… mein Vermächtnis an die Schöpfung,
der einst die Menschheit zugehörte …
und an die Glücklichen,
         die Teil von ihr geblieben sind …

In diesem Augenblick, in dem ich doch eigentlich von der „Unendlichen Reise“ erzählen wollte, kommt mein kleiner Bruder Eckart herein und zeigt mir eine Märchengeschichte, die er gerade geschrieben hat – über den verwirrten Geist im Walde – und die geht so:

Einmal ist ein Mann, dessen Herz von Kummer über sein sinnloses Dasein schwer beladen war, hinausgegangen in den Wald.

Das Sonnenlicht brach durch die Wolken, und verzauberte die Regentropfen in den Bäumen und Büschen zu glitzernden Perlen und funkelnden Sternen.

Der Mann setzt sich, am Rande einer Lichtung, auf einen großen, niedergebrochenen Eichenstamm, und verbirgt sich in seinem Kummer.

Er sitzt da noch, als es Nacht wird. Es sind Sterne am Himmel, aber er weiß nicht mehr wo er sich befindet.

Jetzt glaubt er aus der Stille ein Lachen zu hören – lauscht – und vernimmt gurgelndes Klingen.

Der kummerbeladene Mann folgt der Stimme des Wassers und findet ein Quellbächlein. Er trinkt von dem kühlen Wasser, und ihm wird warm ums Herz. Und halblaut sagt er vor sich hin: mein Leben hat seinen Sinn verloren.

Da meint der bekümmerte Mann, das springende Wasser des Bächleins widerspräche ihm und sage: groß ist dein Schmerz – doch nur verborgen ist dir der Sinn deines Lebens!

Neben dem Bächlein ist eine trockene Felsenkammer. Dort legt der Mann sich nieder und versinkt in tiefen Schlaf.

Es träumt ihm, er müsse auf die Suche nach dem Sinn gehen.

Als er am Morgen dann erwacht, findet er Brot und Käse, eingebettet in große, frische Blätter, und am Abend liegt auch frisches Stroh und eine Decke unter dem Felsen.

Ja, ich weiß nicht, was mit mir geschieht. Aber zurück, in mein Haus, kann ich nicht mehr. Ich weiß nicht, woher ich gekommen bin. Nur mein Kummer ist mir geblieben.

Als er sich wieder über die Quelle niederbeugt, um zu trinken, spricht der Quell, und der kümmerliche Mann erkennt staunend, daß der Quell mit ihm spricht.

Was soll das bedeuten, sagt er – ein Quell, der im Walde aus dem Felsen springt, spricht die Sprache eines Menschen?!

Nein, sagt der Quell, dir ist die Gnade gegeben als Mensch die Sprache des klaren Wassers, welches aus dem Felsen springt, zu verstehen … setze dich, der Sinn ist nicht verloren – du bist behütet, von den Geistern, die dir wohlgesonnen sind …

So wurde der Mann ein Geist des Waldes, und sein Leid wandelte sich und zog vorüber, wie die Wolken am Himmel …

Yasmin sieht Marko zu, wie er die Ruder in langen Zügen durch die Wogen zieht; wie sich das Boot, den vor dem Bug kreuzenden Delphinen folgend, langsam auf ihre Insel zubewegt. Dabei erinnert sie sich an ihren Traum und fragt Mo: „Weißt du noch wie das kleine Dorf, zu dem wir morgen fahren wollen, heißt?“

„Gewiß – eine lange schmale Landzunge, die an einen Schwanenhals erinnert, umschließt die Bucht. Deshalb heißt das Dorf Schwanenhals.“

Yasmin sieht Mo wie abwesend an: „Mo, letzte Nacht habe ich deinen Freund, den Raben, im Traum gesehen. Er sprach zu mir. Er sagte: >Ich wohne auf der Insel Schwanenhals, und habe dort lange schon auf Mo gewartet. Grüße ihn von mir. Ich warte dort auf ihn. <“

Und freudestrahlend ruft sie aus: „Ganz bestimmt hat dein Freund mit mir gesprochen. Du wirst ihn sicher bald wiedersehen!“

Mo schaut über das Wasser zur sich langsam nähernden Insel und weit über sie hinaus: „Wenn mein lieber Freund wirklich in diese Welt zurückgekehrt ist, und dort auf mich wartet, wird es keinen glücklicheren Menschen geben als euren alten Mo. Dann hat eine glückliche Fügung so vieles geschehen lassen, um dieses Wiedersehen herbeizuführen. Selbst der traurige Tod meines Freundes bekäme einen neuen Sinn; denn ohne ihn gäbe es kein so glückliches Wiedersehen …!“

Als sie in die Bucht einfahren, und das Boot auf sandigen Grund aufläuft, ziehen die Kinder es auf den Strand. Darauf laufen sie ins Wasser auf Stimme und Sanftauge zu, die sie schnatternd begrüßen. Marko streichelt Sanftauges Gesicht und sagt zu ihr: „Morgen fahren wir, schon ganz früh, weit aufs Meer hinaus zu der Insel Schwanenhals. Bitte begleite uns doch mit Stimme dorthin!“

Wieder schwenkt Sanftauge ihren Kopf hin- und her und schwatzt und knarrt aufgeregt, umkreist Yasmin und Stimme, mit der sie wieder diese merkwürdig tiefen Laute austauscht und davon schwimmt, bis die beiden weitab auf ihren Schwanzflossen umeinander tanzen, eh sie abtauchen und nicht mehr zu sehen sind. Yasmin schaut eine Weile nachdenklich auf die Stelle im Meer, an der sie verschwunden sind und sieht Marko fragend an: „Ob Sanftauge dich wohl wirklich verstanden hat?“ „Ich weiß es nicht. Aber mein Gefühl sagt mir, daß sie und Stimme uns morgen auf dem Meer finden werden – irgendwie. Komm, laß uns Mo mal beim Ausladen helfen.“

Aus dem Boot reicht Mo ihnen zwei Bündel, Decken, und Felle.

„Hier, das ist mein Bettzeug und hier“, er reicht ihnen zwei Körbe, „ist Proviant für viele Tage. Alles andere kann im Boot bleiben. Morgen haben wir dann nicht so viel zu schleppen.“

In der Höhle dann, fragt Yasmin Mo: „Soll ich dein Bett gleich neben unserem Lager herrichten?“

„Das wäre mir sehr recht. Wollen wir dann gleich ein Feuer machen, und Kartoffeln rösten?“

„Oh ja!“ antworten die Kinder und Marko meint: „Ich weiß einen guten Platz. Ganz in der Nähe ist ein kleiner Strand. Von da können wir die Durchfahrt überblicken, durch die ein Boot fahren muß, das vom Dorf kommt.“

Yasmin legt sich in die Felle, die sie auf dem Boden ausgebreitet hat. „Mo, dein Bett ist weich und kuschelig geworden. Darin wirst du gut schlafen können.“

„Ich freue mich schon darauf, und jetzt erstmal auf unser Mittagsmahl. Hier, du kannst den Korb schon zum Strand bringen. Ich sammele mit Marko noch Holz für das Feuer.“

Yasmin bringt den Korb zum Strand, Mo und Marko gehen zu der Kiefer und sammeln umherliegende Äste auf. Als sie damit zum Strand kommen, hat Yasmin den Inhalt des Korbes auf einen großen Stein verteilt. Marko nimmt das bereitliegende Feuerzeug und kniet sich in den Sand. Yasmin kniet sich vor ihn hin, den Funken anzublasen. Bald zieht ein dünner Rauchfaden durch den Zunder, in dem ein Flämmchen zu knistern beginnt. Erst legt Marko dünne Äste über das Flämmchen, dann immer dickere, bis ein loderndes Feuer brennt. Darauf verteilt er die Kartoffeln unter das Feuer in den Sand.

Mo hat sich oberhalb des Feuers auf einem Felsrücken niedergelassen. Die Kinder setzen sich zu ihm und schauen eine Weile schweigend über das Feuer und das Meer zu den Inseln rüber. Mo schaut in die Richtung, aus der er mit dem Boot gekommen ist; „Ob ich mein Häuschen wohl je wiedersehen werde? Mir ist, als sei es ein Abschied für immer gewesen.“

Yasmin sieht ihn an, als müsse sie ihn trösten; „Bist du traurig, Mo?“

„Auf der Fahrt hierher war mir schon etwas melancholisch zumute. Bevor ich runter zum Boot ging, habe ich den Kastanienbaum über meinem toten Freund noch einmal umarmt. Mich von ihm zu trennen, war schwer. Als ihr dann mit euren Freundinnen angeschwommen kamt, und zu mir ins Boot gestiegen seid, ging es mir schon viel besser. Seit du mir dann von deinem Traum erzählt hast, und davon, daß mein Freund wieder da ist und auf mich wartet, bin ich der glücklichste Mensch auf Erden. Ich freue mich ja so auf unsere Reise morgen, und darüber, daß ich jetzt mit euch hier auf dieser Insel bin.“

Yasmin sieht Mo aus leuchtenden Augen an: „Wir können jetzt ja immer zusammen bleiben.“ und Marko sagt begeistert: „Ja, wir drei, und Stimme und Sanftauge und dein Freund, der Rabe!“

Am Feuer, das inzwischen etwas niedergebrannt ist, beginnt Marko mit einem Stock in der Asche zu stochern und die Kartoffeln zu wenden. Dabei angelt er eine hervor, die er kurz zwischen Daumen und Zeigefinger drückt. „Autsch! Die ist noch ganz fest. Es dauert wohl noch. Ich geh mal Wasser holen.“

Als Marko mit dem Krug Wasser zurückkommt, angelt er wieder eine Kartoffel aus der Asche. Sie fühlt sich weich an. Er bricht sie auseinander. Aus dem mehligen Inneren steigt ihm ein Duft in die Nase, von dem ihm das Wasser im Munde zusammenläuft. „Jetzt sind sie gar.“ stellt Marko fest, und angelt eine nach der anderen aus dem Feuer.

Yasmin bringt eine irdene Schale, nimmt die Kartoffeln einzeln schnell hoch und läßt sie hineinfallen. Die bringt sie zu Mo, und stellt sie neben ihn auf den Stein. Marko sammelt am Strand drei längliche Muschelschalen, die er im Meerwasser abspült und zu den Kartoffeln legt. Nun stellt Mo einen Topf mit Griebenschmalz und den Mörser mit zerriebenem Meersalz dazu. Jeder nimmt sich eine Kartoffel, ritzt die angesengte Schale mit seiner Muschel, bricht sie in zwei Hälften, streut etwas Salz darauf und löffelt mit der Muschelschale Kartoffel und Schmalz.

Als die letzte Kartoffel verzehrt, und der Krug geleert ist, meint Yasmin: „Eigentlich ist es schade, daß wir die Insel verlassen; und das nur, weil wir vor dem Mann der Kirche fliehen müssen.“

„Denk mal an unseren Traum, Yasmin, auf Mo wartet doch sein Freund der Rabe in Schwanenhals. Und vielleicht gibt es dort sogar einen Glockenblumenberg und Menschen, die freundlich sind, und einen weißen Schwan und vieles mehr. Ich freu mich auf die Reise dorthin, mit dir und Mo, und unseren Freundinnen im Meer.“ „Ich freu mich doch auch darauf; aber ich hab unsere Insel so lieb gewonnen, daß es mich auch etwas traurig macht, daß wir sie verlassen wollen.“ Sie sieht Mo und Marko fragend an: „Habt ihr nicht auch so eine Ahnung, daß wir nie mehr wiederkommen werden?“

Mo schaut in die Glut des niedergebrannten Feuers.

„Eben erst habe ich zugesehen, wie ihr das Feuer entfacht habt. Jetzt züngeln nur noch kleine Flämmchen aus der Glut, die immer mehr in sich zusammensinkt, bis sie ganz verlöschen wird. Eh ihr es angezündet habt, gab es dieses Feuer nicht, und so ist es auch mit dieser Insel. Bevor du“, er sieht Marko an. „sie entdeckt hattest, gab es sie für dich noch nicht. Es ist, als ob sie aus dem Meer stieg, und es wird sein, als wenn sie wieder im Meer versinkt. Die Zeit läßt alles entstehen und wieder vergehen. In unserer Erinnerung aber, werden dieses Feuer und die Insel bleiben, denn sie sind ein Teil von uns geworden.“

Wir werden viel Neues erleben, wenn die Insel hinter uns versinkt; so wie wir viel Neues erleben werden, wenn wir eines Tages unsere Körper verlassen. So wie die Sonne untergehen muß, eh der Himmel im Glanz der Sterne erstrahlen kann – ohne deren Untergang, würde es auch keine Morgensonne und keinen neuen Tag mehr geben. Und ohne das Sterben, würde es auch kein neues Leben geben – außer“, er sieht die Kinder an: „wenn Menschen so miteinander sind, wie wir, dann entsteht etwas, das aus dem Herzen wächst, ohne daß dafür vorher etwas sterben muß …“

„Ja“, sagen Yasmin und Marko, wie aus einem Munde, „und wenn wir mit Sanftauge und Stimme zusammen sind.“

„Und“, fügt Mo hinzu, „wenn ein Rabe der Freund eines Menschen ist und natürlich auch, wenn ein Rabe der Freund eines Raben ist.“

Yasmin legt ihren Kopf zurück, schaut in den Himmel und fragt: „Was dabei zu leben beginnt, was da ist, obwohl wir es nicht sehen können – ob das vielleicht die guten Geister sind?“ „Oder die bösen, die mit dem Kirchenmann auf der Insel waren?“ fügt Marko hinzu. „Ja“, sagt Mo nachdenklich. „ich glaube in unseren Herzen werden gute Geister geboren und wenn sie uns mögen, bleiben sie in unserer Nähe. Wenn wir aber böse Gedanken haben, verlassen sie uns wieder. Das kann leicht passieren, wenn wir mit Menschen sprechen, wie dem Kirchenmann.“

„Wenn wir die Insel verlassen haben“, meint Yasmin. „werden wir den wohl auch nie mehr wiedersehen; und jetzt möchte ich den großen Vogel noch einmal besuchen. Kommt ihr mit?“

Yasmin ist zuerst am Nest. Der Vogel ist jedoch nicht mehr da. In der Nestmulde liegen nur noch zerbrochene Eierschalen. Erschrocken ruft sie aus: „Was ist hier bloß passiert? Alle Eier sind entzwei!“

„Hört ihr das leise Fiepen?“, fragt Marko jetzt. „Es kommt vom Tümpel her, und hört sich wie kleine Vögel an. Vielleicht sind sie gerade geschlüpft. Laßt uns einmal nachsehen!“

Vorsichtig nähern sich die drei dem Gewässer und erblicken nun den Vogel, der, von lauter kleinen, gelben Wollknäulchen umringt, darauf schwimmt.

Yasmin hat in ihrer Freude vergessen, daß der Vogel Angst vor Menschen haben muß, geht weiter auf ihn zu und kniet am Wasser nieder. Aus seinen großen, dunklen Augen sieht sie der Vogel an – und schwimmt langsam auf sie zu.

„Der Vogel kennt mich ja“, denkt Yasmin. „und diese Augen sind mir so vertraut. Irgendwann habe ich sie doch schon einmal gesehen!“

Eines der Kleinen schwimmt auf sie zu. Die Vogelmutter ruft es mit glucksenden Lauten und schwimmt mit ihm wieder aufs Wasser hinaus. Leise sagt Yasmin zu dem geheimnisvollen Vogelwesen: „Ich verlasse diese Insel bald, und wünsche dir viel Glück mit deinen Kindern.“

Noch leicht benommen steht sie auf, und geht zu Mo und Marko zurück.

„Könnt ihr euch vorstellen?“ sagt sie. „die Vogelmutter ist wie eine alte Bekannte. Ihre Augen sind mir so vertraut, als wären wir schon einmal gute Freundinnen gewesen!“

„Doch“, sagt Mo. „ich hab sowas auch schon erlebt; aber nie darüber nachgedacht, bis die Leute in Schwanenhals mir erzählten, daß sie ihren Verstorbenen manchmal in neuer Gestalt wiederbegegnet sind. Vielleicht kennst du die Vogelmutter ja sogar noch aus einem deiner früheren Leben. Was meint ihr, Kinder, wollen wir zur Höhle, und alles, was wir für die Nacht nicht brauchen, schon mal ins Boot bringen?“

Als die drei am frühen Abend in die Höhle zurückkehren, strahlt ihnen das warme Licht der Öllampe aus dem Höhlendunkel entgegen. Mo setzt sich an seinen Platz auf dem Sims und schaut zu, wie die Kinder den „Felsentisch“ decken. Als all die Köstlichkeiten vor Mo verteilt sind, setzen sich die Kinder zu ihm, wobei Marko sagt: „Das ist wohl unser letztes Abendbrot hier in der Höhle, und es ist so schön, daß wir nun alle zusammen sind.“

„Ja“, sagt Mo. „es ist so heimelig mit euch hier.“ und Yasmin meint: „Wir wollen dieses Abendessen noch richtig genießen. So gemütlich, wie jetzt hier, wird es wohl so bald nicht wieder sein.“

Nach ihrem Abendmahl gehen Mo und die Kinder noch einmal nach draußen. Die Abendsonne steht tief über dem Meer. Schweigend hängt jeder seinen Gedanken nach. Dann verkündet Mo: „Heute werden wir uns, noch eh die Sonne untergeht, schlafen legen. Und wenn sie wieder aufgeht, schwimmen wir wohl schon eine ganze Strecke von der Insel entfernt, auf dem Meer.“

Yasmin streckt ihre Arme der Sonne entgegen und dreht sich tanzend im Kreis: „Ich bin aber noch kein bisschen müde. Ich weiß nicht, ob ich schon gleich einschlafen kann.“

„Ich auch nicht“, stimmt Marko ihr zu. „aber wir können es ja einfach mal versuchen.“

„Ja“, sagt Mo. „laßt uns zurück in die Höhle gehen. Ich bin gespannt, wer als erster eingeschlafen ist.“

In der Höhle empfängt sie wieder das gemütliche Licht der Öllampe.

„Wer ist als erster im Bett?“ kichert Yasmin, zieht sich schnell aus und krabbelt unter die Felle. Im nächsten Augenblick hat sich auch Marko entkleidet, meint lachend: „Der Letzte macht das Licht aus!“ und ist unter den Fellen verschwunden.

Doch gleich darauf wühlt er sich wieder aus ihnen hervor: „Laß das!“ kichert er glucksend. „ich bin doch kitzelig!“

„Du hast selber angefangen, mit deinen Füßen an meinen. Da bin ich doch besonders kitzelig.“

„Du stellst dich aber an. Ich habe sie ja gar nicht gesehen!“

Lachend greift sie jetzt nach seinen Füßen, daß er juchzt und strampelt.

„Du stellst dich ja noch mehr an. Jetzt siehst du, wie das ist.“

„So kitzelig bin ich ja sonst auch nicht. Läßt du mich jetzt wieder unter die Felle, ohne Kitzeln?“

„Na gut.“ Zögerlich krabbelt Marko bäuchlings unter die Felle. Als er Yasmin leicht berührt, muß er ein Kichern unterdrücken, und es dauert eine Weile, bis sich die beiden beruhigt haben.

Mo legt sich mit einem Seufzer der Behaglichkeit in sein Lager und zieht die aus mehreren Fellen zusammengenähte Decke über sich.

„Heute soll die Lampe die Nacht über brennen“, sagt er. „damit wir in der Frühe gleich Licht haben. Schlaft gut, Kinder. Gute Nacht!“

„Schlaf du auch gut, Mo“, hört er die Kinder sagen. „gute Nacht!“

Aus dem Dunkel leuchtet schwarzes Glühen. Näher und näher. Schwarzes Vogelauge löst sich aus der Nacht. Beglückende Wärme umfängt Mo. Sein Freund, der Rabe, ist ihm ganz nah. Mos Lippen fühlen die weichen Federn seines Halses, die nach Wildheit und Liebe duften. Seine Schwingen umfangen ihn zärtlich, tragen ihn aus dem Dunkel durch graue Nebel ins Licht. Tief unter ihnen breitet sich weit das Meer. Ein großes Segelschiff zieht langsam am Dorf vorüber. Delphine umkreisen es und schwimmen auf den Hafen zu. Sie haben etwas, wie eine Botschaft, für die Leute im Dorf. Als sie den Hafen erreichen, verdunkelt sich das Wasser, Nacht kriecht ins Dorf, legt sich über Häuser und Meer. Im Hafen erglimmen weiß leuchtende Sternchen. Unruhig fliegen sie umher – wie kleine Vögel. Jetzt beginnen sie einander zu umkreisen. Leiser Gesang erklingt, mit dessen wehmütiger Melodie sie als Lichterkette hinaus auf das Meer schweben, und in der Ferne verglimmen.

Unheimlich ist die Stille der Nacht, in der Mo erwacht. Er weiß sofort, dieser Traum war nicht nur ein Traum. Was er da erlebt hat, wird noch geschehen. Ihm wird bang, wie er ins Dunkel der Höhle schaut, aus dem ihm das stille Licht der Öllampe verloren entgegen leuchtet.

„Es wird da ein Schiff sein“, stellt Mo sich vor. „Delphine werden es umkreisen und mit irgendeiner Botschaft in den Hafen schwimmen. Aber was könnte das für eine Botschaft sein? Warum wird es dann so dunkel – und was waren das für schwebende Lichter mit ihrem Trauergesang? Sollte den Delphinen etwas zugestoßen sein? Waren die schwebenden Lichter deren Seelen, die ihre Körper verlassen hatten?“ Mo starrt tief ins Höhlendunkel, in dem seine Gedanken als bange Ahnungen hängenbleiben.

Das leise, friedliche Atmen der Kinder beruhigt sein Gemüt. Langsam verblaßt der Traum, und Mos Gedanken kehren in die Gegenwart zurück. Durch die Pflanzen am Höhleneingang sickert matt, kühles Licht. „Es wird noch tiefe Nacht sein“, denkt Mo, erhebt sich leise von seinem Lager und geht auf den Höhleneingang zu. Als er den Pflanzenvorhang teilt, schaut er in eine klare Sternennacht, aus der ein Halbmond silbriges Licht über Meer und Insel flutet. Vorsichtig steigt er hinab in den Oleander und geht zu der alten Kiefer. Dort sammelt er trockene Äste auf und trägt sie in die Höhle. Bald darauf erhellen die Flammen eines kleinen Feuers das Dunkel des Raumes. Sein Knistern weckt die Kinder aus leichtem Schlaf. Verwundert richten sie sich von ihrem Lager auf.

„Bist du schon lange wach, Mo?“, fragt Marko, und Yasmin: „Ist es schon soweit. Wollen wir bald los?“

„Ja, es ist noch Nacht, aber Mond und Sterne leuchten so hell, daß wir unsere Sachen ins Boot bringen und losfahren können. Laßt uns frühstücken, und uns bald auf den Weg machen.“

*

Nach dem Frühstück bringen Mo und die Kinder ihre Habseligkeiten zur Bucht, und legen sie neben dem Boot in den Sand. Ein leichter Nachtwind haucht sie an. Mo steckt einen Finger in den Mund, befeuchtet ihn und hält ihn hoch. Die Seite, auf der er eine Kühle fühlt, weist nach Norden.

„Der Wind kommt von Nord.“ Mo lächelt zufrieden. „Schwanenhals liegt südwestlich von hier. Wir können segeln. Laßt uns mal gleich den Mast aufrichten.“