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Das Buch

Edna lebt zurückgezogen in einem alten Landhaus im Süden von Paris und teilt die Einsamkeit mit ihrem Nachbarn, einem geheimnisvollen, kauzigen Mann namens Thierry. Eines Tages steht Paul, ein zwölfjähriger Junge, unvermittelt in ihrem Garten und lässt nicht mehr von ihr ab. Er behauptet, in Edna seine Mutter gefunden zu haben und verbreitet das Gerücht unter den Leuten im Dorf, wo er sich als Dieb herumtreibt.

Edna weiß sich kaum noch zu helfen. In ihrem schwierigen Nachbarn findet sie keinen Vertrauten, zumal ihr Haus und auch das von Thierry vom Abriss bedroht sind, da in der Einöde ein Freizeitpark geplant ist. Die Dinge scheinen sich zum Guten zu wenden, als sich Edna in Philipe verliebt, einen der Architekten dieser Anlage. Doch schon bald wird ihre Hoffnung durch Philipes spurloses Verschwinden zerstört.

Hat Paul etwas damit zu tun? Hat Thierry die Hände im Spiel? Bei ihren Nachforschungen stößt Edna auf ein dunkles Geheimnis, das Thierry auf schicksalshafte Weise mit den Bewohnern unten im Dorf verbindet. Ihr bleibt nicht viel Zeit, den Dingen nachzugehen, denn Thierry verfolgt einen unheimlichen Plan…

Die Autorin

Patricia Holland Moritz wurde im damaligen Karl-Marx-Stadt geboren. Sie arbeitete in Leipzig als Buchhändlerin, in Paris als Speditionskauffrau, studierte in Berlin Nordamerikanistik, arbeitete dort später als Tourneeveranstalterin und ging dann für ein Verlagshaus nach München. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie auf dem Land bei Berlin und ist beruflich nach wie vor in der Verlagsbranche tätig. Sie ist Autorin der Kolumne »The Spirit of Kasimir« und veröffentlichte bisher vor allem Kurzgeschichten in Anthologien in Buch- und Zeitschriftenverlagen sowie im Internet.

Für »Zweisiedler« erhielt sie das Arbeitsstipendium für Berliner Autorinnen und Autoren. Sie ist Co-Autorin der Autobiographie des Leipziger Pfarrers Christian Führer »Und wir sind dabei gewesen« (Ullstein 2009). »Zweisiedler« ist ihr erster Roman.

Weitere Informationen zur Autorin unter:

www.patriciahollandmoritz.wordpress.com

Dieses Buch widme ich meiner Mutter, Elke Olivier.
(1943–2010)

Alles wirkliche Leben ist Begegnung.

Martin Buber

Rotznäsig feixt du mich an. Zeigst mir deine Zahnlücken, als wärest du stolz auf sie. Lachst schließlich los, als präge sich deine Stimme in eben diesem Moment, laut, lauter, am lautesten, dass ich an mir herunterblicke und denke, du lachst mich aus. Für wen hältst du dich eigentlich?

Der Junge war zwölf, Edna hätte seine Mutter sein können. Zum ersten Mal sah sie ihn im Tierheim. Die Urlaubssaison stand bevor. Menschen entledigten sich ihrer Haustiere. Der Junge bohrte in der Nase und beobachtete das Treiben. Er fuhr damit fort, als Edna ihn minutenlang herausfordernd anstarrte. Weder Missbilligung noch Gefallen an der Geschäftigkeit in dem kahlen Vorraum des Heimes mit seinen schäbigen Holztüren, die in unbekannte Räumlichkeiten führten, konnte sie in seinem Blick erkennen. Edna wartete seit einer Stunde. Schließlich war es soweit. Sie entschied sich zwischen zwei Katzen für die dickere und phlegmatischere. Den Zettel mit einem Stempel und dem Durchschlag ihrer Unterschrift steckte Edna in die Hosentasche.

An den Jungen dachte sie nicht mehr.

Der Weg nach Pesiotte betrug fünfzehn Kilometer. Edna liebte diesen Landstrich und das Schloss, einige der Menschen, die hier lebten und den Himmel, der vormittags von Millet und nachmittags von Rousseau gemalt schien. Ein breiter Streifen des Waldes von Fontainebleau trennte Edna noch von ihrem Haus. Um nicht durch das Unterholz stolpern zu müssen, lief sie die nach Paris führende Fernverkehrsstraße entlang. Es dauerte nicht lange, und sie sah in der Ferne das Blinken der ganzjährigen Weihnachtsbeleuchtung des »Camion«. Die Kneipe ähnelte einem überdimensionalen LKW. Gäste stiegen über einige Stufen ins Fahrerhaus und von da hinab in die Gaststube, die vor allem von Fernfahrern als letzte oder erste Station nach oder vor Paris frequentiert wurde. Gilles, der Wirt, würde sich über ihren Besuch freuen.

»Tiere hier drin verboten.« Gilles brüllte so laut, dass Edna beinah die Stufen in den Gastraum hinunter stürzte. Sich im letzten Moment am Geländer festhaltend, packte sie die Katze und drückte sie fest an die Brust. Mit einem jämmerlichen Ton krallte die sich in Ednas Pullover.

Gilles kam hinter dem Tresen hervor und klopfte sich lachend auf die Oberschenkel. »Ednieedna, wer redet denn von dir? Die Jungs da drüben sollen ihre Läuse gefälligst in ihren LKWs lassen, ansonsten sehe ich hier keine Tiere. Oder siehst du welche?« Vorsichtig zupfte er die Katze am Ohr. »Ja … wen haben wir denn da?«

Erleichtert setzte Edna die Katze auf den Boden. Sie selbst ließ sich auf einem Barhocker nieder, stemmte die Hände zur Entspannung in die Hüfte und stöhnte. »Hab ich aus dem Tierheim mitgebracht.«

»Willste einen Zoo aufmachen?« Gilles amüsierte sich in Anspielung auf Ednas Hunde.

»Nee, aber einer muss doch die Überreste menschlicher Tierliebe dort wieder abholen.« Ednas Augen glänzten, als sie sich suchend im Raum umsah.

»Schön haste das gesagt, Mädel.« Gilles schnurrte wie Ednas Katze. »Willste einen Ricard?«

Edna strich sich verstört ein paar schweißnasse Locken aus der Stirn. »Das war mein Plan.« Ihre Augen suchten den Boden um die Tische herum ab.

»Hier kommt nichts weg. Auch keine Katze.«

Gilles griff zum Telefon, das hinter dem Tresen klingelte. Geduldig bereitete er einen Ricard mit Eis, während er den Hörer zwischen Kopf und Schulter klemmte.

Er war einige Jahre älter als Edna, ein groß gewachsener Mann, ein Hüne, mit zwei dicken geflochtenen Zöpfen. Hinter seinem breiten Rücken, und nur da, nannte man ihn auch gern «Obelix«. Seine braunen Augen passten zu den etwa elf Paar braunen Lederhosen, die er abwechselnd trug. Edna liebte diesen Indianer und seinen derben Humor. Nur die dunkel behaarten Finger mit ihren peinlich manikürten Nägeln wirkten etwas irritierend. Gilles war ein lauter Mann, der ständig Belgierwitze erzählte, und er war trockener Alkoholiker. Nicht mehr hören konnte sie seinen Witz »Ich habe heute schon ein Bier … schinkenbrötchen gegessen.« Er war gutmütig und gerecht, schlichtete im Camion und vor der Tür manchen Streit, mal mit dem Kopf, mal mit der Faust. Er war über die Jahre zu Ednas Vertrautem geworden, ihrem einzigen Freund.

Gilles knallte den Hörer auf die Gabel, und Edna schaute sich noch immer im von Rauch vernebelten Raum um.

»Na, alles im Lot?« Gilles stellte ein Glas auf den Tresen.

»Mein Fahrrad haben sie vor ein paar Tagen geklaut.« Edna fühlte sich klein. »Auf dem Markt. Hab’ bis zum frühen Abend gewartet bis alle Verkaufsstände auf dem Marktplatz wieder zu Holzgerippen und der Platz menschenleer geworden waren. Umsonst.«

»Dann kauf dir ein neues.«

Edna verdrehte die Augen, biss sich auf die Lippen und fühlte sich verpflichtet, ihm zu erklären, sie besäße für den Kauf eines neuen Fahrrades zwar das Geld, aber in Pesiotte gäbe es schließlich keinen Fahrradhändler, und um sich in Paris eins zu kaufen, würde sie einhundert Kilometer weit laufen müssen. Sie wollte Gilles’ belehrenden Worten unbedingt zuvorkommen.

»Ich weiß, dass es auch hier einen Bahnhof gibt, von dem aus Züge nach Paris fahren. Aber wann die Züge fahren, das weiß ich nicht, das interessiert mich nicht, Santé!«

»So was nenne ich weltfremd, aber dafür liebe ich die Kleine.« Diese Worte raunte Gilles einem Mann zu, der neben ihr am Tresen saß und Ednas Schilderung ebenso interessiert wie Gilles lauschte.

Der Mann prostete Edna schüchtern zu. »Santé.«

Gilles’ mächtige Faust hieb auf den Tresen. »Na eben! Soll ich euch mal miteinander bekannt machen?«

Wieder verdrehte Edna die Augen. Gilles war nicht nur ihr treuster Freund, sondern ihr einziger. Recht ungehobelt war er, ihr aber mit seinem Camion zur Insel geworden. Dass er sie allerdings, seitdem sie sich kannten, mit jedem verfügbaren Mann verkuppeln wollte, störte sie jedes Mal.

»Monsieur Carpe, der Mann ohne Vornamen, Edna, die Frau ohne Nachnamen. Na, wenn das keine Chance auf eine explosive Mischung hat…«

Der Mann und Edna nickten sich zaghaft zu, wie zwei Kandidaten, die versehentlich nicht in der Lottoshow, sondern in der Single-sucht-Single-Sendung gelandet waren.

Carpe wirkte eingeschüchtert. »Sie leben hier?«

Das fehlte Edna gerade noch, und entsprechend wirkte ihr Gesichtsausdruck auf den Fremden. »Entschuldigen Sie!« Er tat, als sei Gilles gar nicht mehr anwesend. »Ich bin hier eher zufällig rein geraten, aber der Barkeeper scheint es als Teil seines Geschäftes zu sehen, jedem Gast sofort das Gefühl zu geben, einer seiner Stammgäste zu sein.«

»Nun ja…« Edna nuschelte mit einem Eiswürfel im Mund. »Da gibt es ja zum Glück Schlimmeres, oder?«

Der Mann verstand, dass das Gespräch für Edna beendet war, zahlte schnell und verschwand.

Gilles schaute ihm nach, einen Fünfzigfrancschein in der Hand. »Komisch, diese Deppen aus der Stadt.« Er klang, als würde er mit sich selbst sprechen. Dann wandte er sich wieder Edna zu. »Hat sich nach deinem Haus erkundigt.«

»Waas?« Der Eiswürfel, oder was davon übrig war, fiel aus Ednas Mund zurück ins Glas. »Er kennt mich doch gar nicht!«

Gilles wurde ernst. »Er hat sich auch nicht nach dir erkundigt, sondern nach deinem Haus.«

Auf dem Nachhauseweg wurden Edna und die Katze vom Regen überrascht. Edna eilte ihrem Haus wie einer rettenden Oase entgegen. Gilles’ Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Warum ließ er sich auf Carpe ein, wenn er doch wusste, dass da etwas nicht stimmen konnte? Ihre Schritte wurden schneller und die Katze in ihrem Arm ließ das Holpern über ihren Körper ergehen und schloss erneut die Augen.

Das Gartentor fiel hinter Edna ins Schloss. Zum ersten Mal verriegelte Edna die Eingangstür des Hauses, als sie im kühlen Flur angekommen war. Es duftete nach den Lavendelpflanzen, die am Ende des Flurs im Fenster blühten, das den Blick auf den angrenzenden Acker freigab. Über dem Fenster hing ein Bild des portugiesischen Malers Souza-Pinto. Der Großvater hatte das Bild »eines der beiden Originale« genannt, was Edna damals nicht verstand, und als sie es verstand, interessierte sie sich nicht mehr für die Geschichten hinter dem Bild. In einem der zahllosen Kataloge aus ihren Bücherregalen war zu lesen, dass das Original im Musée d’Orsay in Paris ausgestellt war. Wie dem auch sei, der Maler schien das Bild an diesem Fenster gemalt zu haben. Das Ackerbraun unter grauem Himmel auf dem Bild und draußen waren Eins.

Edna setzte die Katze auf dem Steinfußboden ab und lief zum Fenster. Als sie die schweren Pflanztöpfe vom Fensterbrett nahm, spürte sie aufkommende Angst. Sie schloss das Fenster, und der Regen peitschte gegen die Scheibe. Atemlos lehnte sie an der tiefblauen Wand. Im Haus war es dunkel. Edna vernahm das Kratzen der Katze an der Eingangstür. Sie öffnete die Tür, das Tier wand sich durch den offenen Spalt und entschwand ins Freie. Edna verriegelte die Tür erneut und zündete den Kamin an. Bald füllte wohltuender Duft von Holz das große Zimmer, an dessen Wänden weitere Bildern hingen, Gemälde von Impressionisten und den Malern des Rokoko.

»Deine Großmutter liebte die Malerei der alten unwiederbringlichen Welt, wie sie sie nannte.« Edna hörte die Worte ihres Großvaters, während sie als kleines Mädchen mit großen Augen vor den Bildern stand. »Ich konnte deiner Großmutter keine schöneren Geschenke machen.«

Wer bringt uns schon irgendeine Welt zurück, dachte Edna in Erinnerung an seine Worte, aber die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

»Aber die Bilder sind doch so berühmt? Wie konntest du sie ihr schenken?«, hörte sie sich den Großvater fragen.

»Indem ich sie vorher gemalt habe.«

Das Knistern des Holzes verschmolz mit dem Prasseln des Regens an den Fensterscheiben. Warmes Licht durchflutete das Haus, und Edna fand ihre beiden Hunde im Schlafzimmer auf dem Bett. Einer war zwei, der andere sechs Jahre alt, beides Mischlinge aus ihr unbekannten Rassen. Hutchence und Miller. Auf der Deckenlampe thronte ein Nymphensittich.

Miller, ihr Liebling und ältere der beiden Hunde, stammte ebenfalls aus dem Tierheim. Der andere war ihr zugelaufen, so wie der Sittich ihr zugeflogen war, und alle drei hätten sich seitdem nicht mehr zu einer Rückkehr, wohin auch immer, bewegen lassen. Die Hunde bellten schon lange nicht mehr, wenn Edna den Garten, das Haus betrat. Der Nymphensittich gewöhnte sich sein Ohren betäubendes Schreien an dem Tag ab, an dem ihn die Hunde dafür einmal fast zu Tode jagten.

Am Fenster des Schlafzimmers hockte die Katze und blickte argwöhnisch ins Zimmer.

»So Jungs. Das ist Mathilde.«

Hutchence lag schläfrig auf dem Bett und hob nur kurz den Kopf, als er Ednas Fingerzeig zum Fenster folgte. Miller knurrte und setzte zum Sprung an, ließ sich dann aber zurück ins Kissen fallen. Geräuschlos hoben sich seine Lippen und legten einen Gartenzaun an spitzen Zähnen frei. Die Katze sprang vom Fensterbrett in den Regen in ein angrenzendes Nelkenbeet und legte sich dort hinein. Dabei zerdrückte sie unzählige der kleinen Blumen unter ihrem Körper.

Nun sprang Miller doch vom Bett und lief unruhig wie ein Tiger im Käfig vor dem Fenster hin und her. Sein bellender Schrei erschreckte Edna. »Miller! Ruhe verdammt!« Der Hund sprang zurück auf das Bett. Die Augen auf das Fenster gerichtet, blieb er neben Hutchence liegen.

Edna schenkte sich ein Glas Rotwein ein und nahm einen großen Schluck. Entspannt saß sie am Küchentisch und erwiderte lachend den fragenden Blick des Nymphensittichs. »Schau mich nicht an wie ein Moralapostel, alter Federsack!«

Sie fühlte sich wieder wohl beim Gedanken an Gilles. An Carpe dachte sie nicht mehr. Mit dem Glas in der Hand ging Edna zur Staffelei neben dem Kamin. Das Kaminfeuer beleuchtete eine anthrazitfarbene Leinwand. Über dem Kamin hing statt eines Spiegels ein Gemälde von Watteau…

»Wie heißt der Mann auf dem Bild?« Edna war in dem Alter, in dem alles, was sie seit ihrer Geburt umgab, aus dem Rahmen des Gewohnten heraus trat und zur größten Entdeckung ihres bisherigen Lebens wurde. Der wortkarge Großvater war ihr Lehrer.

Der Mann auf dem Bild war ein Knabe, sein kleiner Kopf schien vor den Proportionen des Körpers zurück zu treten. Traurig blickte er mit hängenden Armen am Maler vorbei auf den Boden. Das Kostüm schien ihm weder zu gehören noch zu gefallen. »Er heißt Gilles.«

»Wie unser Gilles? Aber die sehen sich gar nicht ähnlich.«

»Der hier ist ja auch zehnmal so alt.«

Edna erinnerte sich an die Worte ihres Großvaters und sah sich ihm mit geweiteten Augen lauschen. Glaubte sie damals doch jedes einzelne Wort, glücklich darüber, dass er mehr als zwei Sätze in einem Stück zu ihr sagte.

»Der Louvre hat es mir geschenkt! Ja!« Der Großvater sprach mit Nachdruck. Dabei zweifelte Edna doch gar nicht. »Geschenkt. Immerhin habe ich dort als Museumswächter mein mageres Hotelgehalt aufgebessert.« Mit seinen rauen Fingerkuppen strich er über das Bild und lachte schallend, als ihn die Erinnerung an sein Hotel einholte, von dem er wie von seinem Eigentum sprach. »Mein prächtiges Lutetia.«

Es befand sich im Herzen von Paris, in Saint-Germaindes-Prés, dem Künstlerviertel der zwanziger und dreißiger Jahre, war Heim von zahlreichen Malern, Dichtern und Schriftstellern wie Picasso, Matisse und André Gide. Die Namen klangen wir Zauberformeln in Ednas Ohren. Sie wusste nichts mit ihnen anzufangen. Doch allein der Ausbruch von Leben in der sonst so konservierten Freundlichkeit ihres Großvaters ließ sie die Bedeutung dieser Namen erahnen. Sie alle wussten die Gastfreundschaft und den Luxus des Lutetia zu schätzen.

»Auf ihrer Rückreise aus dem Fernen Osten zog eine Entdeckerin dort ein. Alexandra David-Neel. Die Sängerin Joséphine Baker mit ihrer Kinderschar. Und General Charles de Gaulle während seiner Flitterwochen. Naja, einige von denen vor meiner Zeit. Aber genau dort habe ich gearbeitet und die lebenden und toten Geister der Besucher dieses Schmuckkastens behütet. So wie die Bilder im Louvre, mein Kind.« Ihr Großvater war für Edna der größte und interessanteste Mann der Welt, war Vater und Märchengestalt in einem. »Ich bin ein geborener Wächter! In meiner Zeit im Louvre ist kein einziges Bild auch nur von fremdem Hauch berührt worden!« Zum Dank für seine Zuverlässigkeit habe er den Watteau mitnehmen dürfen. Als er an seinem letzten Tag den Louvre mit dem eingewickelten Bild unterm Arm verließ, hätten die Menschen nicht schlecht gestaunt… »Und ob das die Wahrheit ist!«

Stand Edna ganz nah an dem Bild und berührte ihre Nasenspitze beinah die Leinwand, kamen ihr die Pinselstriche wie die Furchen des Ackers vor. Musik drang aus dem Radio in der Küche an ihr Ohr. Edna tänzelte im Salsaschritt durch das Zimmer und ließ das Bild nicht aus den Augen.

»Ja! Mein Mädchen!«, hörte sie eine vertraute Stimme und spürte Gilles’ Atem an ihrem Ohr, während sie in Gedanken zum Klang der Jukebox eine Runde durch den leeren Camion drehten. »Quiere ir a bailar?« Sie öffnete die Augen und stand allein im Zimmer, das Rotweinglas fest mit den Fingern umspannt.

Ednas Haus barg eine Mischung aus Bildern und Trockenblumen, fadenscheinigen Stoffteppichen und Steinfußböden, verstaubten Büchern mit goldenen Buchrücken, Groschenromanen, Engeln aus Gips, Plüschbären mit Glasaugen und Pflanzen in Tontöpfen. Ihr Blick fiel wieder auf die Leinwand, die auf der Staffelei neben dem Kamin stand. Ein mit wenigen Pinselstrichen gemaltes Augenpaar starrte Edna an. Ihr Weinglas zerbrach beim Aufprall auf den Boden.

Das Stück Land, auf dem Ednas Haus stand, grenzte auf der einen Seite an einen Kartoffelacker, auf der anderen an das verwilderte Stück Land eines kauzigen Mannes namens Thierry. Edna schätzte sein Alter auf etwa fünfundsiebzig Jahre, und sie sah ihn nie in einer anderen als seiner abgeschabten rostbraunen Cordhose, zu der er jahrelang dasselbe grellgrüne Hemd trug, das in jedem Jahr etwas mehr über seinem Buckel spannte. Sein Haar war schneeweiß und von einer Fülle, die den alten Mann wie den Zauberer eines mittelalterlichen Jahrmarktes aussehen ließ. Thierry schien Edna nicht wahrzunehmen und sprach kein Wort mit ihr, als betrachtete er sie als Fremde. Doch er sprach auch mit niemandem im Ort, obwohl da nur Einheimische wohnten. Edna kannte seine Stimme überhaupt nur aus lautstarken Gesprächen, die er in einer unverständlichen Sprache mit sich selbst führte.

Die dicke Georgette mit dem Bäckerauto, die jeden Nachmittag den holprigen Weg vor Thierrys rotem Backsteinhaus und Ednas grauem Haus aus Feldsteinen entlangfuhr, stieg manchmal aus und verkaufte der jungen Frau, die sie freundlich – mit unwirschem Blick in Richtung des Hauses von Thierry – »Mademoiselle Idne« nannte, zwei Baguette über den Zaun. Sich mit Edna auf ein Gespräch einzulassen, hätte jedes Mal für Georgette bedeutet, die Steinigung ihres Bäckerautos durch den Nachbarn in Kauf nehmen zu müssen. Der mochte es nicht, wenn jemand auf ein Gespräch an Ednas quietschendem Gartentor stand. Er mochte es überhaupt nicht, wenn sich Leute mit seiner Nachbarin unterhielten, und so gewöhnten es sich die Leute schnell ab.

Edna fühlte sich seltsam von Thierrys Gegenwart berührt. Oft waren ihre Gedanken bei ihm, und sie fragte sich, was Thierry zu dem Menschen gemacht haben mochte, der er war. Er schien keine Familie zu haben, sie wusste nichts von Verwandten, die zudem sicher nicht mehr am Leben waren. Die Einsamkeit, etwas abgelegen vom Dorf, mit einem Menschen wie Thierry zu teilen, machte ihr keine Angst. Es gab nichts zu teilen. Man lebte nebeneinander. Zahllose Menschen, viele Paare lebten so. Edna störte sich nicht an diesem Unverhältnis zu ihrem Nachbarn. Auf eine bizarre Weise fühlte sie sich durch seine Anwesenheit beschützt. Allerdings konnte sie noch nicht benennen, wovor.

Edna berührte die Spitze des Pinsels, der neben der Staffelei am Boden lag. Die Farbe glänzte vor Feuchtigkeit. Der letzte Strich des Augenpaares auf der Leinwand war zum unteren Bildrand gezogen und sah aus wie im Schreck hinterlassen. Er oder sie war geflohen, als Edna ins Haus kam. Ednas Ohren waren taub, sie konnte die Salsaklänge nicht mehr hören, so stark konzentrierte sich ihr Blick auf jede mögliche Veränderung im Raum. Alle Fenster waren verschlossen. Kein Buch, kein Bild, kein Kissen vor dem Kamin schienen berührt worden zu sein. Ruhig ging Edna in die Küche, auch hier war alles unverändert. Sie kehrte zurück und trocknete den Rotwein vom Boden, fegte die Scherben mit beiden Händen zusammen und bemerkte nicht das Blut, das langsam an ihrem Handgelenk herunter lief. Erst als sie erschöpft in der Küche saß und ein neues Glas Rotwein in der Hand hielt, griff sie zu einem Tuch, das sie um das blutende Handgelenk band. Misstrauisch lief sie von Zimmer zu Zimmer, die Lautstärke des Radios bis zum Anschlag aufgedreht… »…si una canción habla de amor…«

Die »Ruine«, wie Edna das Haus nannte, war Hunderte von Jahren alt. Das Haus war das Erbe von ihrem Großvater. Sein Sohn, Ednas Vater, lebte im Süden des Landes und glaubte, dass ihn Besitz, erst recht der eines so alten Hauses, was von der Zeit und den Menschen vergessene Gemälde in sich barg, nur belasten würde. Der einzige Besitz, um den Ednas Vater sich sorgte, war der seiner Bank.

Ednas Mutter kehrte Ende der sechziger Jahre in ihre Heimat zurück. Sie hörte auf, ihr Kind zu stillen, legte es dem Vater eines Abends in den Arm und fuhr mit sorgfältig gepackten Koffern in eine kleine Stadt an der Nordsee, in welcher der Mann auf sie wartete, den sie schon immer liebte. Nach Ansicht ihres Vaters war Edna groß genug, als er ihr diese Geschichte ohne ein Anzeichen von Wut in seiner Stimme erzählte.

Ednas Gesichtszüge waren die ihres Vaters. Es gab keine versteckten Winkel, sondern einen klaren, offenen Gesichtsausdruck. Ihre braunen Augen schimmerten grünlich, sobald ein Gewitter aufzog. Gilles hatte ihr das einmal gesagt, obwohl er in der Dunkelheit seines Camions weder das Gewitter, noch ihre changierende Augenfarbe ausmachen konnte. Aber es gefiel ihr, und so glaubte sie es. Den Pragmatismus und das dicke kastanienbraune Haar, das sie sich tiefrot färbte, hatte Edna von ihrer Mutter.

Aufgewachsen war Edna in der Ruine bei ihrem Großvater. Seit seinem Tod lebte sie allein in Pesiotte, einem Dorf, umgeben vom Wald von Fontainebleau. Das Schloss und sein Park, die Sandsteine und der einem Gemälde gleichende Himmel waren ihr Universum. Allein an seinem Bild des Waldes von Fontainebleau hatte Cezanne drei Jahre lang gearbeitet.

Thierry und die Menschen im Dorf waren die Welt, in der Edna leben musste. Den langen Weg zum Schlosspark ging sie einmal in der Woche. Ihre Freiheit konnte sie nur genießen, indem sie sich Regelmäßigkeit verordnete. Selbst dieser Spaziergang, zu dem Miller sie begleitete, verlief jedes Mal gleich. Miller jagte die Enten am Rand des Karpfenteiches unter den belustigten Blicken der Besucher, während Edna ehrfürchtig zur Sphinx aufschaute, die auf einem Steinblock thronte und im Vergleich zu ihrer Schwester in Ägypten klein wie ein Fingerhut war.

Weder ihr Vater noch ihre Mutter suchten Kontakt zu Edna. Solange der Postbote ihr einmal im Monat einen Scheck von ihrem Vater brachte, den Edna auf der Post im Dorf in Bargeld einlöste, wusste sie, dass ihr Vater noch lebte. Das eingewechselte Bargeld bewahrte sie im Kleiderschrank auf. Es gab keine Geburtstagskarten und keine Karte zu Weihnachten. Es gab seit seinem Abschied keine persönliche Zeile an Edna. Doch es gab für sie ein angenehmes Überleben in der lauschigen Einsamkeit von Pesiotte, in dem Haus voller Gemälde, innerhalb der Mauern ihrer Familie.

Wie von Kokoschka porträtiert, schaute ihr Vater vom Spiegelrand auf Edna. Das Foto hatte vor Jahren in seinem ersten und einzigen Brief an Edna gelegen. Kein Wunder, dass er jeden Bankkunden von seinen Diensten überzeugen konnte, schön wie er war. Aussehen, das Vertrauen erweckte, dachte sie, während ihr wehmütiger Blick vom Foto in ihre eigenen Augen und wieder zum Foto zurück wanderte. Damals zeigte ihn das Foto mit einer dunkelhaarigen Frau, die Ednas Mutter nicht ähnlich sah. Jetzt prangte an ihrer Stelle ein ausgefranster Riss. Große, dunkle Augen trafen sich, und auch er trug sein braunes, lockiges Haar auf dem Foto bis zur Schulter. Edna glaubte Traurigkeit über den Abschied in seinem Blick zu erkennen. Auf dem Foto war er in Ednas Alter.

Ihr Leben wurde gestört, als Edna die Vorladung in das Büro des Bürgermeisters erhielt. Trotz der nur etwa zwei Kilometer Entfernung vom Rathaus bis zu ihr war das Schreiben auf der Post aufgegeben worden. Diese lag am südlichen Ende des Dorfes. Das Schreiben war fast zwanzig Kilometer weit gefahren worden, und Edna nahm es dem ungeduldig auf seinem Fahrrad wippenden Postboten belustigt aus der Hand. Für ihn war es ungewohnt, sich ein zweites Mal den ansteigenden Weg bis zur Ruine hinauf zu quälen, denn für ihren Scheck war er bereits am Monatsanfang bei ihr gewesen.

»Ist Ihr Nachbar zu Hause, Mademoiselle?«

Edna sträubte sich, auf Thierry angesprochen zu werden, wenn jemand eigentlich zu ihr wollte. Thierry machte Angst, sogar einem Briefträger, der nur seine Arbeit tat. »Warum fragen Sie ihn nicht selbst?« Edna wandte sich ab und ging ins Haus.

»Für ihn habe ich auch…« Aber Edna hörte die Worte des Postboten schon nicht mehr.

»Gilles, was wollen die von mir?«

»Ednieednaleinchen, nun bring’ erstmal die Ruhe rein.« Gilles ließ Unmengen von Ricard auf Unmengen von Eiswürfel in ein Pintglas fließen. »Die wollen dich sehen. Kann ich ihnen nicht verübeln! Nur dass ich den Vorzug genieße, dich ohne Vorladung hierher zu kriegen.« Schallend lachender Bariton. »Was meinst du, was ich an Portokosten hätte?« Gilles’ Lachen überschlug sich aus Begeisterung über seinen eigenen Humor, der Edna keine Miene verziehen ließ.

Reglos schaute sie Gilles an. »Es hat dich gar nicht stutzig gemacht, dass der Typ dich damals nach meinem Haus gefragt hat.«

Gilles klang gleichgültig. »Carpe?«

»Ah, an seinen Namen erinnerst du dich auch noch!« Edna machte ihrer Enttäuschung Luft. »Hast ihn sogar nett bedient, mich ihm vorgestellt.«

»Umsatz ist Umsatz. Gast ist Gast.«

»Und Freundschaft ist Freundschaft und Vertrauen, mein Lieber. Du weißt, dass ich nur dich hier habe.«

Nun wurde auch Gilles ernst, fast vorwurfsvoll. »Liegt das an mir?«

Edna schaute ihn ungläubig an und errötete.

Gilles’ Strickjacke umspannte seinen runden Bauch, der sich vom schnellen Atmen hob und senkte. Er eilte um den Tresen, nahm Edna fest in den Arm. »Es tut mir Leid, Kleines, es tut mir Leid. War nicht so gemeint. Ich bin für dich da.«

»Wenn du nicht gleich wieder loslässt, bist du auch für meine Beerdigung da.« Eine Träne rann über Ednas Mund, der nun zu einem Lachen verzogen war.

Eine Woche darauf lief sie den Weg hinab zum Marktplatz, auf dem das Rathaus versteckt hinter breit gewachsenen Ahornbäumen lauerte. Ednas Füße schmerzten, sie vermisste ihr Fahrrad und schaute sich im Dorf um, ob es irgendwo zu sehen war. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, den Diebstahl bei dieser Gelegenheit auf der örtlichen Polizeistation anzuzeigen, wo die Mittagspause der Gendarmen in dieser ruhigen Ortschaft nun schon drei Stunden einnahm, wie sie vom Lehrling in der Tierhandlung erfuhr. Für die Anzeige bliebe ihr sicher noch Zeit.

Erstmal nahm sie je zwei Stufen auf einmal hinauf zum Vorzimmer des Bürgermeisters, das trotz der frühen Stunde voller Zigarrenqualm war. Edna schaute sich um, den Brief in ihrer schweißnassen Hand haltend. Niemand war im Zimmer.

Sie ging direkt auf eine geschlossene Tür zu, doch bevor die Fingerkuppen ihrer rechten Hand das glatte, dunkle Holz berührten, hielt Edna inne. Trotz der Stärke der Flügeltür drangen Stimmfetzen zu ihr. Wie ein kleines Mädchen lauschte sie an der Tür und vernahm ihren und einen zweiten Familiennamen, den sie nicht kannte. Belustigung lag in den Stimmen der zwei oder drei Männer, die sich da unterhielten. Ednas rechtes Knie erreichte den Boden und ihr rechtes Auge das Schlüsselloch.

»Tsss, tsss, tsss, Mademoiselle, sagen Sie nur, Sie haben dort etwas verloren!«

Edna schnellte empor.

Die Frau, der sie gegenüberstand, streckte ihr beherzt die Hand entgegen. »Druot, zuständig für fast alle Belange des Monsieur Déramaux, den Sie sicher sprechen wollen.« Sie ließ Ednas Hand nicht los, während sie mit der Linken nach kurzem Anklopfen die Flügeltür öffnete und Edna in das angrenzende Zimmer schob. Edna vernahm nur einen dumpfen Knall hinter sich und versuchte, die Gesichter der Anwesenden auszumachen.

»Déramaux.« Ein korpulenter Mann baute sich vor Edna auf, um sie sogleich zu einem der noch freien Ledersessel zu führen. »Ihren Großvater kannte ich ja noch, meine Teure, aber wir beide bekamen noch nie die Gelegenheit, uns kennen zu lernen. Und das in einem kleinen Ort wie Pesiotte.« Er musterte Edna unverblümt. »Für unser Erntedankfest konnten wir Sie wohl bisher noch nicht begeistern?«

Sie nahm sich Zeit, die beiden anderen Männer zu betrachten, die ihr als Architekten vorgestellt wurden. »Eher nicht, ich betrinke mich ungern in der Öffentlichkeit.« Edna erkannte Carpe sofort wieder. Er sah gepflegter aus als bei ihrer Begegnung im Camion, ausgeruht und frisch. Die Frische unterstrich ein blumiges Rasierwasser, dessen Duft sie für Sekunden die Augen schließen ließ.

Carpes tiefe Stimme holte Edna in die Gegenwart zurück, und sie genoss es, als er ihre kalte Hand zwischen seine warmen Hände legte. »Schön, Sie wieder zu sehen.«

Die anderen beiden Männer schauten sich kurz fragend an. Edna sagte nichts. Carpes Mitarbeiter, ein Zwei-Meter-Mann, erhob sich, um ihr die Hand zu reichen. Er nannte seinen Namen, den Edna sofort wieder vergaß. Menschen wie der Große und Carpe konnten diesen Bürgermeister mühelos von einem Projekt überzeugen, das diesem vergessenen Ort neue Einnahmequellen brächte, mutmaßte Edna, und das Thema erschien ihr so alt wie die Welt.

Während er redete, schaute ihr Carpe unentwegt in die Augen, so, als seien die anderen beiden nicht im Raum. Edna schämte sich für einen Moment ihrer fadenscheinigen Baumwollhose, über welcher sie eine marokkanische Tunika trug. Als sei ihr zu warm, bewegte sie den Ausschnitt, wedelte sich damit Luft zu, um zu testen, ob vom Duft ihres Parfüms noch etwas übrig war.

Schließlich meldete sich Déramaux zu Wort, und wieder hörte Edna den ihr unbekannten Namen, der ihr beim Spionieren an der Tür aufgefallen war. »Monsieur Colin scheint verhindert zu sein.« Déramaux schaute Edna fragend an.