Diese Geschichte ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Praktiken in manch anderem Unternehmen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt, aber unvermeidlich.

Vorwort

Mobbing entwickelt sich immer rasanter zur Geißel unserer gegenwärtigen Zivilisationsgesellschaft. Dieser aufgrund der großen Betroffenheit der Opfer zwangsläufig sehr emotionale Roman entstand nach zahlreichen Gesprächen mit den Leidtragenden in den verschiedensten Firmen, Behörden und Betrieben.

In allen Volksschichten und Ständen unserer Industriegesellschaft breitet sich dieses destruktive Fehlverhalten aus wie ein bösartiges Krebsgeschwür.

Unabhängige Studien (Fallanalysen) und Recherchen in diversen Regionen Deutschlands offenbaren die Zunahme dieser perfiden Art der Erniedrigung vieler Mitmenschen.

Diese geheime Volkskrankheit spielt sich in fast allen Fällen in der Anonymität ab.

Was sind die Motive dieser Mobingterrorbanden?

Welche Persönlichkeitsdefizite müssen diese Typen kaschieren?

Es ist Zeit, insbesondere desgleichen diese Form von Gewalt zu stoppen. Diesem Psychoterror Einhalt zu gebieten erfordert aber auch Zivilcourage.

Selbstkritisch müssen wir uns hinterfragen ob wir als Mitglied dieser Gesellschaft über genug Solidarität, Mut und Moral verfügen andern Beistand zu leisten.

Benno Troll erwachte mit einem Schrei und vollkommen nassgeschwitzt in seinem Bett. Schlaftrunken kämpfte er mit der Wahrnehmung. Hatte er das alles erlebt oder hatte er diese schlimme Geschichte nur geträumt?

Es muss ein Traum gewesen sein, so dachte er, denn so etwas kann man doch gar nicht erleben. Immer noch durcheinander und von großen Zweifeln befallen, verließ Benno sein völlig verschwitztes Bett und taumelte in das Bad.

Beim Vorbeigehen nahm er die Uhrzeit seines Radioweckers gar nicht richtig wahr, der in großen gelben Zahlen eine Drei und zwei Nullen zeigte. Kalt, warm, kalt, warm, so ließ sich Benno vom Duschkopf quälen. Nach zehn Minuten drückte er den Mischhebel auf „Aus“ und verließ das Bad, ohne sich abzutrocknen.

Es war ein Traum, na klar, was denn sonst. So machte er sich wieder Mut und versuchte, das Ganze zu verdrängen. Das Erkennen, dass es ein Traum war, gelang ihm nach dem ersten Schock ganz gut. Nur das Geträumte zu verarbeiten, das, ja, das war eine schwere Hypothek und würde noch eine geraume Zeit sein Innenleben belasten.

In der Nacht gelang es ihm nicht mehr, seine Augen zu schließen. Viel zu aufgekratzt waren seine Gedanken, viel zu groß die Angst vor einer Wiederholung dieses Alptraumes. Benno lebte seit zwei Jahren alleine in seiner Vierzimmerwohnung, die er vor über zehn Jahren gemeinsam mit seiner mittlerweile geschiedenen Frau Bettina erworben hatte. Sie hatte ihn verlassen, weil er keinen Tag vor neunzehn Uhr von der Arbeit nach Hause kam.

Die Trennung und die immer häufiger werdenden Alpträume ließen in Benno einen Entschluss reifen, der seinem Leben, das fast ausschließlich von Arbeit geprägt war, eine entscheidende Wende geben sollte. Denn noch einmal so einen Traum würde er nicht mehr verkraften. Zwei weitere Dreier leuchteten mittlerweile im Display des Radioweckers, während er seinem Problem auf den Grund ging. „Ich hasse ihn! Ich hasse ihn!“ Mit diesen Worten, die er lautstark herausschrie, hatte er seinen Chef Doktor Motzen eindeutig als Urheber seiner enormen Schwierigkeiten erkannt. In Bennos Augen hatte Doktor Motzen ihn in den letzten acht Jahren gemobbt, gedemütigt und keine Möglichkeit ausgelassen, ihn vor seinen Kollegen in ein schlechtes Licht zu rücken.

Benno Troll war allein, er hatte niemanden, dem er sich auf irgendeine Weise anvertrauen konnte. Welche Mittel hatte er, mit dem nicht mehr auszuhaltenden Druck umzugehen? Spontan schoss ihm ein Gedanke in den Kopf, der seinem Leben, aber auch dem seines Peinigers eine dramatische Wende geben sollte. In diesem Moment erkannte Benno Troll seine aussichtslose Situation und versuchte, aus dieser starken Umklammerung herauszukommen.

 

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Ihm waren die Hände gebunden, er hatte jetzt keine Kraft mehr in sich, um sich Erleichterung zu verschaffen. Benno Troll war jetzt soweit, seinem Leben ein Ende zu setzen. Die normalen Mechanismen, die seinem Leben immer wieder einen Grund gaben, weiter zu kämpfen, wurden zunehmend schwächer, und der tägliche Büroterror tat ein Übriges. Sein Problem war das Wie! „Wie mache ich es eigentlich“, fragte er sich fast erschrocken. Noch konnte er keine Antwort darauf geben, aber seine Gedanken sprangen wild in ihm herum und brachten einige kuriose Vorschläge zutage. Doch allein die Vorstellung, sich mit einem Strick aufzuhängen oder von einer Brücke in die Tiefe zu springen, stellte sein Vorhaben wieder zur Disposition.

„Ich bin jetzt schon zu schwach, um meinem jämmerlichen Leben ein Ende zu bereiten!“ Diese neue Erkenntnis zog ihn noch weiter in die Hoffnungslosigkeit. In dieser aussichtslosen Lage meldete sich Benno Trolls emotionale innere Stimme, die die letzten Reserven mobilisieren und seine Gedanken noch einmal in die Vergangenheit lenken konnte.

Das Sitzen auf seiner Eckbank konnte nicht verhindern, dass ihm die Augen zufielen, und so versank er langsam in eine kurze Schlafphase, in der sich die Tür zur Vergangenheit einen kleinen Spalt öffnete und Benno Erlebnisse aus einer Zeit erschienen, in der ihm das Leben noch Freude gemacht hatte und in der er für sich noch eine wundervolle Zukunft gesehen hatte.

Das Amt des Personalratsvorsitzenden hatte Benno Trolls Berufsalltag immer wieder aufs Neue belebt. In dieser Tätigkeit konnte er all seine sozialen Grundsätze zum Allgemeinwohl hervorragend einbringen. Er war bei der gesamten Belegschaft anerkannt und dieses Vertrauen war für ihn wichtiger als jede Gehaltserhöhung.

Mit großer Wehmut erinnerte er sich an seinen letzten Auftritt in dieser Stellung, die er nach einer so langen Amtszeit freiwillig aufgegeben hatte, um noch einmal in seinem alten Aufgabengebiet Fuß zu fassen. Und dabei hatte er sich doch so auf das neue, alte Aufgabengebiet gefreut. Denn sich wieder an seiner alten Wirkungsstätte einzubringen, war schließlich der Hauptgrund für ihn gewesen, seine Funktion als Personalratsvorsitzender abzulegen. Spontan erinnerte er sich an den Schluss dieser letzten Rede. Benno war ein guter Redner und brachte viel Herzblut und Leidenschaft in seinem Vortrag unter. Das Hemd nassgeschwitzt und innerlich hochzufrieden, hatte er seinen Vortrag mit den Worten beendet: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Herren der Geschäftsleitung, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.“ Tosender Beifall hatte schnell die leicht stickig riechende Werkshalle erfüllt, und mit etwas Wehmut hatte er seinen letzten öffentlichen Auftritt genossen.

 Die 18 Jahre, die er als Betriebsratsvorsitzender tätig gewesen war, hatten sein Leben doch enorm geprägt. Aber jetzt war Schluss damit, er ging wieder zurück an seine alte Stelle als Verwaltungsangestellter. Benno war ein Mensch, der aufgrund seines anerzogenen Gerechtigkeitssinnes vielen Kolleginnen und Kollegen in schwierigen Situationen zur Seite gestanden hatte und eigentlich immer helfen konnte.

Durch diese Einstellung und seine persönliche Art war er bei den meisten Mitarbeitern sehr beliebt und auch geachtet. Den Entschluss, als Vorsitzender des Betriebsrates zurückzutreten, hatte er in Übereinstimmung mit seiner Frau Bettina gefasst, die auch wieder mehr von ihrem Mann haben wollte.

Wegen der vielen Sitzungen, die oft am Abend nach der Arbeit stattfanden, war die gemeinsame Freizeit der beiden sehr eng bemessen.

Auch das jahrelange Schlichten, das Kompromisseerzielen-Müssen und das Streiten um viele belanglose Dinge hatten bei ihm eine gewisse Sättigung hervorgerufen. Mit viel Freude sah er seiner neuen Zukunft entgegen. Etwas unsicher, aber sehr optimistisch kam er am nächsten Morgen zur Arbeit und meldete sich bei seinem Vorgesetzten Herrn Stein. Er kannte Herrn Stein von seiner Tätigkeit als Betriebsrat. Stein war ein Mensch, der in der Öffentlichkeit immer etwas zurückstand und seine Fähigkeiten mehr in vertraulichen Gesprächen mit Kollegen über Dritte einbrachte. Diese Fähigkeit hatte Vorteile: Zum einen war Herr Stein immer gut informiert und zum anderen brauchte er sich bei umstrittenen Entscheidungen nie die Finger schmutzig zu machen.

Nach einer kurzen Begrüßung begleitete Stein Benno an seinen neuen Arbeitsplatz, ein schlicht eingerichtetes Büro mit nur einem Fenster und zwei Schreibtischen, und stellte ihn seinem neuen Kollegen Ossi Brück vor.

‚Das ist jetzt also meine neue Heimat’, dachte Benno und fing sogleich an, Fragen an Brück zu stellen. Das Aufgabengebiet, das er ab sofort mit ihm zu bearbeiten hatte, umfasste den organisatorischen Ablauf eines bestimmten Produktsegments. Die Aufgabenstellung war sehr umfangreich und es dauerte geraume Zeit, bis sich Benno an die komplexen Abläufe gewöhnen konnte. Durch die intensive Zusammenarbeit und seine langjährige Betriebszugehörigkeit, einige Abläufe waren Benno durchaus bekannt, erarbeiteten sich die beiden eine Selbstsicherheit, die sie auch jeden Tag brauchten, um ihren Job professionell ausüben zu können. So überstand Benno das erste halbe Jahr recht gut und freute sich auf seine Zukunft.

Die Aufmerksamkeit, die er als Vorsitzender des Betriebsrats lange genossen hatte, ließ nun langsam nach, ohne dass dies Benno groß störte.

Er war jetzt wieder ein Mitarbeiter, der pünktlich nach Hause kam, der sich um keine Probleme mehr zu kümmern hatte und der den Kopf jetzt frei hatte, um seiner neuen Aufgabe am Arbeitsplatz gerecht zu werden. Die Abende mit seiner Frau Bettina waren wieder intensiver geworden und das Privatleben hatte den gewünschten Schwerpunkt in seinem Leben bekommen. „Es war eigentlich wunderbar“, sagte er leicht verträumt zu sich, als er in der Küche vor der halbvollen Kaffeetasse saß und den lauwarmen Kaffee schnell austrank. Benno blickte auf die Bilder, die auf einem kleinen Regal standen, Bilder mit seiner Frau aus glücklichen Tagen.

 

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Auffallend war, dass er in ihren beiden Gesichtern immer ein Lächeln erkennen konnte. Die Erinnerung kehrte schnell zurück. 1 2 der Urlaub in Süditalien, in Kalabrien, wo sie beide in einer kleinen verträumten Bucht engumschlungen im Sand lagen und das Leben noch richtig genießen konnten.

Das kleine Hotel, umgeben von schönen Pinienwäldern, in denen man stundenlang Spazierengehen konnte, ohne müde zu werden. „Tja“, seufzte Benno etwas wehmütig, das war noch Leben, intensives Leben.

Auch das Bild vom Bayerischen Wald und das Bild von der Mittelmeerkreuzfahrt brachten in ihm die gleichen Gefühle hervor. Bettina, seine große Liebe, die er vor zweiundzwanzig Jahren geheiratet hatte, war seine Traumfrau gewesen, mit der er wunderbare Jahre verbringen durfte und mit der er gerne gemeinsam alt geworden wäre. Sie hatte sein Selbstwertgefühl enorm gestärkt und an ihrer Seite hatte ihn eine wohltuende Sicherheit umgeben, die er auch gerne nach außen zeigte. Der Blick, der immer noch auf die Bilder gerichtet war, verlor langsam an Schärfe und die Gedanken an die Gegenwart brachen wieder hervor. Warum war diese wunderbare Verbindung zerbrochen? Warum? Warum?

Nur langsam fand er wieder den Faden zur Vergangenheit. Er versuchte, den ersten Missklang in ihrer Beziehung zu finden, ohne einen konkreten Ansatz zu haben.

In seiner Zeit als Betriebsratsvorsitzender war er gesellschaftlich überall vertreten. Der Bekanntenkreis war sehr groß und man hatte in regelmäßigen Abständen immer Treffen mit vielen Bekannten. Das Leben hatte seine eigene Dynamik. Man wurde in der Kleinstadt gesehen und man sah auch die Gesellschaft, in der man sich mittlerweile ganz gut bewegte.

Durch den Verzicht auf die erneute Wiederwahl hatte Benno seinen gesellschaftlichen Abstieg selber eingeleitet. Was ihm zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst gewesen war, war die Tatsache, dass man in der Öffentlichkeit nicht ihn, sondern nur seine Position anerkannte. Der Titel konnte seinen Freunden helfen, ohne den Titel war er nur noch einer von vielen Sachbearbeitern eines mittelständischen Unternehmens.

Die Einladungen blieben aus, Leute, die ihn immer sehr freundlich gegrüßt hatten, schauten jetzt auf die andere Straßenseite, und allmählich erkannte Benno seine neue Situation. Er konnte damit umgehen, nur Bettina hatte damit ihre Probleme, denn im gleichen Umfang wurde aber auch die Person der ehemaligen „Frau Personalratsvorsitzender“ immer uninteressanter.

Sie arbeitete in der Stadtsparkasse als Halbtagskraft und kannte die Vorgänge in der Stadt ganz gut. Da sich immer viel Prominenz in dem Geldinstitut aufhielt, war automatisch auch der Kontakt zu den Personen vorhanden. Nachdem ihr Mann keinen Titel mehr hatte, spürte sie sehr schnell, dass auch sie vom Bürgermeister, vom Apotheker und selbst vom Herrn Pfarrer nicht mehr angesprochen wurde. Auch die oft eindeutigen Angebote des in Scheidung lebenden Schuldirektors wurden seltener.

Um es auf einen Nenner zu bringen: Das Leben von Bettina war jetzt wieder vom tristen Alltagsleben geprägt. Auch die vielen kleinen Aufmerksamkeiten, die ihr von verschiedenen Seiten erwiesen worden waren, fielen nach und nach weg.

Innerhalb nur eines Jahres verabschiedeten sich beide aus der gutbürgerlichen Oberschicht in die Bedeutungslosigkeit der Allgemeinheit.

Innerlich belastet, verschwanden Bennos Gedanken, und er kehrte wieder in die Realität zurück.

Das Nachtprogramm des Süddeutschen Rundfunks spielte gerade den Song von Udo Jürgens vom Ehrenwerten Haus, als es Benno etwas kalt wurde und er sich eine Weste aus der Garderobe holte. Beim Zuknöpfen zitterten seine Finger noch so heftig, dass er eine geraume Zeit brauchte, um alle Knöpfe zu schließen. Das anschließende Anzünden einer Zigarette gestaltete sich ähnlich schwierig und nur nach mehrmaligem Versuch brachte er sie zum Brennen.

Heftig und kurzatmig zog er drei-, viermal an dem Glimmstängel. So langsam kam bei ihm jetzt das Gefühl einer fremden Sicherheit auf, die seinen Puls wieder auf Normalmaß herunterbrachte. Erst jetzt war er in der Lage, sich einen weiteren Kaffee zu machen. Nachdem Benno den ersten Schluck getrunken hatte, schlich sich erneut ein Gefühl bei ihm ein, das sein Innenleben auf eine Art belastete, die er selbst nicht beschreiben konnte. Es kam lautlos herangeschwebt wie eine dicke Nebelwand, nahm ihm fast den ganzen Atem und brachte auch seinem Körper eine Schwere bei, die er bis dahin nicht kannte. In dieser Phase kam bei Benno sehr schnell eine Panik auf, mit der er nicht umgehen konnte und die er nur durch Schmerzen, die er sich selbst zugefügt hatte, und durch lautes, fast hysterisches Schreien beenden konnte. In diesem Zustand, der früher nur gelegentlich auftrat, befand er sich jetzt wieder.

Die Kraft, die er brauchte, um dagegen anzukämpfen, war eigentlich nicht mehr vorhanden, da er in der letzten Zeit sehr viel davon bereits verbraucht hatte. In sich gekauert lag er auf der Eckbank, krümmte sich und versuchte dieses Gefühl wieder loszuwerden. So lautlos und schnell, wie es gekommen war und den Besitz über Ben-nos Psyche übernommen hatte, so beharrlich und quälend belagerte es jetzt sein Innenleben.

Hilflos war er der Situation ausgeliefert. Laufend traten schlechte Erinnerungen in seine Gedanken, die wie Meereswellen in unregelmäßigen Abständen sein Seelenleben bis aufs letzte reizten. Kurz gesagt:

Die ganze Welt war gegen Benno Troll. Nach gefühlten zehn Minuten ließ diese Schockwelle etwas nach und er konnte sich ganz langsam wieder normalisieren. Seine Gedanken schweiften in dieser Phase wieder in die Vergangenheit ab. Bettina, ja, Bettina, warum ging es mit uns beiden auseinander?

Diese Frage belastete Benno noch immer sehr. Das Schlimme an der Frage war, das Benno es bis zum heutigen Tag gar nicht richtig begriffen hatte.

Er konnte den langsamen Verlauf des Auseinanderlebens nicht erkennen, da er sich mit so viel anderen Dingen befassen musste. In erster Linie war da sein Arbeitsplatz mit der neuen Aufgabe. Die Aufgaben waren sehr interessant und der Umfang seiner Tätigkeit passte sich dem hohen Niveau an. Er arbeitete sehr genau und gewissenhaft. Angriffspunkte an seinem Job waren zur Genüge vorhanden. Benno war in seinem Bereich für alles zuständig. Vom Materialeinkauf bis zur Maschineneinteilung, vom Kundenkontakt bis zum Versand der fertigen Güter.

Zum Beispiel müsste er immer genügend Material bevorraten lassen, wurde aber auch für den zu hohen Materialbestand zur Verantwortung gezogen. Diese tägliche Herausforderung belastete ihn enorm.

Zudem änderte sich auch der Umgangston. War in der Zeit seiner Betriebsratstätigkeit nie ein lautes Wort zwischen ihm und Doktor Motzen gefallen, so änderte sich dieser Zustand jetzt sehr schnell. Die Achtung, die beide über ein Jahrzehnt vor dem anderen entwickelt hatten, ließ von Seiten des Herrn Doktor Motzen in kürzester Zeit spürbar nach.

Die Gespräche am Telefon, die Benno jetzt über sich ergehen lassen musste, waren meist unsachlich, aggressiv und sehr laut. Kleinigkeiten, die eigentlich kaum der Rede wert gewesen wären, wurden hochgespielt und auch Dritten gegenüber ins Gespräch gebracht.

Auch hörte Benno von anderen Kollegen, das man ihn in verschiedenen Gesprächsrunden mehrmals negativ erwähnte. In diesen Diskussionen wurde er immer mehr für Dinge verantwortlich gemacht, die er eigentlich gar nicht zu verantworten hatte.

Weil diese Gespräche stets ohne ihn stattfanden, gab es für Benno keine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Die Zuhörer waren Abteilungsleiter und auch Personen der Meisterebene. Da in dem Unternehmen nur die Stimme von Doktor Motzen zählte, war klar, dass aus diesem Kreis keine Entlastung für Benno zu erwarten war. Im Gegenteil, war einem der mittleren Führungskräfte ein Fehler unterlaufen, so bemühten sie sich, ihn Herrn Troll zuzuschreiben. Da dies niemand hinterfragte und Benno gar nicht wusste, das hinter seinem Rücken eine weitere Verleumdung abgelaufen war, wurde alles für bare Münze genommen.

Überhaupt gab es bei Diskussionsrunden mit Doktor Motzen nie eine Stimme, die in irgendeiner Weise eine Kritik an seiner Person oder an dem, was er gerade gesprochen hatte, einbrachte. Alle Anwesenden waren sehr bemüht, ihrem Chef zu huldigen, und übertrafen sich gegenseitig, ihm zu imponieren.

Aus dieser Situation wieder herauszukommen, war eigentlich gar nicht möglich. Innerhalb eines knappen Jahres war aus Benno Troll ein Sachbearbeiter geworden, der bei seiner täglichen Arbeit immer nur dem Gegenwind seines schlechten Images begegnete.

 

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Durch seine engagierte Betriebsratsarbeit hatte Benno oft Verstöße der Vorgesetzten gegenüber ihren Mitarbeitern auf seine Weise aufgeklärt und den Betroffenen meistens helfen können. Auch bei Einschnitten seitens der Firma gegenüber den Mitarbeitern hatte Benno mit großem Engagement gekämpft, um das Ganze in Grenzen zu halten.

Sein Problem war, das die Meisterebene und die Geschäftsleitung seine Arbeit als Betriebsratsvorsitzender nicht von seiner neuen Tätigkeit trennen konnten und ihm jetzt übel mitspielten. Saß er vor einem Jahr bei der Weihnachtsfeier noch als gefragter Gesprächspartner am Tisch der Geschäftsleitung, so war es diesmal ganz anders. Etwas abseits und weit weg vom Tisch der gehobenen Führungsschicht teilte sich Benno einen Tisch mit Kollegen, die ebenfalls keine große Lobby hatten.

Selbst seine früheren Betriebsratskollegen vermieden es, sich mit Benno zu unterhalten. An erster Stelle stand da der Kollege Peter Trom, den Benno als seinen Nachfolger herangezogen hatte. Der neue Betriebsratsvorsitzende Trom war kein Kind von Traurigkeit. In seiner Zeit als normaler Arbeiter war er mehrmals abgemahnt und sogar zur Entlassung vorgeschlagen worden.

Nur durch ein überzeugendes Auftreten von Benno hatte man den Kollegen Trom in der Firma halten können. War es Benno in erster Linie um seine Kollegen gegangen, so sah Black, wie Trom sich selber nannte, sein Amt ganz anders.

Zuerst kam er, und wenn dann noch etwas übrigblieb, kamen seine zu betreuenden Mitarbeiter zum Zug. Black und Doktor Motzen verstanden sich ausgezeichnet.

Beide waren sogenannte Alphatiere, jeder auf seine Weise, und da jeder nur auf seinen Vorteil achtete, stand einer erfolgreichen Zusammenarbeit nichts mehr im Wege. Doktor Motzen konnte seine Forderungen jetzt viel einfacher durchsetzen.

In der Regel sah es so aus, dass Erleichterungen und gewisse Privilegien langsam abgebaut wurden.

Das Interesse von Black lag mehr bei seiner Person, und so ließ er sich die Einschnitte, die seine Kollegen jetzt schlucken mussten, gutschreiben.

Obwohl er aus einfachen Verhältnissen stammte und auch keine abgeschlossene Berufsausbildung hatte, bekam er eine Tätigkeit im mittleren Management. Finanziell stufte man ihn so ein, das auch in der Zukunft kein großer Widerstand von ihm zu erwarten war. Durch die Einschnitte, die jetzt nach und nach eingeführt wurden, gab es einige kritische Stimmen, die aber keine große Tragweite hatten und auch schnell wieder verstummten, da man den Kollegen ganz klar zu verstehen gab, das sich die Situation jetzt doch etwas geändert hatte.

Benno litt am meisten unter den Ungerechtigkeiten, die ihm und seinen Kollegen zugemutet wurden.

Er hatte keine Möglichkeiten mehr, sich dagegen-zu stemmen. Dieses Nichts-dagegen-tun-Können belastete sein Innenleben sehr. Benno hätte es sich nie vorstellen können, einmal in so eine hilflose Situation zu geraten. Aber so ist das Leben.

Die Geschäftsleitung und der Betriebsrat beschlossen gemeinsam, dass jeder Mitarbeiter in der Woche drei Stunden mehr arbeiten musste, ohne Lohnausgleich.

Auf Grund der schlechten wirtschaftlichen Gesamtsituation willigte ein großer Teil der Belegschaft ein, den Mehraufwand ohne Bezahlung zu leisten.

Die Kollegen, die diese Vereinbarung nicht unterschrieben, wurden dann mit der berühmten Salamitaktik bearbeitet. Durch Androhung diverser Aktionen gewann man weitere Mitarbeiter, die sich denen anschlossen, die bereits in der ersten Runde ihr Ja gegeben hatten. Benno gehörte zu den wenigen Mitarbeitern, die sich den mittlerweile massiven Androhungen noch nicht gebeugt hatten. Zugegeben, mit der starren Haltung verbesserte Benno seine ohnehin schlechte Situation nicht unbedingt. Da aber er und die anderen sich ungerecht behandelt fühlten, blieb es bis auf weiteres dabei, das die knapp hundert Kollegen keine unentgeltliche Mehrarbeit leisteten. Benno schwenkte wieder in die Realität zurück, er verspürte einen leichten Druck in seiner Blase, die sich durch das Trinken von mehreren Tassen Kaffee mittlerweile gefüllt hatte. Beim Aufstehen knickte er um, da sein Fuß durch das lange Kauern eingeschlafen war und er kein Gefühl mehr spürte. Am Boden sitzend, kam durch extremes Kribbeln wieder die Wahrnehmung seines Fußes zurück.

Er stand auf und lief leicht unrund zur Toilette, um den inneren Druck, der sich jetzt noch verstärkt hatte, zu entladen. Nachdem er auf der Brille Platz genommen hatte, seine Exfrau Bettina hatte ihm das Sitzen darauf durch oftmalige Ansprache regelrecht angeordnet, verspürte er zumindest jetzt ein Gefühl der Befreiung.

Er genoss die Situation und wünschte sich, das dieser Zustand noch lange anhalten möge.

Doch durch das Drücken der Spülung beendete er seinen nächtlichen Toilettenaufenthalt. Aus dem Badschrank holte er sich jetzt noch zwei Schlaftabletten, die ihm endlich einen ruhigen Schlaf garantieren sollten. Drei Uhr vierundfünfzig stand auf dem Radiowecker, als Benno allmählich seine Augen wieder schließen konnte.

Er glitt wieder ganz langsam in seine Traumwelt ein. Gedanklich befasste er sich mit positiven Erinnerungen, was auf sein Gemüt auch eine gewisse Leichtigkeit übertrug. Benno gelang es eigentlich immer ganz gut, mit positiven Erlebnissen die Ruhephase zu beginnen.

Er schweifte mit seinen Emotionen und seiner angeregten Phantasie sehr weit in die Vergangenheit zurück und konnte sich auch noch an viele Details aus seiner Kindheit erinnern.

Diese Schlafphase brachte Benno am meisten Entspannung und Seelenfrieden. Doch wie auch in den vorangegangenen Nächten ereilte ihn wieder und wieder diese lautlose, beklemmende, nebelartige Verschleierung, die ihm immer die Luft zum Atmen nahm und in seinem Körper einen Adrenalinausstoß einleitete. In Bruchteilen von Sekunden war er wieder wach, hellwach, und er hatte auch das beklemmende Gefühl dieser großen Hilflosigkeit sofort wieder in sich.

Ja, der Stachel saß tief. Er musste weinen, er zitterte, er verlor seine eigene Achtung sich selbst gegenüber und versank erneut in einen fast lähmenden und kraftlosen Zustand, in dem er mittlerweile nur noch sinnierte.

Seine Gedanken, die er jetzt nicht mehr lenken konnte, ergriffen ihn mit einer Normalität, die ihm keinen Unterschied mehr anzeigte, ob er schlief oder ob er sich in der Realität befand. Und der Zustand und diese Ohnmacht brachten ihn immer mehr zur Verzweiflung und trieben ihn auch fast zum Wahnsinn.

Da stand er wieder groß vor ihm. Doktor Motzen, in seiner Oberlehrerstellung, sein lichtes Haar etwas durcheinander und immer seinen Zeigefinger hebend vor Benno.

„Herr Troll“, so sprach er Benno mit lauten Worten im Kreise einer größeren Gruppe an. „Sie haben im Vergleich zu Ihren Kollegen einen viel zu hohen Lagerbestand beim Rohmaterial. Ich erwarte bis vierzehn Uhr Ihre Stellungnahme.“ Benno und seinen Kollegen war klar, dass man den Lagerbestand keinem einzelnen Bearbeiter zuschreiben konnte, weil das EDV-System es nicht unterscheiden konnte.

Genau diesen Grund nannte Benno etwas später per E-Mail seinem Chef.

Doktor Motzen las die Antwort, griff zum Telefonhörer, wählte Bennos Nummer und attackierte ihn mit einem lauten

„Das ist eine große Frechheit, so eine Ausrede, das ist das allerletzte.“ Etwas kleinlaut erwiderte Herr Troll, das das keine Ausrede sei und er die Zahlen, die er von ihm bekommen habe, wohl nicht nachvollziehen könne. Den Satz konnte er gerade noch aussprechen, als Doktor Motzen ihn in seiner unnachahmlichen Art zurechtstutzte und auch sofort den Hörer auflegte. Benno war sich keiner Schuld bewusst. Nach dem Gespräch zitterten seine Hände noch eine ganze Weile.

Benno ging der Sache auf den Grund. Am selben Abend blieb er über drei Stunden länger in seinem Büro und erarbeitete sich in vielen kleinen Vorgängen den Materialbestand, der für seinen Bereich tatsächlich aufgelaufen war.

Sehr übermüdet, aber innerlich positiv gestimmt, verglich er seinen Bestand mit dem der anderen. Und siehe da, Bennos Anteil lag bei genau fünfundzwanzig Prozent, und das bei drei Kollegen. Eigentlich hatte er den geringsten Wert, und das beflügelte ihn, trotz der mittlerweile vierzehn Stunden, die er an diesem Tag im Büro verbracht hatte. Auf dem Heimweg dachte er im Auto an den Tag zurück und entschloss sich, am nächsten Morgen diese neue Erkenntnis seinem Chef mitzuteilen.

 

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