Pharaonentöchter

 

Am Ufer des Nils

Tiefes Schweigen herrschte an den Ufern des majestätischen Flusses. Hinter den hohen Wipfeln der Fächerpalmen ging soeben die Sonne in einem Feuermeer unter. Bronzefarbig erschienen die Fluten. Im Osten kündigte ein immer dichter werdender Dunst die Abenddämmerung an.

Am Strand stand ein junger Ägypter. Sein Blick schweifte träumerisch über das Wasser, das murmelnd zwischen den Papyrus Stauden zerrann. Er mochte wohl neunzehn Jahre zählen, hatte breite Schultern und nervige Arme mit langen, schlanken Händen und schöne, regelmäßige Gesichtszüge.

Sein Gewand bestand aus einem faltenreichen Hemd, das an den Hüften durch eine weiß- und blaugestreifte Leinenbinde zusammengehalten wurde. Als Kopfbedeckung trug er ein dreieckiges Tuch mit buntem Besatz, das bis auf die Schultern herabfiel. Ein schmaler Pelzrand umschloss die Stirn.

Der Jüngling beachtete nicht, dass sich bereits die Schatten der Nacht herabsenkten und so den Aufenthalt am Ufer gefährlich machten. Seine dunklen Augen schienen ein in der Ferne entschwundenes Idol zu suchen. Er seufzte: »Sie wird nie mehr wiederkehren! Sind es doch nur die Pharaonen, die von den Göttern begünstigt werden, wir Sterbliche nicht!«

Die Purpurröte am Himmel war im Nu verschwunden. Schon blitzten die Sterne auf.

Als der Jüngling sich heimwandte, sah er zwischen dem Gras und den trockenen Blättern am Boden einen glänzenden Gegenstand liegen. Es war ein goldenes, bunt emailliertes Schmuckstück in Form einer kleinen, hochaufgerichteten Schlange mit Geierkopf. Erstaunt hob er das Kleinod auf.

»Ein Uräus? Das Symbol der Macht über Leben und Tod?« murmelte er sinnend. »Nur Pharaonen dürfen den Schmuck tragen. Sah ich ihn nicht auch an der Sphinx in unserer Felsenhöhle an der Stirn des göttlichen Osiris?«

Grübelnd, mit gesenktem Haupt, schritt er weiter. Seine Gedanken schweiften zu dem Tag zurück, an dem er Gelegenheit hatte, ein junges Mädchen aus dem Rachen eines Krokodils zu retten. Er hatte sie für eine Nilgöttin gehalten, die plötzlich aufgetaucht war. Nun kam ihm die Erinnerung, dass es ja gerade dieser Schmuck war, der in ihren Haaren geglänzt hatte ...

Angstschweiß bedeckte seine Stirn bei dem Gedanken.

Unterdessen war es völlig finster geworden. Der Jüngling ging wie ein Nachtwandler, der weder Auge noch Ohr für seine Umgebung hat. Die Grillen zirpten, und die Wasser gurgelten unter den Papyrusstauden und Lotosblumen.

Schon hatte er den Waldsaum erreicht, als ihn eine Stimme aus seinen Träumen weckte: »Mirinri! Siehst du denn nicht, dass die Sonne schon lange untergegangen ist? Hörst du nicht das Geheul der Hyänen? Du dass wir mitten in der Wüste leben.«

Ein alter Mann von priesterlichem Aussehen mit langem, weißem Bart war unter einer Akaziengruppe hervorgetreten. Seine stattliche Gestalt umschloss ein langes Leinenhemd. Die leicht gebräunte Haut war durch das Alter pergamentähnlich geworden, aber seine Augen glänzten noch lebhaft.

»Seit einer Stunde suche ich dich, mein Sohn«, sagte er mit sanftem Vorwurf. »Warum kommst du jetzt alle Tage so spät heim? Du weißt, dass die Nilufer gefährlich sind, dass die Krokodile sich nicht nur auf weidende Stiere, sondern auch auf Menschen stürzen und sie in die Fluten ziehen!«

»Die fürchte ich nicht«, entgegnete der junge Mann lächelnd.

»Aber du hast dich um mich gesorgt, Unis. Verzeih.«

Der Alte erhob die Hand zum Himmel. »Siehst du den Stern dort oben im Osten glänzen? Deine Augen können besser als meine unterscheiden ...«

Der Jüngling folgte der Weisung. »Es ist ein Komet, ein Stern mit einem Schweif!« rief er.

»Er ist es«, sprach der Greis. »Ich habe ihn heute Nacht erwartet! Er bezeichnet die Stunde, wo ich dir eine Weissagung offenbaren soll. Dein Schicksal ist an diesen Stern gebunden!«

Damit neigte er sich vor dem Jüngling und küsste den Saum seines Gewandes.

»Was tust du, Unis?« fragte dieser überrascht und trat einen Schritt zurück.

»Ich grüße den künftigen Herrn von Ägypten.«

Mirinri schaute den Priester sprachlos an.

Plötzlich schoss es wie ein Blitz durch seine Seele. »Dann brauche ich mich ja nicht mehr vor dem Symbol der Macht über Leben und Tod zu fürchten! Aber – wie sollte ich dir Glauben schenken?« fragte er.

Unis nahm seinen Zögling bei der Hand und führte ihn heimwärts über eine sandige Steppe, auf der nur hier und dort dürre Sträucher und halb vertrocknete Palmen standen. Beide schwiegen, in Gedanken versunken, während der Stern über ihnen leuchtete.

So gelangten sie zu einem steilen, vegetationslosen Felsen. Er erhob sich in Pyramidenform und trug einige gespenstisch aufragende Kolossalstatuen.

Mirinri ließ sich widerstandslos leiten.

Ein in den Hügel eingelassener Pfad führte in eine tiefe Höhle, die von einer kleinen Lampe erleuchtet wurde. Letztere war aus Ton und hatte die Gestalt des Ibis, des heiligen Vogels. Die Einrichtung der Höhle bestand aus Büffel- und Hyänenfellen, die als Betten dienten, einem niedrigen Tisch und etlichen am Boden stehenden Amphoren. Einige kurze Schwerter und Schilde lehnten an den Wänden. In einer Ecke brodelte in einem hängenden Gefäß eine appetitlich duftende Suppe auf einem aus Steinen hergerichteten Herd.

Nach seinem Eintritt ließ sich der Jüngling auf ein Fell nieder und bat den Alten inständig, ihm mehr von der seltsamen Weissagung zu erzählen.

Dieser begann, während seine Augen zärtlich an Mirinri hingen: »Ich habe dich meinen Sohn genannt, und, wie du weißt, dir mein ganzes Leben gewidmet. Du bist aber nicht eines Priesters Spross, sondern ein Königssohn.«

Der Jüngling sprang erregt auf. »Sprichst du die Wahrheit? Noch kann ich deinen Worten nicht trauen!«

»Ich spreche die Wahrheit!«

»Wohl fühle ich in meinen Adern Kriegerblut rollen! Ich träumte oft, dass ich im Heer kommandierte und Länder eroberte ... Oh, sollten denn meine Träume von Ruhm und Größe, die mich jahrelang verfolgten, einst verwirklicht werden?«

Der Alte nickte ihm lächelnd zu.

»Vor allem sag mir: Wie kommt es, dass ich dann hier am Rande der Wüste wie der Sohn eines armseligen Hirten aufgewachsen bin, fern von dem Glanz und der Pracht der Hauptstadt?«

»Setz dich wieder und höre mir zu«, sagte Unis ruhig. »Deine Frage ist berechtigt. Aber hätte man dich unten in Memphis gelassen, so lebtest du zu dieser Stunde nicht mehr.«

»Erkläre mir das!«

»Weil ein Elender den Thron deines Vaters einnimmt! Schon seit siebzehn Jahren regiert König Teti, den das Volk ›Den Großen‹ nannte, nicht mehr ...«

»Und ich sollte der Sohn Tetis sein?« fiel ihm der Jüngling ins Wort. »Du treibst deinen Spott mit mir! Gib mir Beweise!«

»Die sollst du haben. Morgen noch vor Sonnenaufgang werden wir die Memnonsäule und die Blume des Osiris befragen. Wenn der Stein tönt und die Wunderblume sich wieder belebt, werden dies Zeichen sein, dass du ein Königssohn bist. Willst du mit mir kommen?«

»Ja!« rief Mirinri, dem Schweißtropfen auf der Stirn perlten. »Erst nach diesen beiden Proben werde ich dir glauben!«

»Gut, so vernimm jetzt deine und deines Vaters Geschichte.«

Gerade als der Greis beginnen wollte, fiel sein Blick auf das goldene Schmuckstück, das Symbol der Macht über Leben und Tod, das der Jüngling an seinem Gewand angebracht hatte.

»Ein Uräus!« rief er erschrocken aus. »Woher hast du ihn?«

Nach einigem Zögern antwortete Mirinri: »Ich fand ihn am Nilufer.«

»Weh mir, nun wird all mein Mühen, dich zu verbergen, all meine Vorsicht umsonst sein! Sie werden deinen Aufenthalt entdeckt haben. Sie sind sicher auf deiner Spur! Du weißt wohl nicht, dass nur ein König dies Symbol tragen darf.«

»Oder – eine Königstochter«, sagte Mirinri lächelnd und betrachtete zärtlich den Schmuck.

»Was heißt das?« rief der Priester jetzt zornig. »Warum verheimlichst du mir etwas? Womöglich ein Erlebnis, das dich den Kopf kosten kann! Du hast mir von einer Göttin gesprochen ... Wo hast du sie gesehen?«

»Am Nilufer. Sie kam in einer großen, goldglänzenden, mit prächtig gekleideten Negern bemannten Barke. Es war ein wunderschönes Mädchen.«

»Und in ihren Haaren glänzte dieser Schmuck?«

»So ist es. Sie wird ihn am Ufer verloren haben.«

Unis ging in furchtbarer Erregung auf und nieder.

»Und seitdem ich das Mädchen gesehen, ist mein Friede, mein Frohsinn dahin«, fuhr der Jüngling fort. »Sie hat mir ein Stück meines Herzens genommen. Schließe ich die Augen, sehe ich nur sie. Schlafe ich, so träume ich nur von ihr. Säuselt der Wind durch die Palmen längst des Nilufers, so glaube ich ihre Stimme zu hören. Raube mir nicht die Vision – es war eine Göttin.«

»Erzähle, was geschah!«

»Als sie sich über den Rand der Barke neigte, hinter ihr die hohen, mit Straußenfedern besetzten Fächer, die ihre Diener hielten, kam seitlich ein Krokodil heran und packte sie mit seinen Zähnen. Noch höre ich ihren Aufschrei, noch fühle ich den Schauer, der mich durchrieselte, als ich hinzusprang und sie befreite, sie in meine Arme nahm und ans Ufer trug. Dort legte ich sie ins Gras nieder ... und so wird der Haarschmuck ihr entfallen sein.«

»Unglücklicher!« Der Alte stand vor ihm mit flammenden Augen.

»Nun, wenn es wahr ist, dass ich ein Königssohn bin, warum sollte ich dann nicht eine Jungfrau aus königlichem Geschlecht lieben?« fragte Mirinri keck.

»Weil du jenes Geschlecht, dem sie angehört, hassen sollst! Du kennst noch nicht die Geschichte deines Vaters, kennst nicht all die Leiden, die er ertragen musste ...«

»Erzähle«, bat Mirinri bekümmert. »In deinen Worten soll mein Schicksal liegen.«

Die Gräber der Quebhudynastie

»Dein Vater, der große Teti, war der Stammvater der 7. Dynastie. Nicht nur Memphis verdankt ihm seine Macht und Größe. Von ihm stammen die wunderbaren Pyramiden, welche nach Jahrtausenden noch stehen werden, nachdem unser Volk längst dahingegangen ist.

Außer einem Sohn besaß er noch eine Tochter, die den Namen Sahur erhielt.«

»Lebt meine Schwester noch?« fragte Mirinri erregt dazwischen.

»Das wirst du später erfahren. Höre zu! Eines Tages kam die Nachricht, dass ein großes chaldäisches Heer sich nahte, um in Ägypten einzudringen. Es hatte schon den Isthmus überschritten, der das Mittelmeer vom Roten Meer trennt, und war ungeheuer stark. Die ihm entgegengeschickten Truppen wurden besiegt, alle Küstenstädte in Flammen gesetzt und alle Einwohner vernichtet. Der Pharaonen letzte Stunde schien geschlagen zu haben. Aber dein Vater war ein Held. Er entstammte der Kriegerkaste. An der Spitze eines eiligst gesammelten neuen Heeres zog er dem Feind entgegen, der bereits gegen Memphis vorrückte. Er missachtete die Ratschläge seiner Minister und Höflinge, sich nicht selber der Gefahr auszusetzen. Bei On, wo der Nil sich zu verzweigen beginnt, stieß die Phalanx der Ägypter mit den Chaldäern zusammen. Der König kämpfte in den ersten Reihen, um den anderen ein Beispiel zu geben. Unerschrocken trotzte er den feindlichen Waffen und durchbrach die Front des Gegners. Trotzdem aber schwankte der Sieg. Vom Morgengrauen bis zur Dämmerung dauerte das Gemetzel mit großen Verlusten auf beiden Seiten. Der Nil war rotgefärbt von Blut, die ganze Erde blutgetränkt. Berge von Leichen erhoben sich ringsum.

Erst als die Sonne sank, waren die Chaldäer in die Flucht geschlagen. Ägypten war gerettet, dank deinem Vater. Doch hatte jener Triumph dem Sieger Unheil gebracht.«

»Fiel er im Kampf?« fragte Mirinri atemlos.

»Von einem chaldäischen Pfeil verwundet, der ihn in die Brust traf, war er auf dem Schlachtfeld liegen geblieben. In dieser schrecklichen Verwirrung hatte ihn niemand bei den Toten gesucht. Nur einer wusste von seinem Verbleib ...«

»Sein Name?«

»Es war sein Bruder, jener ehrgeizige Pepi, der jetzt über Ägypten herrscht!«

»Der meinem Vater den Thron geraubt hat?«

»Derselbe. Aber lass mich zu Ende erzählen: Pepi verkündigte dem Volk den Tod des Königs. Dein Vater war jedoch nicht tödlich verwundet. Er hatte noch soviel Kraft gehabt, sich den Pfeil aus der Brust zu reißen, hatte aber die Wunde damit vergrößert. Durch den furchtbaren Schmerz war ihm das Bewusstsein geschwunden. Als er wieder zu sich kam, befand er sich in einem Zelt unter schwarzen Hirten, weitab vom Schlachtfeld. Diese hatten sich in der Nacht zum Kampfplatz geschlichen, um die Leichname zu berauben. Als sie die reichen Gewänder deines Vaters sahen, ahnten sie, dass er eine hohe Persönlichkeit war. Sie schleppten ihn mit in ihr Lager, in der Hoffnung auf ein großes Lösegeld.

Dein Vater wurde mit Sorgfalt gepflegt. Die Wunde schloss sich, und er genas langsam. Du kannst dir das Erstaunen der Leute vorstellen, als sie aus seinem Mund hörten, dass er der König Teti sei! Auf seinen Befehl begab sich einer der Männer nach Memphis, um den Ministern zu verkünden, dass der Herrscher Ägyptens noch lebe und erwarte, mit der einem Pharao gebührenden Feierlichkeit geholt zu werden. Der Hirte, der diesen Auftrag erhielt, kehrte jedoch nicht mehr zurück. Da dein Vater befürchtete, dass er auf dem weiten Weg von einer Räuberbande angefallen worden wäre, schickte er einen zweiten Boten, dann einen dritten, doch auch diese beiden sah man nicht mehr.

Voller Unruhe beschloss König Teti nun, obwohl er noch immer sehr schwach war, mit einer kleinen Hirteneskorte sich selbst nach Memphis zu begeben. In der Hauptstadt erfuhr er sofort, dass sein Bruder die Macht an sich gerissen hatte. In dem Glauben, dass der vorige Herrscher tot sei, hatte ihn auch das Volk zum König ausgerufen. Fast alle Freunde deines Vaters und die nächsten Verwandten waren von dem Usurpator heimlich ermordet worden. Und du, mein Sohn, würdest dasselbe Schicksal erfahren haben, wenn den Usurpator nicht die Furcht vor einer Volksrebellion zurückgehalten hätte. Damals zähltest du erst zwei Jahre!«

»Weiter, weiter!« drängte Mirinri ungestüm. Er konnte sich vor Erregung kaum noch beherrschen.

»Was sollte Teti tun? Allein, ohne Heeresmacht, mit noch schwachem, gebrochenem Körper? Er versuchte in Zusammenkünften, die er heimlich einberufen ließ, die neuen Minister zu überzeugen, aber diese Elenden... Teils glaubten sie ihm nicht, teils fürchteten sie sich wohl vor dem neuen, strengen Herrscher. Darum nannten sie Teti einen Lügner, der mit dem Verstorbenen nur eine entfernte Ähnlichkeit hätte. Um ihn des Betruges zu überführen, brachten sie ihn zu der von ihm selber errichteten Pyramide und zeigten ihm dort den Sarkophag, wo angeblich die Leiche Tetis I. ruhte.«

»Wen hatte man statt seiner beigesetzt?«

»Irgendjemanden, der ihm ähnelte oder den man unkenntlich gemacht hatte. Er war mit dem Herrschergewand und mit dem Herrschersymbol bekleidet.«

»Aber erzähle mir, wie es kommt, dass ich mich seit Jahren hier in der Höhle befinde?«

»Da dein Vater befürchtete, dass Pepi dich eines Tages doch noch ebenfalls ermorden würde, ließ er dich von einigen wenigen Getreuen, die ihm geblieben und die der Usurpator verschont hatte, entführen. Diese vertrauten dich mir an und beauftragten mich mit deiner Erziehung.

Ich floh mit dir des Nachts aus Memphis, schiffte über den Nil und nahm hier Aufenthalt, wo ich in Ruhe die Zeit abwarten konnte, bis du das Alter erreichtest, welches dir nach unseren Gesetzen erlaubt, das Heft der Regierung in die Hand zu nehmen!«

Beide schwiegen. Mirinri war in tiefes Sinnen versunken. Unis beobachtete ihn, als ob er seine innersten Gedanken erraten wollte.

Plötzlich erhob sich der Jüngling. »Sage, Unis, ist mein Vater tot? Gestehe es mir!«

»Gestorben im Exil, in der Libyschen Wüste, wohin er sich geflüchtet hatte, um nicht in die Hände der von Pepi gedungenen Meuchelmörder zu fallen. Der König hatte das Todesurteil über den ›Betrüger‹ ausgesprochen.«

»Und was soll nun mit mir geschehen? Was hast du für Absichten?«

»Du sollst ihn rächen und den dir gebührenden Thron zurückerobern!«

»Allein, ohne Mittel, ohne Heer?«

»Nicht allein«, antwortete der Priester. »Freunde deines Vaters erwarten dich in Memphis, um dich als König zu begrüßen. Und was die Mittel angeht: Komm!«

»Wohin?«

»Zu den Gräbern der Quebhu, der letzten Pharaonen aus der ersten Dynastie, deren Totenstätte dein Vater in den ersten Jahren seiner Regierung entdeckt hatte. Aber keinem außer mir hat er das Geheimnis des darin versteckten Schatzes anvertraut. Dort wirst du Reichtümer finden, die genügen werden, Ägypten zu erobern.«

»Wo liegen diese Gräber?«

»Hierselbst. Folge mir!«

Der Alte nahm eine Terrakottalampe und wandte sich dem Innern der Höhle zu, wo sich eine riesige Sphinx aus rosaschimmerndem Marmor erhob.

»Hier ist der geheime Zugang«, sagte Unis. Seine Hand glitt über den Rücken der Statue und berührte eine unsichtbare Mechanik. Sofort sank das Haupt der Sphinx nach hinten und ließ eine Öffnung frei. Modergeruch stieg empor. »Warum hast du mir nie von diesem Höhleneingang gesprochen?«

»Weil ich es deinem Vater feierlich versprochen hatte, dir vor Vollendung deines neunzehnten Jahres nichts zu enthüllen! Komm nur, hier droht uns keine Gefahr. Du wirst erstaunliche Dinge sehen.«

Nachdem sie auf allen vieren durch die Öffnung gelangt waren, befanden sie sich in einem gewölbten Gang, der zu beiden Seiten von einer Unzahl bronzener und steinerner Statuetten flankiert war. Diese stellten Katzen in verschiedenen Stellungen dar. Auch einbalsamierte standen aneinandergereiht auf einem Gesims.

Indem Unis die kleine Lampe mit der Hand vor dem eindringenden Luftzug schützte, bog er in einen riesigen Saal ein, dessen Tiefe nicht zu erkennen war. An den Wänden standen roh behauene Kolossalstatuen, männliche und weibliche. Erstere mit großen, bis zu den Schultern herabhängenden Kopfbedeckungen und viereckigen Bärten, letztere mit einem an den Hüften befestigten Rock, der ihre Beine trichterförmig umwickelte. Mirinri, der bisher kaum anderes gesehen hatte als den Nil und Wüstensand, staunte über diese sonderbaren Gestalten, die in steifer Haltung dicht nebeneinander saßen. Unis dagegen beachtete sie nicht, sondern schritt unbeirrt weiter in den Hintergrund des unermesslichen Raumes, der einst von Tausenden von Arbeitern geschaffen worden war.

Jetzt blieb er vor zwei Figuren stehen, die sich durch einen merkwürdigen Glanz auszeichneten. Eine derselben stellte einen Mann dar, dessen reiches Gewand und auf der Stirn befestigtes Abzeichen auf einen Pharao schließen ließen. Die andere Figur war eine wunderschöne Frau mit schwarzen Augen und gelbgemaltem Gesicht. Das leichte Rot auf den Wangen gab ihr einen weichen, anmutigen Ausdruck. König und Königin waren aber nicht in den Sarg gelegt worden, wie es sonst Brauch war. Man hatte sie nach der Einbalsamierung aufrecht gestellt, indem man sie an einen bronzenen Stab lehnte. Beide waren mit einer dünnen Glasschicht bedeckt. Dieses durchsichtige Glas war von einer solchen Reinheit, dass es bei dem Widerschein der Lampe hell aufblitzte.

»Wer sind diese Mumien?« fragte Mirinri voll Interesse.

»Quebhu, der letzte König der ersten Dynastie, mit seiner Gattin«, antwortete Unis. »Schau her, auf diesem schwarzen Steintäfelchen steht ihr Name. Aber jetzt folge mir weiter.«

Der Saal schien kein Ende zu nehmen. Sie gingen zwischen Steinsarkophagen hindurch, deren Reliefs genau die Formen der in ihrem Innern ruhenden Toten nachahmten. Einige waren vergoldet, andere versilbert. Die Könige trugen einen geflochtenen Bart, der vom Kinn herabhing. Der Kopfschmuck der Königinnen wies gemalte Geierfedern auf. Dicke, mit gelben, grünen und lila Edelsteinen versehene Zöpfe krönten das Haupt.

Nun blieb der Priester vor einer riesigen Sphinx stehen, die einige zwanzig Meter lang und mindestens vier Meter hoch war.

»Hier ist der Schatz des Königs Quebhu versteckt!« erklärte Unis.

Er hob einen schweren, bronzenen Hammer vom Boden auf und schlug damit an einer bestimmten Stelle der Sphinx auf den Kopf. Dieser drehte sich und fiel zurück, so dass eine kreisrunde Öffnung entstand.

»Schau hinein! Siehst du das Gold dort drinnen?« Unis erhob seine Lampe. »Es sollen zwölf Millionen Münzen sein. Und in den Füßen der Sphinx sind Edelsteine verborgen, die weitere Millionen wert sind. Du siehst, dass es genügen würde, ein Heer zu bewaffnen.«

»Woher dass dieses Grab einen solchen Schatz birgt?«

»Aus einem alten Papyrus, den er in der Bibliothek der ersten Pharaonen fand.«

»Und keinem hat er dieses Geheimnis anvertraut?«

»Nur mir. Und ich habe es bewahrt, um dir einst den Schatz zu verschaffen. Wir werden jemand beauftragen, einen Teil des Reichtums nach Memphis zu überführen.«

»Wer könnte das sein?«

»Einer der deinem Vater noch immer ergebenen Freunde. Morgen sollen sie benachrichtigt werden, dass die Prophezeiung sich erfüllt hat. Der Komet ist erschienen. Du bist bereit, den Thron deiner Väter zurückzuerobern!«

»Wann werden die Freunde eintreffen?« fragte Mirinri, dessen Aufregung immer noch wuchs.

»Bald – habe Geduld. Sie kommen bei Nacht, wenn du schläfst. Es soll dich noch niemand sehen. Jetzt schwöre, dass du die hohe Aufgabe erfüllen willst, das Land von dem Usurpator zu befreien!«

»Die Beweise, dass ich wirklich ein Pharaonensohn bin, bist du mir noch schuldig geblieben!« rief der Jüngling.

»Gut. Du sollst sie haben. Kehren wir jetzt um; es ist spät, und die Memnonsäule tönt nur bei Sonnenaufgang. Wir müssen uns sofort auf den Weg dorthin machen.«

Pharaonenblut

Bevor Unis und Mirinri den Weg zur Memnonsäule antraten, schlossen sie den Eingang zu ihrer Höhle mit einer Steinplatte, damit kein wildes Tier sich einschleichen konnte. Beide hatten sich mit kurzen Bronzeschwertern bewaffnet.

Die Wüste lag vor ihnen, eine unbebaute, sandige Ebene, in der sich hier und dort Palmen erhoben. In der Ferne heulten Schakale; auch das seltsame Lachen der Hyänen war hörbar.

Weder der Priester noch Mirinri sprachen ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach. Unis hob von Zeit zu Zeit den Blick zu dem sternenklaren Himmel empor und beobachtete aufmerksam den Kometen.

So waren sie bereits mehrere Meilen gewandert. Manch wildes Tier war pfeilschnell an ihnen vorübergeschossen. Da legte Unis den Arm um die Schultern seines Zöglings und fragte: »An was denkst du, Mirinri?«

Dieser zuckte zusammen, aufgeschreckt aus Träumereien.

»An die Größe und Macht, die dich in Memphis erwarten? An Rache? Nein, weder Ehrgeiz noch Hass erfüllen deine Seele«, sprach der Alte mit Bitterkeit, »denn deine Augen haben noch kein einziges Mal den Stern verfolgt, der dein Schicksal bestimmt!«

Der Jüngling seufzte.

»Du denkst nur an das Mädchen, das du vom Tod errettet hast«, fuhr Unis fort. »Aber ich verstehe nicht, wie sie gerade jetzt, wo du vor einen großen Zukunft stehst, dir Herz und Gedanken einnehmen kann!«

»Möglich, dass ich nicht wie andere Menschen bin«, sagte Mirinri. »Ich habe doch bisher nichts kennengelernt als das Nilufer, als Palmen, Sanddünen und wilde Tiere. Außer deiner Stimme habe ich nur das Plätschern des Wassers und das Rauschen des Windes gehört. Wie konnte ich gefühllos bleiben einem menschlichen Wesen gegenüber, das weder dir noch mir glich und doch dieselbe Sprache hatte? Du hast mich bisher ferngehalten von Orten, die von Menschen bewohnt werden.« »Ich wollte dich in der Einsamkeit zu deiner hohen Aufgabe erziehen. Du solltest die Liebe noch nicht kennenlernen.«

»Was ist das, Liebe? Ich weiß nur, dass ich Tag und Nacht jene großen Augen vor mir sehe und etwas im Herzen empfinde, das ich mir nicht erklären kann.«

»Diese Empfindung kann dir verhängnisvoll werden und deinen Ruhmesweg hemmen; sie nimmt dem Krieger die Stärke und hindert die Tatkraft. Hüte dich!«

Als sie sieh umwandten und den Weg überblickten, den sie soeben durchwandert hatten, bemerkte Unis einen unheimlichen Schatten auf einem der kleinen Sandhügel.

»Ein Löwe!« rief er erschrocken.

»Der späht schon seit einiger Zeit nach uns«, sprach Mirinri mit Seelenruhe.

»Warum hast du mich nicht aufmerksam gemacht?«

»Wenn es wahr ist, dass ich Kriegerblut in mir habe, warum sollte ich besorgt sein? Mein Vater, der, wie du sagtest, einer ganzen Phalanx von Feinden entgegengetreten ist, würde auch nicht geflohen sein.«

Unis sah ihn von der Seite an, Stolz und zugleich eine gewisse Angst im Blick. »Was willst du tun, wenn er uns angreift?« fragte er.

»Mich vergewissern, ob ich wirklich Pharaonenblut habe, und dir beweisen, dass ich nicht feige geworden bin, trotz der Sehnsucht nach jenem Wesen!«

Und als ob der König der Wüste die Herausforderung verstanden hätte, öffnete er den Rachen zu einem fürchterlichen Gebrüll. Es klang wie ein rollender Donner.

Mirinri nahm das Schwert in die Rechte. Der Priester umklammerte seinen Arm, um ihn zurückzuhalten.

»Du sollst dich nicht der Gefahr aussetzen! Ich bin alt und habe keine Aufgabe mehr zu erfüllen. Greift das Untier uns an, so werde ich ihm entgegentreten. Du brauchst mir keine Probe deines Muts zu geben, denn in deinen Augen sehe ich dasselbe Feuer, das deinen Vater zu Taten zwang!«

Mirinri aber riss sich los und schritt dem Löwen entgegen, der von neuem brüllte und die Flanken mit dem Schwanz peitschte. Jetzt hielt ihn der Alte nicht mehr zurück. Der Löwe erhob sich beim Nahen der Beute aus seiner kauernden Stellung und schüttelte seine dichte Mähne. Es war ein herrliches Tier, stark gebaut und mit rötlichem Fell. Ohne sich nach Unis umzuschauen, trat Mirinri ruhig und unerschrocken der Bestie entgegen. Seine Augen hefteten sich fest auf den Gegner und beobachteten ihn.

Heulend sprang der Löwe in mächtigen Sätzen über die Sanddünen. Er umkreiste die beiden Männer in weitem Bogen, dann immer enger und enger, als ob er nur den Augenblick abwarten wollte, sich auf sie zu stürzen.

Mirinri blieb kaltblütig, beobachtend. Seine Schwertspitze blitzte im Mondschein, während Unis kniend, mit der Waffe in der Hand, den Bewegungen des wilden Tieres folgte. Auf seinem Antlitz lag tiefe Erregung.

Des Löwen Sprünge wurden immer ungestümer. Seine Kräfte schienen sich verdoppelt zu haben. Mirinri erwartete, fest wie eine Bronzestatue, den Angriff. Plötzlich schnellte die Bestie los und warf sich auf die Männer. Ihr Geheul klang wie eine Kriegsfanfare. Sie hatte sich aber nicht den Jüngling als ersten Raub auserwählt, sondern den Alten. Augenscheinlich wollte sie ihm das Rückgrat zerfleischen, doch traf ihre Tatze bei dem Sprung nur seine Schulter.

Jetzt drückte sie ihr Opfer auf den Erdboden nieder, um es hin und her zu wälzen; da fiel Mirinri mit blitzartiger Schnelligkeit über sie. Während er mit der Linken in die dichte Mähne griff, stieß er mit der andern Hand das Schwert bis zum Knauf in den Rücken des Tieres.

Doch war es noch kein vollständiger Sieg. Obgleich schwer verwundet und blutend, hatte der Löwe noch Kraft genug, um zurückzuspringen. In kauernder Stellung schien er den Angriff erneuern zu wollen.

»Sei auf der Hut, Mirinri!« schrie Unis mit angsterfüllter Stimme. Er hatte sich vom Boden erhoben.

Der Jüngling hörte ihn kaum. Mit funkelnden Blicken das Tier fixierend, schritt er mit dem blutigen Schwert darauf zu. Es schien, als ob diese Blicke den Löwen in Bann hielten, so dass er den erneuerten Ansturm nicht mehr wagte.

Mirinri stieß zu. Der Greis sah die beiden Kämpfenden wie durch einen Nebel. Dann hörte er einen Triumphschrei. Als der Schleier von des Priesters Augen fiel, erblickte er Mirinri mit erhobener Stirn. Der Jüngling hatte den Fuß auf den zuckenden Körper des Tieres gesetzt.

Unis atmete auf. Es war sein würdiger Schüler, der Sohn Tetis, der dem Lande der Pharaonen zu Ruhm und Macht verhelfen sollte!

Mirinri wandte sich zu ihm. »So werde ich einst den Usurpator töten, der meinem Vater und mir den Thron geraubt hat. Jetzt zweifle ich nicht mehr!«

»Du bist tapfer. Aber lass uns schnell weitergehen, ich will dir noch andere Beweise geben. Die Sterne erbleichen schon. Auch der Kometenschweif scheint zu erlöschen. Komm!«

Der Jüngling warf noch einen letzten Blick auf den Löwen, der keinen Laut mehr von sich gab, beobachtete einige Sekunden den Kometen und folgte dann dem Priester. Und weiter wanderten sie. Tiefes Schweigen herrschte auf dem dürren, unfruchtbaren Gelände. Die Klage des sterbenden Löwen hatte die Hyänen und Schakale verscheucht.

Endlich unterbrach der Alte die Stille: »Siehst du die Pyramide dort unten? Dein Vater hat sie erbauen lassen.«

Mirinri schaute nach Norden und gewahrte eine große, schwarze Steinmasse, die sich dort im Dämmerschein des Morgens gigantisch erhob. »Das Grabmal meiner Dynastie«, sprach der Jüngling, wie zu sich selbst, »wo wir die heilige Osirisblume finden werden!«

Noch zwei andere Steinmonumente zeichneten sich jetzt am Horizont ab. Der erste lichte Schein der Dämmerung tauchte auf.

»Sind das die Memnonsäulen?« fragte Mirinri.

»Ja. Jetzt ist die Stunde da. Beeilen wir uns! Der Stein ertönt nur im Augenblick, wo die Sonne aufgeht!«

Der Sohn der Sonne

Unis und Mirinri näherten sich rasch den beiden Kolossen. Der Himmel nahm gegen Osten schon eine leise Röte an, die auf den baldigen Sonnenaufgang hinwies.