Ödön von Horváth: Ein Dorf ohne Männer

 

 

Ödön von Horváth

Ein Dorf ohne Männer

Lustspiel in sieben Bildern

 

 

 

Ödön von Horváth: Ein Dorf ohne Männer. Lustspiel in sieben Bildern

 

Vollständige Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Daniel Ridgway Knight, Drei Frauen in einer Landschaft, 1881

 

ISBN 978-3-8430-6075-2

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-7792-7 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-7627-2 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Uraufführung: 24. September 1937, Neues Deutsches Theater, Prag.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Personen

 

Matthias Corvinus, König von Ungarn

Der Graf von Hermannstadt

Der Statthalter

Der Hofbeamte

Der Hauptmann

Der Bader

Thomas, der Wirt vom ›Einhorn‹

Ein Dicker

Ein Dürrer

Ein Bärtiger

Ein Lakai

Der Hofwirt

Zwei Gardisten

Zwei Herren

Ein Page

Die Blonde

Die Schwarze

Die Rote

Eine Badmagd

Die Polin

Herren

Gardisten

Häßliche und schöne Frauen

 

Zeit: Während der Türkenkriege, in der frühen Renaissance.

 

Dieses Stück ist keine Dramatisierung des Romans »Die Frauen von Selischtje« von Koloman Mikszáth, dem großen ungarischen Romancier, sondern es stellt nur den Versuch dar, auf Grund einzelner Motive jenes Romans ein Lustspiel zu schreiben. Die Personen im Stück haben mit jenen im Roman nichts zu tun.

 

Erstes Bild

Saal in der Ofner Burg mit hohen gotischen Fenstern im Hintergrund, durch die man ins weite Ungarland hinabsehen kann. Hier empfängt der Statthalter alle heilige Zeit Deputationen des sogenannten niederen Volkes, hier hört er dessen große Sorgen und kleine Bitten. Der Raum hat eine gewisse Verwandtschaft mit einem Gerichtssaal – links eine thronähnliche Estrade, auf der der Statthalter mit seinen Herren zu ruhen pflegt, daneben ein Pult für den Schreiber. Rechts und links je eine Türe, rechts tritt das Volk ein, links gehts in die Gemächer des Statthalters. Vor den beiden Türen steht je ein Gardist mit Visier, Brustpanzer und Hellebarde auf Wache.

Ein Hauptmann der Garde kommt von links und inspiziert den Ersten Gardisten bei der linken Türe. Er betrachtet ihn von oben bis unten, vorn und hinten.

 

HAUPTMANN. Ein Visier gehört poliert, bitt ich mir aus! Er geht auf den Zweiten Gardisten zu, betrachtet ihn ebenso intensiv und herrscht ihn plötzlich an. Was ist denn das mit dieser Hellebarde? Die ist ja voll Schmutz!

ZWEITER. Melde gehorsamst, das ist kein Schmutz, das ist nur Blut.

HAUPTMANN perplex. Wieso Blut?

ZWEITER. Melde gehorsamst, ich hab heut früh einen Bauern angestochen.

HAUPTMANN. Wegen was?

ZWEITER. Wegen nichts.

 

Stille.

 

HAUPTMANN. Was soll das?

ZWEITER. Melde gehorsamst, der Bauer, den ich angestochen habe, der hat den Herrn Statthalter beleidigt.

HAUPTMANN. Und das ist nichts? Er fixiert ihn.

 

Stille.

 

HAUPTMANN langsam, fast lauernd. Übrigens: der Säbel ist auch zu kurz –

ZWEITER. Melde gehorsamst, das sieht nur so aus, weil ich zu lang bin.

HAUPTMANN. »Zu lang« – Er grinst. Um einen ganzen Kopf – Paß auf!

HOFBEAMTER kommt von rechts; er sieht etwas mitgenommen aus; zum Hauptmann. Wann gehts denn los?

HAUPTMANN. Seine Exzellenz, der Herr Statthalter, geruhen noch zu essen.

HOFBEAMTER murmelt. Der frißt schon seit fünf Stunden – ist er wenigstens bereits beim Dessert?

HAUPTMANN lächelt. Vor paar Minuten war er noch bei der Gans.

HOFBEAMTER. Erst bei der Gans? Er seufzt und hält sich sein Taschentuch an die Stirne.

HAUPTMANN. Kopfschmerzen?

HOFBEAMTER. Kein Wunder! Da draußen hocken hundert Bauern seit sieben geschlagenen Stunden, alle warten auf die Audienz und alle duften nach Knoblauch, daß es ein wahres Vergnügen ist – wer hält das aus? Ich nicht! Leise, damit ihn die Gardisten nicht hören. Wenn diese braven Bauern wüßten, wie wenig Sinn es hat, ihre Beschwerden hier vorzubringen –

HAUPTMANN fällt ihm leise ins Wort. Die würden schön daheim bleiben – Er lächelt.

HOFBEAMTER. Ja. Sie würden daheim bleiben und alles anzünden.

HAUPTMANN zuckt etwas zusammen, und horcht auf; sieht sich dann um, sehr leise. Sag mal, unsereins kommt ja hier nicht heraus: ist es wahr, daß das Volk murrt?

HOFBEAMTER nickt ja. Es murrt.

 

Stille.

 

HAUPTMANN sieht sich wieder um; noch leiser. Tatsächlich?

HOFBEAMTER. Ja, und zwar gefährlich tatsächlich.

HAUPTMANN. Aber warum denn nur?

HOFBEAMTER. Warum? Gott, seid ihr Militärs naiv! Denk doch nur an die vielen Kriege, die wir alle gewonnen haben! Wir haben die Türken besiegt – stimmt! Aber für jeden Eimer Türkenblut ist auch ein Eimer ungarisches geflossen. Wir haben die Ungläubigen zurückgeschlagen und Europa gerettet, doch unser halbes Land ist verwüstet und ausgestorben.

HAUPTMANN. Jaja, wir haben viel Ehre geerntet.

HOFBEAMTER. Ohne Zweifel. Aber leider kein Brot. Unsere Bauern hungern. Wenn die wüßten, daß Seine Exzellenz noch nicht einmal beim Dessert sind – na gute Nacht! Das Volk, kann ich dir verraten, traut den hohen Herren nicht mehr, und es ist unser Glück, daß wir gerade jetzt einen neuen König bekommen haben –

HAUPTMANN. Wieso?

HOFBEAMTER. Weil das Volk diesen neuen König liebt.

HAUPTMANN. Also der hat doch bisher noch gar keinen richtigen Krieg geführt!

HOFBEAMTER. Das spielt anscheinend keine Rolle. Das Volk hat eben einen sonderbaren Instinkt, es liebt ihn wirklich, unseren jungen Herrn Matthias Corvinus – und warum? Weil er mit besonderer Vorliebe seine eigenen Minister einsperrt. Er wird bereits »der Gerechte« genannt, »Matthias der Gerechte« – Er lächelt. Tja, um vom Volk geliebt zu werden, muß man mit dessen Phantasie kalkulieren –

EIN PAGE tritt links ein. Seine Exzellenz der Herr Statthalter!

 

Der Statthalter, ein dicker Magnat, kommt geräuschvoll von links mit seinen Herren, darunter dem jungen Grafen von Hermannstadt, der ganz in Schwarz gekleidet ist; auch der Schreiber betritt den Saal, begibt sich sogleich an das Pult, schlägt das Audienzbuch auf und prüft die Feder; der Hauptmann salutiert und der Hofbeamte verbeugt sich.

 

STATTHALTER zu seinen Herren. Also, meine Herren: noch einmal ein solches Dessert und ich dank ab! Das sollen Zwetschkenknödel gewesen sein?! Das waren keine Knödel, das waren alte Kanonenkugeln – aus dieser Mehlspeisköchin gehört ein Gulasch gemacht, ein Gulasch für wütende Hunde! Er lacht.

 

Alle, außer dem Grafen von Hermannstadt, lachen mit, mehr minder heftig.

 

STATTHALTER lacht plötzlich nicht mehr und beobachtet den Grafen. Du lachst schon wieder nicht mit? Was fehlt dir denn? Haben dir etwa die Knödel geschmeckt?

GRAF. Nein.

STATTHALTER. Na also!

 

Alle, außer dem Statthalter und dem Grafen, lachen wieder.

Graf lächelt wehmütig,

 

STATTHALTER fixiert besorgt den Grafen. Wie der lächelt – als wär ihm seine große Liebe gestorben oder gar sein bestes Pferd.

EIN HERR. Er ist nur nervös.

STATTHALTER. Ist er krank?

ZWEITER HERR. Er hat heut Nacht tausend Taler verspielt.

STATTHALTER. Uiweh!

GRAF. Es dreht sich nicht um die tausend Taler, ich spiel ja nicht, um zu gewinnen – aber ich habe eben zuvor schlimme Botschaft erhalten: die Erträgnisse meiner Güter im fernen Siebenbürgen werden immer minimaler, wenn das so weitergeht, werd ich bald arbeiten müssen – Er lächelt selbstironisch.

STATTHALTER versteht keine Selbstironie. Schlimm, schlimm! Aber arbeiten müssen wir alle – schau mich an, lieber Vetter! Anstatt, daß ich mich nach dem Essen ein bisserl hinlegen könnt, muß ich da Audienzen abhalten, Bittsteller trösten, Bauernsorgen teilen und was weiß ich noch –

ERSTER HERR sarkastisch. Seine Majestät haben es eben so befohlen –

STATTHALTER grimmig. Jawohl, Seine Majestät – Unterdrückt zu den Herren. Der junge Herr scheint ein Idealist werden zu wollen, er kümmert sich ein bisserl zu viel um unsere Leibeigenen. Die Gerechtigkeit ist zwar eine schöne Sache, eine gute Sache, aber wer die Macht hat, der braucht sie nicht. Wir werdens diesem Herrn Corvinus schon austreiben – Er setzt sich schwerfällig und ächzt. Puh, tut mir der Magen weh – Also herein mit dem Bauernpack! Bin grad in der richtigen Stimmung! Zum Hofbeamten. Wieviel hocken denn draußen?

HOFBEAMTER. Zirka hundert.

STATTHALTER. Großer Gott!

HOFBEAMTER. Manche warten schon seit Wochen –

STATTHALTER unterbricht ihn scharf. Ich habe nicht gefragt, wie lange sie warten, ich habe gefragt, wieviele warten! Wir bitten, unsere Fragen präziser zu beantworten! Also los, los! Herein mit dem hochgeborenen Volk!

 

Hofbeamter öffnet rechts die Türe, und fünf Frauen treten schüchtern ein; es sind dies fünf Bäuerinnen und weißgott nicht hübsch; sie knien nieder.

 

STATTHALTER betrachtet die Frauen ungnädig ob ihrer Häßlichkeit; zum Hofbeamten. Was ist das?

HOFBEAMTER. Es sind Frauen aus dem Dorfe Selischtje.

 

Graf horcht auf.

 

STATTHALTER zum Hofbeamten. Frag, was sie uns mitgebracht haben!

HOFBEAMTER zu den Frauen. Seine Exzellenz, der Herr Statthalter geruht, Euch gnädigst zu fragen, was Ihr seiner Exzellenz mitgebracht habt?

 

Die Frauen tauschen ängstliche Blicke.

 

Was, Ihr habt nichts mitgebracht?! Ja, wißt Ihr es denn nicht, daß Bittsteller immer etwas mitbringen müssen, irgendein Geschenk? Eine riesige Melone oder eine uralte Münze, die man beim Ackern findet, oder ein Lamm mit zwei Köpfen – Ihr gefallt mir!

STATTHALTER murmelt. »Gefallen«? Gott soll einen hüten!

HOFBEAMTER zu den Frauen. Beispiellos, daß Ihr hier ohne irgendetwas einzutreten wagt, ohne irgendein gefälliges Nichts! Die Frauen weinen.

STATTHALTER. Weinen auch noch! Er faßt sich an den Magen. Ich halt das nicht aus! Zum Hofbeamten. Raus! Raus damit!

HOFBEAMTER zu den Frauen. Raus!

GRAF. Halt! Zum Statthalter. Gnädigster Herr Vetter, diese Weiber kommen doch aus Selischtje?

STATTHALTER. Was weiß ich!

HOFBEAMTER zum Grafen. Sie kommen aus Selischtje.

GRAF zum Hofbeamten. Richtig! Zum Statthalter. Dann gehören nämlich diese Frauen mir.

STATTHALTER perplex. Dir?

GRAF. Das Dorf Selischtje gehört zu meinem Siebenbürger Besitz.

STATTHALTER. Ah so! Na, wenn mein lieber Herr Vetter lauter solche Leibeigene hat, dann kann ichs begreifen, daß er seinen Besitz verspielt – Er grinst. Gratuliere zu deinen Schönheiten! Zum Hofbeamten. Frag, was sie wollen, dann aber raus damit!

GRAF ernst. Danke.

HOFBEAMTER zu den Frauen. Weint nicht! Ruhe! Habt Ihrs denn nicht gehört?! Seine Exzellenz geruhen sich ja herbeizulassen, Euch zu fragen, was Ihr wollt – Na los! Redet! Wo brennts denn?!

 

Die Frauen reden ängstlich mit dem Hofbeamten.

 

STATTHALTER blickt plötzlich ängstlich um sich. Ist Darmverschlingung eigentlich heilbar?

ZWEITER HERR. Leider! Kaum!

STATTHALTER melancholisch. Mir scheint, ich leb nimmer lang –

ERSTER HERR. Aber!

STATTHALTER. Weils in mir immer so murrt –

HAUPTMANN zuckt etwas zusammen und horcht auf. Murrt?

STATTHALTER. Ja, tatsächlich, und zwar gefährlich tatsächlich.

HOFBEAMTER tritt vor den Statthalter.