Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany

© Martin R. Textor, 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. 2021

Umschlagfoto: © Tatyana Gladskih – Fotolia.com

ISBN 978-3-8448-4298-2

Inhalt

Vorwort

Seit Ende der 1990er Jahre wird die Bildungsfunktion von Kindertageseinrichtungen intensiv diskutiert – allerdings unter negativen Vorzeichen: Zum einen beklagten Wissenschaftler/innen, dass Kleinkinder in Kindergärten zu wenig „gebildet“ würden. Das Buch von Elschenbroich (2001) über das, was Siebenjährige an Weltwissen haben sollten, wurde sogar zu einem Bestseller – und verdeutlichte der Öffentlichkeit, wie wenig davon Kinder in Kitas lernen. Hirnforscher/innen betonten wie Psycholog/innen die große Bedeutung der frühen Kindheit für die spätere Entwicklung und den Schulerfolg. Auch wurden große Qualitätsunterschiede zwischen einzelnen Kindertagesstätten konstatiert. Beispielsweise erbrachte die „Nationale Untersuchung zur Bildung, Betreuung und Erziehung in der frühen Kindheit“ (NUBBEK), bei der 1.242 Zweijährige und 714 Vierjährige in Kindergarten-, Krippen- und weit altersgemischten Gruppen, in Kindertagespflege und in ausschließlicher Familienbetreuung untersucht wurden, folgendes Ergebnis: „Jeweils über 80 Prozent der außerfamiliären Betreuungsformen liegen ... in der Zone mittlerer Qualität (Werte zwischen 3 und 5). Gute pädagogische Prozessqualität kommt dabei in jedem der Betreuungssettings in weniger als 10 Prozent der Fälle vor; unzureichende Qualität dagegen – mit Ausnahme der Tagespflege – in zum Teil deutlich mehr als 10 Prozent der Fälle (...). In der auf die Bildungsbereiche Literalität, Mathematik, Naturwissenschaft und interkulturelles Lernen bezogenen KES-E kommen über 50 Prozent der untersuchten Kindergarten- und altersgemischten Gruppen in den Bereich unzureichender Qualität zu liegen“ (Tietze et al. 2012, S. 8). So wurden Qualitätssicherungsverfahren gefordert, durch die eine gleichmäßig gute Bildung in allen Kindertageseinrichtungen und damit die Chancengleichheit der Kinder beim Schuleintritt sichergestellt werden sollten.

Zum anderen forderten nach der Veröffentlichung von PISA-, IGLU-, TIMMS- und ähnlichen Studien immer mehr Politiker/innen eine Intensivierung der Bildungsarbeit in Kindertageseinrichtungen, damit die „Bildungskatastrophe“ bewältigt werden könne. Außerdem müssten Kitas noch neue, zusätzliche Aufgaben wie z.B. die Durchführung von Sprachlernprogrammen für ausländische Kleinkinder übernehmen und die mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung intensivieren. Inzwischen haben die Bundesländer Bildungspläne und -programme verabschiedet, in denen genau festgelegt wird, welche Kompetenzen in Kindertageseinrichtungen gefördert und welche Bildungsbereiche abgedeckt werden sollen.

Im ersten Teil des vorliegenden Buches werden aktuelle Erkenntnisse von Hirnforscher/innen und Psycholog/innen präsentiert, aus denen dann Konsequenzen für die frühkindliche Bildungsarbeit in Kitas abgeleitet werden.

Im zweiten Teil wird der Begriff „Bildung“ umrissen. Ferner werden drei Formen der frühkindlichen Bildung beschrieben. Dann wird auf die Bedeutung von Beobachtung und Bildungsplanung eingegangen. Auf der Grundlage von vier empirischen Studien werden anschließend Charakteristika einer effektiven Bildungsarbeit dargestellt.

Im dritten Teil des Buches wird am Beispiel der Förderung der kognitiven Entwicklung die Umsetzung des Bildungsauftrags von Kindergärten konkretisiert. Es wird beschrieben, wie Erzieher/innen1 relevante Kompetenzen stärken können.

Im Schlusswort wird dann die Bedeutung einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung betont, durch die z.B. auch die „interpersonale“ und die „intrapsychische“ Intelligenz, das Gefühlsleben, die Persönlichkeit und das Wertesystem eines Kindes beeinflusst werden.

Viele Kapitel dieses Buches können einzeln gelesen werden, da sie in sich geschlossen sind. Diese Möglichkeit bedingt aber auch, dass Leser/innen mit einigen Wiederholungen konfrontiert werden, wenn sie das Buch von vorne bis hinten lesen. Das kann aber nur den Lernerfolg verstärken...


1 Der Begriff „Erzieher/innen“ wird in diesem Buch stellvertretend für alle Beschäftigen in Kindertageseinrichtungen verwendet, also auch für Sozialpädagog/innen, Kinderpfleger/innen, Sozialassistent/innen, Praktikant/innen usw.

Die frühkindliche Entwicklung aus Sicht von
Hirnforschung und Psychologie

In den letzten Jahren hat die Hirnforschung große Fortschritte gemacht und eine Unmenge neuer Erkenntnisse über das Gehirn, seine Struktur und die in ihm ablaufenden Prozesse gesammelt. Auch gelingt es ihr, die Gehirnentwicklung immer besser zu verstehen.

Diese Forschungsergebnisse sind auch für Erzieher/innen von großer Bedeutung, da sie ihnen helfen, Lern- und Bildungsprozesse besser zu verstehen und effektiver zu gestalten. So sollen in diesem Kapitel relevante Erkenntnisse der Hirnforschung zusammengefasst und Implikationen für die frühkindliche Bildung herausgearbeitet werden.

Das Gehirn

Das Gehirn hat ein mittleres Gewicht von 1.245 g bei Frauen und von 1.375 g bei Männern. Den meisten Platz nimmt das Großhirn ein, das aus zwei Hälften (Hemisphären) besteht, die durch den Balken miteinander verbunden sind. In der linken Hirnhälfte sind z.B. Sprache, Denkprozesse, Mathematik und Musik verankert, in der rechten Hemisphäre visuell-räumliche Wahrnehmung, Gefühle, Kreativität, Fantasie und Körperkoordination. Männer mögen wohl mehr Gehirnmasse haben, nutzen aber verstärkt nur die linke Gehirnhälfte – Frauen setzen hingegen beide Hemisphären gleichmäßiger ein.

Das Großhirn wird in mehrere Hirnlappen (Lobi) unterteilt:

Prinzipiell werden in den Hirnlappen primäre und sekundäre Assoziationsareale unterschieden. Von den primären Arealen gehen direkte Nervenverbindungen zu den Sinnesorganen. Die sekundären Assoziationsareale sind über Parallelfasern untereinander verknüpft und speichern das unbewusst oder bewusst erlernte Wissen. An einem Gedächtnisprozess sind zumeist mehrere Gehirnareale beteiligt.

Der nach dem Großhirn zweitgrößte Bereich des Gehirns ist das Kleinhirn, das ebenfalls aus zwei Hemisphären besteht. Es steuert unbewusst die Muskulatur und hält den Körper im Gleichgewicht. Ferner bekommt es über die Brücke willkürliche Bewegungsimpulse aus dem Großhirn und koordiniert die jeweiligen Bewegungen. Außerdem hat das Kleinhirn die Aufgabe, automatisierte Bewegungsabläufe wie z.B. Tanzschritte zu speichern.

Das Zwischenhirn umfasst unter anderem den Thalamus und den Hypothalamus. Der Thalamus empfängt zunächst die Wahrnehmungen der Sinnesorgane sowie Empfindungen aus dem Körper. Es erfolgt dann eine primitive Informationsverarbeitung, wobei der Thalamus als Filter fungiert und z.B. anhand von Situationen wie Schlaf oder Nahrungszunahme entscheidet, welche Informationen an das Großhirn weitergeleitet werden sollen. Deshalb wird er oft als „Tor zum Bewusstsein“ bezeichnet. Zugleich wird das Großhirn vor Überlastung geschützt. Der Hypothalamus ist das wichtigste Steuerzentrum des vegetativen Nervensystems. Er kontrolliert lebenswichtige Funktionen wie Körpertemperatur, Blutdruck, Nahrungs- und Wasseraufnahme, Schlaf und Geschlechtstrieb. Der Hypothalamus steht in direktem Kontakt mit der Hypophyse und ist ein Bindeglied zwischen dem Hormon- und dem Nervensystem.

Der Hirnstamm bzw. das Stammhirn ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Bereich unseres Gehirns. Der Hirnstamm umfasst das Mittelhirn, die bereits erwähnte Brücke und das verlängerte Rückenmark (Nachhirn). Das Mittelhirn ist eine Umschaltstelle, die Nervenerregungen über das Zwischenhirn an das Großhirn weiterleitet oder auf motorische Nervenzellen umlenkt. Ferner steuert es die meisten Gesichts- und Augenmuskeln. Die Brücke ist ebenfalls eine Umschaltstation, insbesondere für Erregungen, die zwischen den beiden Hälften des Großhirns bzw. des Kleinhirns verlaufen. Das verlängerte Mark steuert grundlegende und überlebenswichtige Funktionen wie Herzfrequenz, Atmung und Blutkreislauf. Außerdem werden hier Reflexe wie Saugen, Schlucken, Niesen, Husten und Erbrechen kontrolliert.

Die neuronale Struktur

Das Gehirn besteht aus rund 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die über 100 Billionen Synapsen (Kontaktstellen) mit anderen Neuronen kommunizieren. Somit ist eine Nervenzelle im Durchschnitt mit 1.000 anderen Neuronen verbunden. Dazu hat jede Nervenzelle ein Axon, das zwischen Bruchteilen eines Millimeters und mehr als einem Meter lang sein kann, und Dendriten, die sie mit vielen anderen Neuronen verbinden. Die Länge aller Nervenbahnen des Gehirns eines erwachsenen Menschen beträgt etwa 5,8 Millionen Kilometer, was dem 145-fachen Erdumfang entspricht.

Während ein Neuron seinen Input über die Dendriten erhält, leitet es nach Verarbeitung desselben seinen Output über das Axon weiter. Innerhalb der Nervenzelle geschieht dies durch elektrische Signale. Zwischen den Neuronen erfolgt die Kommunikation hingegen durch den Austausch von Neurotransmittern, d.h. von komplexen Aminosäuren wie Serotin, GABA, Dopamin, Adrenalin usw. Diese werden am Ende eines Axons – also an einer seiner vielen Synapsen – freigesetzt, überqueren den synaptischen Spalt und werden dann von den Rezeptoren der Synapse eines Dendrits aufgenommen und wieder in einen elektrischen Impuls umgewandelt. Sobald der Neurotransmitter seine Aufgabe erledigt hat, sorgen Enzyme im synaptischen Spalt für die Trennung von Transmitter und Rezeptor. Eher selten werden zwischen den Synapsen auch Ionen ausgetauscht, also elektrisch positiv bzw. negativ geladene Atome oder Moleküle. Die meisten elektrischen Signale laufen somit innerhalb der Neuronen ab. Dazu produziert das Gehirn jederzeit rund 20 Watt an Elektrizität.

Neuronen machen aber nur die Hälfte der Masse des Gehirns aus. Die andere Hälfte umfasst die kleineren Gliazellen – ihre Zahl ist etwa zehnmal höher als die der Nervenzellen. Als „spinnenähnliche“ Astrozyten (unter Umständen mit Zehntausenden von Verbindungen zu Neuronen und anderen Gliazellen) bilden sie ein Stützgerüst für die Neuronen und sind am Stoff- und Flüssigkeitstransport im Gehirn beteiligt. Als Mikroglia bilden sie die Immunzellen des Nervensystems. Und als Oligodendrozyten und Schwann-Zellen umhüllen Gliazellen die Axone segmentweise mit einer Myelinschicht, wobei kleine Bereiche, sogenannte Ranviersche Schnürringe, zwischen jeweils zwei Segmenten unbedeckt bleiben. Diese Myelinschicht sorgt für die elektrische Isolation der Nervenzellen.

Nach neuesten Erkenntnissen sind Gliazellen auch an der Informationsverarbeitung, am Lernen und an höheren Denkprozessen beteiligt. Sie kommunizieren miteinander und mit den Nervenzellen, reagieren aber genauso auf deren elektrische Aktivität. Ferner beeinflussen Gliazellen die Signalübertragung an den Synapsen (und kontrollieren vielleicht sogar deren Stärke), indem sie einen Teil der Neurotransmitter aufnehmen, diese verarbeiten und dann eigene Transmitter an die Synapsen abgeben. Im Gegensatz zu Neuronen variiert aber die Stärke ihrer auf der Ausschüttung von Kalzium beruhenden Signale, die zudem langsamer sind. Eventuell sind Gliazellen auch an der Ausbildung von Synapsen beteiligt.

Was im Gehirn passiert

In jedem Augenblick strömt eine Unmenge an Eindrücken und Wahrnehmungen aus dem Körper und über die Sinne zum Gehirn. Die Impulse werden in viele kleine Einzelteile zerlegt, die in spezialisierten Teilregionen des Gehirns verarbeitet werden – den bereits erwähnten primären Assoziationsarealen. Die von dort ausgehenden „Botschaften“ werden in größeren Bereichen des Gehirns interpretiert und miteinander verknüpft, also in den sekundären Assoziationsarealen. An dieser Weiterverarbeitung sind vielfach auch Gedächtnisprozesse beteiligt: Erkennen ist vor allem Wiedererkennen von Gleichem und Ähnlichem. Ferner werden mit Hilfe des Gedächtnisses unvollständige Eindrücke ergänzt. Schließlich müssen Körper und/oder Geist reagieren, Veränderungen vornehmen, Handlungen planen und durchführen.

Insbesondere an hoch komplexen Abläufen sind somit viele Bereiche des Gehirns beteiligt. Wer z.B. eine Rechenaufgabe löst, muss die Zahlen oder den Text wahrnehmen und verstehen, muss sich an ähnliche Aufgaben und erprobte Lösungswege erinnern, muss nachdenken, ausprobieren und schließlich Arm und Hand beim Niederschreiben der Antwort lenken.

Natürlich können nicht alle Eindrücke und Wahrnehmungen, Lernerfahrungen und Informationen im Gehirn gespeichert werden. Vielmehr wird ausgewählt: Das Gehirn ignoriert bereits Bekanntes, unterscheidet Wichtiges von Unwichtigem, bildet Kategorien, Muster und Hierarchien, ordnet Ereignisse in sinnvollen Sequenzen, stellt Beziehungen zu anderen Daten her, fügt neu Gelerntes in bereits abgespeichertes Wissen ein. Eindrücke und Informationen werden leichter behalten, wenn sie mit Emotionen verknüpft sind, wenn sie neuartig, ungewöhnlich und besonders interessant wirken, wenn sie leicht in die vorhandenen Gedächtnisinhalte integriert werden können und wenn ein Lebens- bzw. Alltagsbezug gegeben ist. Sind Informationen, Lernprozesse, Erinnerungen emotional bedeutsam, reizvoll und spannend, werden Botenstoffe wie Dopamin und Acetylcholin ausgeschüttet, verstärken die Aufmerksamkeit und intensivieren die Gedächtnisleistung. In all diesen Fällen wird die dem Gehirn inhärente „Faulheit“ – das Bestreben, aufgrund des generell hohen Bedarfs (s.u.) Energie zu sparen – überwunden.

Emotional bedeutsames Wissen wird (bei Rechtshändern) in der rechten Gehirnhälfte, neutrales Fakten- und Weltwissen in der linken Hemisphäre gespeichert. Schlafen und Träumen helfen, Gedächtnisinhalte zu festigen – so wiederholt und verarbeitet das Gehirn in den REM-Phasen äußerst aktiv Eindrücke des Tages. Babys, Ein- und Zweijährige müssen auch während des Tages einmal oder öfters schlafen, da sie – vielleicht auch wegen der intensiven Aktivität in ihrem Gehirn (s.u.) – leicht ermüden. Sogar jeder fünfte Fünfjährige benötigt eigentlich noch ein „Nickerchen“ um die Mittagszeit herum, ansonsten reagiert er am Nachmittag oft schläfrig, weinerlich oder gereizt. Auch seine kognitive Leistung lässt dann nach.

Im Gehirn schlagen sich Denken und Lernen auf verschiedene Weise nieder: Bei jeder Interaktion zwischen (Klein-) Kind und Umwelt reagieren zunächst Tausende von Gehirnzellen. Bestehende Verbindungen zwischen ihnen werden intensiviert, neue ausgebildet. Treten nun wiederholt ähnliche Eindrücke, Wahrnehmungen und Erfahrungen auf, schleifen sich bestimmte Bahnen ein. Das heißt, ähnliche Signale folgen immer häufiger demselben Weg, der durch bestimmte, bei wiederholter Stimulierung stärker werdende chemische Signale in den Synapsen zwischen den Neuronen markiert wird. Haben diese Signale eine von Gehirnregion zu Gehirnregion unterschiedlich große Stärke erreicht, wird diese Bahn auf Dauer (bis in das Erwachsenenalter hinein) beibehalten.

Die zuvor benutzten Verbindungen – und die an ihnen beteiligten Neuronen – verlieren an Bedeutung; viele der kaum oder überhaupt nicht benutzten Nervenzellen werden abgebaut. Die entlang der sich einschleifenden Bahnen liegenden Neuronen werden hingegen immer größer, d.h., sie bilden weitere Dendriten aus, die zudem länger werden und zu mehr Nervenzellen führen. Aufgrund dieser Prozesse reagieren Neuronen immer schneller, effizienter und besser.

Zugleich wird das Gehirn auf eine bestimmte Weise organisiert – je nachdem, für welche Arten von Lernprozessen Neuronen und Nervenbahnen besonders oft aktiviert werden. Die Veränderungen in seiner Struktur können sogar stark ausgeprägt sein, wenn bestimmte Lernerfahrungen sehr häufig gemacht werden: Beispielsweise ist bei Taxifahrern die Gehirnregion für das Ortsgedächtnis größer, wird bei tauben Menschen ein Bereich im Gehirn für die Gebärdensprache abgegrenzt. Bei kleineren Kindern ist die Gehirnstruktur noch so prägbar, dass sogar der Verlust einer Hemisphäre ausgeglichen werden kann.

Entwicklung des Gehirns

In der dritten Woche nach der Empfängnis faltet sich die dünne Zellschicht des Ektoderms einwärts zu einem flüssigkeitsgefüllten Zylinder, dem so genannten Neuralrohr, und verschließt diesen etwas später. Aus dem Neuralrohr entstehen das Gehirn und das Rückenmark. In ihm wandern die in einem rasanten Tempo entstehenden Nervenzellen zu ihrem jeweiligen Bestimmungsort, wobei sie sich an radial ausgerichteten Gliazellen orientieren. An ihrem Bestimmungsort stellen sie sich dann in Reihen und Schichten auf. So entstehen in der 4. bis 6. Lebenswoche Verdickungen, die drei Hirnbläschen, aus denen sich die Gehirnabschnitte entwickeln. Zugleich verteilen sich Neuronen längs des Neuralrohrs, verästeln sich im übrigen Embryo und bilden so langsam das zentrale Nervensystem aus. In der 10. Woche sieht das Gehirn ähnlich wie eine zusammengekrümmte Eidechse aus; das Rückenmark ist bereits gut ausgebildet.

In den kommenden Lebenswochen werden weiterhin neue Neuronen – etwa 250.000 pro Minute – in der Mitte des Gehirns produziert und wandern von dort zu ihrem Bestimmungsort. Eine Unmenge von Nervenzellen wird aber auch wieder abgebaut. Bis zur 15. Lebenswoche bilden sich Klein- und Mittelhirn sowie der Balken aus. Die beiden Großhirnhälften wachsen rasant (vor allem nach hinten), verdicken sich nach außen und bilden die ersten Furchen aus. Haben die meisten Nervenzellen ihre endgültige Position erreicht, sind alle wichtigen Gehirnstrukturen ausgebildet. Erst dann bilden die Neuronen Axone und Dendriten aus, wobei an der Entstehung der Synapsen Gliazellen beteiligt sind. Eine weitere wichtige Entwicklung im frühkindlichen Gehirnwachstum ist die Ausbildung der Myelinscheide, welche die Axone isoliert. Dieser Prozess setzt im Gehirn erst kurz vor der Geburt ein und reicht bis in das zweite Lebensjahr.

Schon im Mutterleib nimmt das Gehirn Informationen auf und verarbeitet diese. Beispielsweise reagiert der Fötus ab der 19. Woche auf Schmerz; ein Schmerzbewusstsein tritt rudimentär aber erst nach der 28. Woche auf. Der Fötus kann ab der 26. Woche hören, ab der 29. Woche schmecken und ab der 32. Woche sehen; dann können auch Schlafphasen inklusive REM-Schlaf beobachtet werden. Um diese Zeit herum bildet sich eine Art Kurzzeitgedächtnis aus, in dem z.B. wiederkehrende, zunächst erschreckende Töne abgespeichert werden. Dann scheint es auch schon ein rudimentäres Bewusstsein zu geben. Ab der 35. Woche nimmt der Fötus die Stimme und Sprache seiner Eltern wahr – dies könnte das spätere Erlernen der Muttersprache beeinflussen.