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Dank an Rudolf Aichner für seine unermüdliche und kritische Redigierung, Silke Ruthenberg für die feine Grafik, Angela Schumitz, Lydia Pointvogl, Eva Amberger, Christiane Hüttner, Dr. Martin Engler für das Lektorat und Dank an Prof. Guntram Knapp, der mich für die Philosophie begeistert hat.

Inhalt

Sartres große Entdeckung

Der französische Existentialist Jean-Paul Sartre (1905-1980) ist einer der bedeutendsten Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Weltberühmt wurde er mit der provokativen Th ese, der Mensch sei zur Freiheit verdammt. Seine existenzialistische Aufforderung, angesichts der Gewissheit des Todes nicht länger an ein jenseitiges Paradies zu glauben, sondern das Leben im Hier und Jetzt entschlossen und frei zu gestalten, wurde zum Glaubensbekenntnis einer ganzen Generation:

Sartres Existenzphilosophie beeinflusste nicht nur die akademische Diskussion an den Universitäten, sie wirkte darüber hinaus auf die gesamte westliche Zivilisation, insbesondere auf die europäische Jugend.

Der Existentialismus wurde zu einer Art Lebenshaltung: Schüler, Studenten, Künstler und andere vom Existentialismus Begeisterte trafen sich regelmäßig in den Caféhäusern, was für Franzosen zunächst nichts Ungewöhnliches ist. Aber diese neuen, offenen Diskussionszirkel, denen Frauen wie Männer gleichermaßen angehörten, brachten eine eigene Jugendkultur hervor. Als Zeichen ihrer existenzialistischen Einstellung trugen sie dunkle Kleidung und schwarze Hornbrillen, wie Sartre selbst sie zu tragen pflegte. Das Motto der Existentialisten lautete: Lass dir von niemandem sagen, wie du zu leben hast. Entscheide selbst und stehe zu deinen Taten. Lebe aufrichtig und intensiv, sowohl hinsichtlich deiner Liebesbeziehungen und Freundschaften, als auch hinsichtlich deines politischen Engagements.

Sartre selbst legte immer größten Wert darauf, dass der Existenzialismus keine bloße Aufforderung zur persönlichen Selbstverwirklichung ist, sondern darüber hinaus zum Engagement für die Gesellschaft:

So demonstrierten die Existenzialisten gleichermaßen gegen die französischen Kolonialkriege in Algerien und Indochina wie gegen den amerikanischen Imperialismus in Vietnam. Gemäß ihrer Ablehnung der bürgerlichen Moral experimentierten sie auch mit der freien Liebe. Sartre selbst führte mit seiner Lebensgefährtin Simone de Beauvoir eine sogenannte „offene Beziehung“, das heißt, sie hatten zeitweise auch intime Beziehungen mit anderen, die allerdings niemals ihre tiefe gegenseitige Verbundenheit in Gefahr brachten. Sartre und Beauvoir schlossen sogar einen Vertrag der Freiheit und Offenheit, in dem sie sich von bürgerlich monogamen Konventionen lossagten, sich aber gleichzeitig zu gegenseitiger Ehrlichkeit und Verlässlichkeit verpflichteten.

Neben seinen philosophischen Büchern schrieb Sartre auch zahlreiche Romane und Theaterstücke. Vor allem aber engagierte er sich politisch, arbeitete unzählige Petitionen aus und vertrat als Linksintellektueller nach vierjähriger Unterstützung der kommunistischen Partei gemäßigt maoistische Positionen. Als er sich 1957 für die Unabhängigkeit der Kolonie Algerien aussprach und die französischen Soldaten zur Dienstverweigerung aufrief, wurde seine Wohnung von wütenden nationalkonservativen Kräften durch einen Bombenanschlag völlig zerstört.

Sartre suchte zeitlebens das Gespräch mit Revolutionären und gesellschaftlichen Außenseitern. So besuchte er Che Guevara, Fidel Castro, Mao Zedong und – als über Siebzigjähriger – auch die Baader-Meinhof-Bande. Anlässlich dieses Gefängnisbesuches protestierte er, obgleich zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend erblindet, gegen die Isolierung der RAF-Häftlinge.

Wie viele seiner existenzialistischen Zeitgenossen war Sartre starker Raucher. Noch heute findet man auf der Speisekarte in seinem Stammcafe, dem „Cafe de Fleurs“ in Paris, ein sogenanntes „Existentialistenfrühstück“ für nur zwei Euro. Das ist zwar günstig, aber man bekommt auch nur eine Tasse schwarzen Kaffee und eine filterlose Zigarette. Doch genau dieser Purismus, nur das zu frühstücken, worauf es einem ankommt und auf alles bürgerliche Beiwerk zu verzichten, war Teil des existentialistischen Lebensgefühls. So weigerte sich Sartre auch, den Literaturnobelpreis entgegenzunehmen, weil das für ihn nur bürgerlichen Pomp darstellte.

Das Streben nach Sicherheit, Besitz und Komfort galt den Existentialisten als verachtenswert und als Ausdruck von Unfreiheit. Sartre selbst verbrachte konsequenterweise sein ganzes Leben in schmucklosen Hotelzimmern. Auch legte er Wert darauf, alle seine philosophischen und literarischen Werke an Schreibtischen zu verfassen, die ihm nicht gehörten.

Die sich auf ihn berufende Jugendkultur war ihm allerdings stets ein bisschen unheimlich, da er fürchtete, wissenschaftlich nicht mehr ernst genommen zu werden. Doch diese Sorge war unbegründet. Sein 1943 erschienenes Hauptwerk mit dem provokativen Titel „Das Sein und das Nichts“ gilt bis heute als ein Meilenstein der Philosophiegeschichte. In diesem Buch erklärt Sartre die Freiheit zum entscheidenden Wesenskern des Menschen. Kein anderer Philosoph vor oder nach ihm hat der menschlichen Entscheidungsfreiheit einen solch ungeheuren Stellenwert eingeräumt:

Bis heute gilt Sartre als der Philosoph der Freiheit. Doch dabei blieb es nicht. Er machte noch eine zweite folgenreiche Entdeckung. Als einer der ersten Philosophen überhaupt erforschte er die Struktur der zwischenmenschlichen Beziehung. Dabei analysierte er unter anderem das Phänomen der Liebe und kam zu einer erstaunlichen Erkenntnis: Die Menschen sind auf die Liebe, die Meinung und die Reaktionen der anderen Menschen existenziell angewiesen, um überhaupt ein Selbstgefühl oder eine Vorstellung von sich zu bekommen. Die freie Anerkennung durch die Mitmenschen ist nach Sartre sogar die Grundlage unseres Daseins. Andererseits empfinden wir genau diese ständige Beurteilung durch die anderen immer auch als etwas Unkontrollierbares und Gefährliches:

Diese nach Sartre „ontologische“ Gefahr besteht darin, dass wir von den Anderen zwar anerkannt werden wollen, uns aber dieser Anerkennung nie ganz sicher sein können, denn der Andere ist prinzipiell frei und kann uns jederzeit auch ablehnen. Selbst in einer Liebesbeziehung, in der sich die Verliebten ja gegenseitig bedingungslos anerkennen, kann es zu einer Krise oder Trennung kommen. Wir befinden uns daher laut Sartre in einem ständigen „Kampf um Anerkennung“. Da dieser Kampf strukturell zum menschlichen Leben gehört, kommt Sartre zu der provokanten Schlussfolgerung: