine Uhrmacherlehre. Doch als er nach einem Sonntagsausflug zu später Stunde nach Genf zurückkehrte, ließ man ihn nicht mehr durch das Stadttor. Er wusste, dass ihm deshalb vom Uhrmacher heftige Prügel drohten. Der Sechzehnjährige zog es deshalb vor, Genf für immer den Rücken zu kehren und sich auf Wanderschaft zu begeben. Seinen Lebensunterhalt verdiente er notdürftig mit Gelegenheitsarbeiten. Da er bereits als Jungendlicher ein gutaussehender und geistreicher Unterhalter war, fand er auf verschiedenen Adelsgütern immer wieder Brot und Unterkunft. Auf dem Gut von Madame de Warens verliebte er sich in die achtundzwanzigjährige Hausherrin, die er wegen ihrer Fürsorglichkeit „Mama“ nannte, selbst dann noch, als sie längst seine Geliebte geworden war. Aufgrund seiner baldigen Berühmtheit hatte er zeitlebens Wohltäter und Unterstützer, unter anderem Madame d’Épinay, mit der er ebenfalls eine mehrjährige Liebesbeziehung unterhielt. Die meiste Zeit seines Lebens verkehrte Rousseau an den Höfen adeliger Gönner, obwohl er in seinen Büchern stets die Gleichheit aller Bürger und die Abschaffung des Adels forderte.

Diese und andere Widersprüchlichkeiten waren fester Bestandteil seines Lebens. Zu seiner Ehrenrettung muss man allerdings sagen, dass er durchaus seine Prinzipien hatte. 1756 schrieb er eine Oper, deren Aufführung den König von Frankreich derart amüsierte, dass er ihm eine Leibrente in Aussicht stellte. Rousseau, obgleich mal wieder bettelarm, lehnte ab, um, wie er selbst sagte, weiter frei seine Meinung sagen zu können – auch über den König.

Die einzige Kontinuität in Rousseaus Leben war sein langjähriges Liebesverhältnis zur der Wäscherin Thérèse Le Vasseur, die er im Alter von sechsundfünfzig Jahren, also zehn Jahre vor seinem Tod, noch heiratete und mit der er bereits zuvor fünf Kinder hatte. Allerdings – auch das gehört zu Rousseaus widersprüchlichem Wesen – gab er alle seine Kinder in Waisenhäuser und in fremde Obhut. Dies ist insofern erstaunlich, als er ein viel beachtetes Werk zur Kindererziehung schrieb. Es hatte den Titel „Emile oder über die Erziehung“ und wurde zu einem Meilenstein der Pädagogik. Als ihn sein damaliger Freund Voltaire wegen dieses Widerspruches zur Rede stellte, antwortete Rousseau schlicht, dass er als Schriftsteller weder genug Geld verdiene noch die Zeit habe, Kinder zu erziehen. Gerade weil er wisse, wie viel Zuwendung Kinder brauchten, könne er nicht verantworten, sie bei sich zu behalten. Seine Frau Thérèse hätte ebenfalls keine Zeit, da sie als Wäscherin für sich und ihn den Lebensunterhalt verdienen müsse.