Johanna Dahm-Agnew

Wenn Eltern trauern

Coaching zur Bewältigung von
Trauerprozessen bei Kindesverlust

Ein Erfahrungsbericht

Books on Demand

Für Hanna.

Ich bin stolz auf Dich – jeden Tag.

Inhalt

Vorgeschichte

Ich war fünfundzwanzig, als ich mit den Zwillingen erstmals schwanger war, die ich in der elften Schwangerschaftswoche wieder verlor. Man hatte mir den Verlust der Embryos damals als natürliche Fehlgeburt erklärt und dass eine solche wohl in drei Vierteln aller Schwangerschaften innerhalb der ersten drei Monate eintrete, dass das „ganz normal“ sei und vielen passiere. Eine der zuvor durchgeführten Ultraschall-Untersuchungen hatte auch schon gezeigt, dass einer der beiden Zwillinge viel kleiner und weit weniger entwickelt war als der andere, laut Arzt also „ohnehin gefährdet“. Gegebenenfalls würde nur ein Kind überleben – gemäß ärztlichem Rat solle ich viel liegen, mich nicht anstrengen. Doch sei ich ja jung, ich würde bestimmt noch viele Babys bekommen, kommentierte der Frauenarzt mit einem wohl aufmunternd gemeintem, jovialen, wenn auch etwas zu festem Schulterklopfen – als stünde schon jetzt fest, dass irgendetwas schiefgehen würde. Nach einer gefühlten Ewigkeit fand ich mich wieder auf dem Heimweg. Der Blick auf die Uhr sagte mir jedoch, dass ich im Untersuchungszimmer nicht einmal eine Viertelstunde gewesen war.

Das alles geschah in einer für mich recht umtriebigen Zeit: Regelmäßig pendelte ich mit meinem Peugeot 106 – einem doch schon in die Jahre gekommenen und eigentlich nicht mehr autobahn-fähigen Modell – zwischen Köln und Frankfurt hin und her. Köln war Heimatort für mich und all meine Freunde, dort steckte ich mitten in meiner Doktorarbeit und hatte an der Uni immerhin eine kleine Assistentenstelle. In Frankfurt lebte mein damaliger Freund, später Verlobter und arbeitete dort als Unternehmens-Berater. Genauer gesagt handelte er mit Immobilien, und wir stritten häufig über seine spekulativen Machenschaften. Als er aus heiterem Himmel mit einem Heiratsantrag und der Idee zur Familiengründung auf mich zukam, schreckte ich nicht nur ablehnend zurück, es wurde mir auch schlagartig bewusst, dass diese Verbindung an einem neuralgischen Punkt angekommen war. Ich selbst noch mitten in der Phase von Selbstfindung und Entscheidungsprozessen, der Partner knappe 16 Jahre älter und dementsprechend in einem ganz anderen Lebensstadium mit sich gänzlich unterscheidender Wunsch– und Wertestruktur. Ich traf die falsche Entscheidung, wenn ich dieser doch mehr als zwei Jahre überdauernden Beziehung einen sanften Ausklang im Dialog bereiten wollte, sobald sich die Wogen des zurückgewiesenen Antrages geglättet hätten.

Plötzlich war ich schwanger – trotz Beteuerung seinerseits, richtig verhütet zu haben. Seine Augen strömten über vor purem Glück, als wir auf den eindeutig positiven Teststreifen schauten. Seine Freude rührte mich und einmal mehr begrub ich meine Bedenken, gab meine Assistenten-Stelle auf und richtete mich in Frankfurt dauerhaft ein. Der stolze werdende Vater trug mich von dieser Sekunde an wörtlich auf Händen, erfüllte mir jeden Wunsch. Und umso leichter viel es mir, für die Zukunft Mut zu fassen, die ich an der Seite dieses so aufmerksamen Mannes verbringen sollte, der ja auch zudem ein grandioser Tänzer war, ein humorvoller Gesprächspartner und Gastgeber und wahrscheinlich auch ein liebevoller Vater – so meine selbstmotivierenden Ausweichmanöver aus der eigenen Misere.

Ich begleitete ihn auf einer Geschäftsreise nach Berlin. Morgens nach der Ankunft bekam ich im Badezimmer des Hotels mit einem Mal starke Blutungen, wurde binnen kurzer Zeit bewusstlos und mit dem Krankenwagen abtransportiert. Die Zwillinge hatte ich verloren – beide auf ein Mal. Die folgenden Tage erlebte ich wie in einer Art Trance, wieder hieß es, dass sich alles wirklich nur um reine „Routine“ handle: ein Besuch beim Frauenarzt, der Termin in der Tagesklinik, Ausschabung unter Vollnarkose. Am Abend des gleichen Tages wurde ich bereits wieder nach Hause entlassen, sprich: in die Wohnung nach Frankfurt. Dort wurde ich ein paar Tage lang voll umsorgt, um dann aber nur noch mit bedauernden Blicken versehen zu werden: wie ich da in meiner Ecke lag, mit immer noch leichten Schmerzen, vor allem aber mitgenommen von den Ereignissen der letzten Tage und der rasenden Geschwindigkeit, mit der ich mich von einer glücklichen Schwangeren in ein Bündel Unglück verwandelt hatte. Für meinen Partner gab es jedenfalls schnell wieder wichtigere Dinge zu tun: Kunden, Immobilien, Geschäftsessen. Der Entschluss lag auf der Hand, mich zusammen zu reißen, alle Beziehungen zu Frankfurt abzubrechen, nach Köln zurückzukehren. Dort wollte ich meine Arbeit am Lehrstuhl, sofern möglich, wieder aufnehmen und nicht nur ein sehr gutes, sondern ein Doktorat mit „summa cum laude“ ablegen. Ich redete mir ein, dass durch die Banalität einer Fehlgeburt, die ich ohnehin mit der Mehrheit der erstmals Schwangeren teilte, ich mich keinesfalls aus der Bahn werfen lassen wollte. Ich suchte jeden Gedanken an meine ungeborenen Babys zu unterdrücken – Gott sei Dank hatte ich mit niemandem darüber gesprochen – und ebenso diese merkwürdigen vielschichtigen Gefühle der Schwangerschaft, die sich gegen alle guten Vorsätze plötzlich doch eingeschlichen hatten. Die Nächte machten mir Angst und die Gefahr des Wachliegens oder schlimmer noch: der Alpträume, und folglich versuchte ich gegen die Müdigkeit anzukämpfen: Tagsüber arbeitete ich am Kölner Lehrstuhl, nachts an meiner Dissertation und der Vorbereitung meiner mündlichen Prüfung. Bald plagte mich innere Unruhe und ich suchte neue Betätigungsfelder, gab Block-Seminare an der Uni, erklärte mich freiwillig zur Prüfungskommission, engagierte mich bei der Gründung eines Forschungszentrums. Über ein ganzes Jahr hinweg betrieb ich hemmungslosen Raubbau an meinem Körper. Die durchschnittliche Schlafzeit lag um die 3-4 Stunden.

Mehr durch ein Wunder als Geschick oder Können erreichte ich die angestrebte Bestnote für meine Dissertation, die ich jedoch gegen ca. 10kg Körpergewicht eingetauscht hatte. Ganze 90 Pfund wog ich, als ich in der Großen Aula der Kölner Universität meine Urkunde entgegennahm. Kannte man mich sonst agil, temperamentvoll und willensstark, war davon nicht mehr viel übriggeblieben. Das alles zu reflektieren war ich jedoch nicht mehr imstande. Einzig wunderte mich, dass meine Mutter während der Doktor-Feier mir zum ersten Mal in meinem Leben (!) zwischen den Zähnen hindurch zuzischte „Bin stolz auf Dich“, mir das aber nichts mehr bedeutete. Solange hatte ich auf diese Anerkennung gewartet, nun aber war meine Seele abgestumpft und taub geworden, weder die Auszeichnung der Universität noch der angebliche Stolz meiner Mutter konnten mich noch berühren.

Ich entschied mich für einen direkten Einstieg ins Berufsleben und wählte den Weg der Unternehmensberatung. Die ersten Jahre selbständig, dann bei einer der großen Consulting Firmen. Wieder ein paar Jahre später übernahm ich eine Führungsaufgabe bei einem Pharma-Konzern. Ich war ständig unterwegs, und meine hauptsächliche Arbeits- und Lebenszeit war der Zufriedenheit meiner Kunden gewidmet – so schien es mir zumindest. Dieses umtriebige Leben über circa fünfzehn Jahre hinweg wurde gerahmt von einer sehr langen, tiefgehenden und mich prägenden Beziehung, später ein paar allenfalls Tage dauernden Flirts; Sport, Freundeskreis und ein Interesse am Reisen waren mein Freizeitprogramm und machten mich vordergründig zufrieden. Ich gab, so könnte man sagen, ein privat eher konservatives Bild einer Mit-Dreißigjährigen ab. Und lange hatte ich an die Zwillinge nicht mehr gedacht, doch sollte mich der Verlust meiner Kinder grausam wieder einholen.

Runde zehn Jahre nach dem Abort und vor einem neuen beruflichen Sprungbrett wurde in mir der schon lang gehegte Wunsch stark, den Jakobsweg1 zu gehen. Dringend bedurfte es einer Auszeit vom hohen Druck in der Firma. Ich war entschlossen, diesen Wunsch zu realisieren, nichts sollte mich hindern, ich begab mich auf die Reise.3 Es sollte keine drei Tage dauern, da hatten körperliche Anstrengung, Regen, bittere Kälte und gleißende Sonne im Wechsel, zuvorderst aber die sagenhafte und unberechenbare Landschaft Nord– und Zentralspaniens über meine vorgetäuschte Stärke gesiegt. Weder meine minutiöse Vorbereitung, nicht der Ultra-Leicht-Rucksack oder die perfekt geplanten Wege, noch die ausbleibenden Blasen an den Füssen und schon gar nicht die über den iPod rauschende Musik konnten die Bugwelle an jahrelanger Überanstrengung, Trauer und Hilflosigkeit abdämpfen, die mich zusammen mit einer Vielzahl anderer Themen überrollte. Auch gab es keinen Tag, an dem ich nicht meine toten Kinder vor Augen gehabt hätte, sie standen – nunmehr als Teenager – lebendig vor mir und begleiteten mich im Hüpfschritt auf meinem Weg. Sie schienen mit mir zu reden, und doch konnte ich sie nicht verstehen. Zunächst sprach ich mit ihnen, bat um Vergebung für meine anmaßende und allzu stolze, jahrelange Ignoranz. Ich weinte fast ohne Unterbrechung, hatte die Wochen über einen offenen Rachen, der von Tränen und Salz wund geworden war. Erst an einem der letzten Tage – ich weiß, wir saßen auf einer Anhöhe mit Blick auf Santiago – lösten wir uns voneinander, ich konnte beide gehen lassen mit einem Gefühl, mir selbst vergeben und dafür beiden das Gefühl der Zugehörigkeit zu mir gegeben zu haben. Zurück in Basel und in der ersten Nacht nach der Reise auf meiner Terrasse sitzend – es war die Nacht vor meinem Geburtstag – fühlte ich mich mit einem Mal völlig klar, fast rein und eins mit meinem Gewissen. Ich suchte im Sternenhimmel nach zwei besonders hell leuchtenden und fand zwei passende Namen für sie, mit denen ich sie weiter ziehen lassen konnte: David und Amelie, meine Kinder.

Im Frühling des gleichen Jahres und noch vor Antritt der Wanderung auf den Spuren des Hl. Jakobs hatte ich beim gleichen Schweizer Pharma-Konzern bereits einen interessanten Menschen kennengelernt, einen der wenigen Arbeitskollegen, die neben seinem Job noch andere Themen kannten – und sich für vieles interessierte, was auch mir gefiel. Wir trafen uns unmittelbar nach meiner Rückkehr aus Spanien auf einen Kaffee auf dem Campus und verabredeten uns wenig später für ein Abendessen. Vielleicht spielte in die gegenseitige Sympathie hinein, dass wir im jeweils anderen auch ein alter Ego meinten zu sehen insofern, als wir derzeit beide mit der Unternehmenskultur unseres Arbeitgebers haderten und wohl am Punkt einer eher generellen Sinnkrise angelangt waren. Einmal wiedergesehen, verliebten wir uns schnell ineinander. Kaum hatten wir einander das mit einiger Überwindung gestanden, zogen wir auch schon zusammen, und trotz aller vorherigen Anti-Haltung gegen die Ehe war es uns beiden mit einem Mal ein starkes Bedürfnis zu heiraten. Wir sprachen natürlich auch über Zukunft, Familie und eben auch über Kinder, woraufhin wir von vornherein gar nicht erst verhüteten. Wann auch immer ich schwanger werden würde, das Baby würde uns willkommen sein.

Als wir standesamtlich heirateten, erwarteten wir bereits ein Kind. Zu jeder gynäkologischen Untersuchung gingen wir gemeinsam, stürzten uns in die Vornamensuche, Recherchen nach dem besten Kinderwagen, nach Trage-Rucksäcken für Wanderungen, beratschlagten über die Hobbies, Musikinstrumente, die uns am förderlichsten für die Entwicklung des Kindes schienen und überschlugen uns vor Ideen – wir waren glücklich. Vier Monate lang. Beim fünften Ultraschall erfuhren wir, dass wir ein Mädchen erwarteten, doch endete unsere Begeisterung jäh, als wir zugleich von den zwei offenen Stellen am Herzen des Kindes hörten, so dass das Blut von einer Herzkammer in die andere hineinfließen konnte. Noch dazu seien die Hirnventrikel2 über Normbreite vergrößert, was laut Arzt noch besorgniserregender sei. Unserer Fassungslosigkeit kam er jedoch sogleich zuvor, denn: Was dies genau bedeutete, könne uns allenfalls ein Spezialist sagen, er selbst wolle sich da ganz heraushalten, sei schließlich nur Geburtshelfer, für schwierige Fälle seien bitteschön andere zuständig. Mit einer Überweisung in die Ultraschall-Abteilung der Gynäkologie des Frauenspitals waren wir unserem Schicksal überlassen. Panisch folgten wir den Anweisungen, besorgten einen HIV-Test, bevor die Fruchtwasseranalyse3 durchgeführt wurde. Diese zeigte keinerlei Auffälligkeiten, Erbgut und Chromosomenbildung ließen nicht auf Erkrankungen schließen, doch der erneute Ultraschall-Befund bestätigte die Diagnose des Frauenarztes vom Vortag. Mit einem etwas unbeteiligt wirkendem Schulterzucken der Chefin vom Ultraschall und „bevor man vorschnell einen Abort einleite“ wurden wir an die nächsten Ärzte weitergereicht: Da war zunächst der Radiologe im Kinderspital zwecks eines MRTs4, das die Ventrikel noch einmal besser darstellen sollte. Nach dem Screening, dem zuvor ich eine Valium-Tablette zur Ruhigstellung des Babys hatte nehmen müssen, kam der zwar noch junge und doch weithin bekannte Chefarzt mit sorgenumwölkter Stirn und einer CD mit den Aufnahmen in den Warteraum. Die Bilder seien für uns, sagte er tonlos, während er die Tür hinter sich schloss. Es sei zwar unsere Angelegenheit und er dürfe uns auch nicht raten, doch seines Erachtens sollte man sich bei einem solchen Befund gut überlegen, ob man ein solch hohes (!) Risiko eingehen wolle. Schließlich gehe es ja neben der Lebensqualität des Kindes auch um unsere eigene. Doch wolle er die Meinung der Kinderkardiologin nicht übergehen, die schließlich schon „Tausende“ solcher Fälle gesehen habe und den Verlauf bestimmt viel besser erklären und Folgen präziser darlegen könne. Die deutliche Warnung des Arztes brannte in meinen Ohren – doch: Waren wir nun wirklich weiter gekommen? Es sollte sich herausstellen, dass die besagte Kinderkardiologin zugleich Angestellte des Frauenspitals und zudem der Ultraschall-Abteilung unterstellt war. Das zwang sie schon aus Hierarchiegründen, die dort zuvor geäußerte Meinung zu repräsentieren: Ja, so meinte auch sie, es wären Auffälligkeiten mit unvorhersehbarem Ausgang vorhanden, und man könne natürlich einen Abort bis zur 24. Schwangerschaftswoche5 durchführen – was ihres Erachtens aber eine reine Panikreaktion sei – oder eben weiter abwarten und im Verlauf wieder und wieder zur Kontrolle kommen, wie sie es ihrerseits mit solchen Kleinigkeiten handhaben würde. Sie selbst habe übrigens keine Kinder, antwortete sie auf Nachfrage. Doch habe sie ja durch ihren Beruf mit vielen zu tun. Es lohne sich, „zuzuwarten und zu beobachten“.

Nach inzwischen 22 Wochen emotionalen Achterbahnfahrens, völlig konträren, teils teilnahmslosen, teils tendenziösen Aussagen der Ärzte, MRT-Untersuchung unter Valium und offenem, ja brutalem Ansprechen des Schwangerschaftsabbruchs aus Gründen der zu erwartenden schweren Behinderung unseres Kindes (inzwischen war u.a. von Epilepsie im schwersten Stadium die Rede, von der Notwendigkeit spezieller Tagesbetreuung, Lernschwierigkeiten, denen ich bei meinem Leistungsanspruch bestimmt nicht gewachsen sein würde), waren v.a. meine Nerven zum Zerreißen angespannt. Kurzerhand suchte ich einen Psychotherapeuten auf, der mich gegen sein Dogma, keine neuen Patienten mehr zu nehmen nur darum zuließ, weil seine Schwester meine Neurologin war und quasi auf Knien für mich anfragte. Die Gespräche halfen mir, mein Wirrwarr wieder etwas zu strukturieren und gaben mir zudem den Glauben an meine eigene Intuition zurück. Diese nämlich sagte mir, dass die Schweizer Ärzte sich offensichtlich vor einer Diagnose und den Folgen herumdrücken und Zeit schinden wollten, um schließlich mit dem rechtlichen Rahmen argumentieren zu können und einen Abbruch abzulehnen. Inzwischen hatte man uns sogar nach Deutschland zwecks einer „neutralen“ Drittmeinung verweisen, und worüber ich mich zunächst noch aufregte, sollte sich im Nachgang als das einzig Richtige herausstellen. Zuvor hatte ich noch gelobigt, mich gegen jeden weiteren „Ärzte-Tourismus“ zu wehren. Mit vereinten Kräften redeten die angeblichen Koryphäen des Frauenspitals dann auf mich ein, dass der Leverkusener Arzt ein in solch schwierigen Fällen von weither aufgesuchter Experte sei – und zudem dürfe man ja in Deutschland im Gegensatz zur Schweiz den Fetozid6 durchführen, falls berechtigt und durch die (physische oder psychische) gesundheitliche Gefährdung der Mutter begründet. Man selber könne so kurzfristig einen Antrag auf Abort nun ohnehin nicht mehr durchbringen; kein Ethikrat würde schon allein aufgrund von Größe und Gewicht des Foetus einem solchen zustimmen. Diese eher beiläufig erwähnte Randnotiz sorgte für jeglichen Verlust meiner übriggebliebenen Seelenruhe: Hatten sich die Schweizer Mediziner nun über die juristische Grenze gemogelt, so gestanden sie sich und uns nun doch die wohl extreme Gefährdung unseres Babys ein, und ein ausländischer Arzt sollte nun den Rest erledigen, an dem Sie selbst sich nicht hatten die Hände schmutzig machen wollen. Ich war außer mir. Wir bereiteten uns unter nicht länger zurückgehaltenen Tränen auf den Flug nach Düsseldorf bzw. in die Klinik nach Leverkusen vor. Es schmerzte mich ungemein, auch meinen Mann in solcher Weise mit sich kämpfen zu sehen. Wir waren uns grob darüber im Klaren, dass mit diesem Arztbesuch eine neue Meinung, nicht unbedingt eine endgültige Antwort oder auch ganz anders: eine absolute Entscheidungs-Hilfe zu erwarten sei. Nichts brauchten wir dringender als eine eindeutige Meinung, eine Entscheidung, und so schlossen wir stumm den Pakt, Leverkusen als letzte Station unseres Kampfes zu begreifen. Wie auch immer dieser ausgehen sollte. Unsere Kraftreserven waren aufgebraucht – und wir am letzten Tag der 23. Schwangerschaftswoche angelangt.

Teilnahmslos, fast demütig ließ ich mich in der Gynäkologie Leverkusen erneut untersuchen. Der Arzt wirkte, verglichen mit allen, die wir innerhalb der letzten Wochen in der Schweiz angetroffen hatten, sehr ruhig, souverän. Lange betrachtete er das Ultraschall-Bild auf dem Bildschirm vor sich – wir hatten gebeten, das Kind nicht sehen zu müssen, es sei denn, es sollte sich eine wundersame Wendung zutragen. Doch sollten wir unsere Tochter nicht mehr sehen, denn die Stellungnahme des Leverkusener Arztes war eindeutig, jedoch ohne besonderen Bezug zu den bereits gestellten Diagnosen: Herzfehler bzw. starke Ventrikel-Erweiterung bestätigte er ohne weitere Kommentare. Er stellte einen dritten, in der Schweiz angeblich (so sollte die spätere Stellungnahme lauten) übersehenen organischen Fehler fest: Die vom Herzen ausgehende und sämtliche inneren Organe versorgende Aorta unseres Kindes war zu fast 100% verengt, was ein Überleben nach der Geburt nahezu unmöglich machen würde, sollte es diese überhaupt überstehen. Die Worte seiner Rede durchdrangen meinen Gehörgang. Heute zweifle ich jedoch, ob ich völlig verstand. Sobald das zu Ende ausgesprochen war, trat eine lange, sehr lange Pause ein. Ich sah meinem Mann in die Augen, dann dem deutschen Arzt; dieser war sichtlich erschüttert. Es herrschte wortlose Einigung, und so bereitete der Arzt alles für den Fetozid vor, er hielt während des Eingriffs meinen Arm – er selbst hätte, v.a. im Sinne des Kindes, nicht anders entschieden.

Die Erleichterung, die uns neben der sich bereits einstellenden Trauer über den Verlust überkam, war von nur kurzer Dauer: Die Schweizer Ärzte verlangten eine „ordentliche“ (Tot-)Geburt des Kindes im Spital, was für mich drei weitere Überbrückungstage bis zur Einlieferung ins Spital und dort dreißig weitere Stunden Angst und Schmerzen bedeutete. Die Wehen wurden eingeleitet, die Geburt sollte im beängstigend großen Kreißsaal stattfinden und noch dazu in vollem Bewusstsein, dass mein Baby bereits tot, jedoch nach inzwischen sieben Monaten vollausgebildet war. Während der Wehen im Kreißsaal sprengten alttestamentarische Bilder von Fegefeuer und jüngstem Gericht meinen Kopf. Ich begann, die vergangenen Geschehnisse und auch das, was noch kommen solle, als gerechte Strafe für mein bislang nie reflektiertes, viel zu leicht Leben zu verstehen. Auch wurde die Realität um uns herum immer absurder: Im Kreißsaal ließ man uns zeitweise völlig allein, kein Arzt, keine Hebamme waren zu sehen. Als die Wehen zu schlimm wurden (das Kind kam in der Steißlage), wollte niemand mehr von der zuvor präzise abgesprochenen Anästhesie etwas wissen, das Kind war schon halb geboren, da endlich wurde ich punktiert.

Kurz nach alledem wollte man mir aufdrängen, das Kind nun auch noch in die Arme zu nehmen – ich verweigerte hartnäckig. Doch sei ich das dem Kind doch wohl schuldig (!) fuhr die Hebamme mich an, es habe schließlich so lange durchgehalten, und ich müsse meine Anerkennung zum Ausdruck bringen. Und sie ergoss eine Tirade, an welche sie sogar noch ihre eigene Geschichte von erfolglosen 10 (!) Eileiterschwangerschaften anschloss, damit mir (so wörtlich) auch ganz klar würde, dass meine Situation weitaus nicht die schlimmste sei und ich mich ja nicht zu bedauern bräuchte. Diese Predigt dauerte über eine Stunde.

Am Tag danach holten wir die Asche unserer Tochter in einer schlichten Urne am Friedhof ab und brachten sie mit dem Taxi nach Hause. Bereits am Tag der Einlieferung ins Krankenhaus und noch vor der Entbindung hatte man uns ruppig und deutlich unvertraut mit solchen Situationen die Unterlagen in die Hand gedrückt und mit Nachdruck erklärt: „Massengrab geht nicht“ – das Kind sei zu alt dafür, man nehme nur solche bis zur zwölften Woche. Ich hatte die grau-schwarz gestalteten Hochglanz -Broschüren gar nicht erst angeschaut, ich wollte das Kind einfach nur bei mir haben, darum bat ich, sie verbrennen zu lassen, und so verblieben wir dann auch. Plan war, unsere Tochter drei Tage lang bei uns zu Hause zu haben, dann ihre Asche von der mittleren Rheinbrücke in der Basler Innenstadt aus auf dem Rhein ausstreuen. Von dort könne sie dann in Richtung meiner Heimat fließen.

Vom Friedhof aus mit dem Taxi, die Urne in einem Papp-Karton und mit einem nichtssagenden Klebe-Zettel samt Bar-Code auf meinem Schoß nach Hause gefahren, brach ich dann endgültig zusammen: mehrere Tage andauernde Weinkrämpfe, mein Körper und auch mein Blick starr und kalt, konnte ich weder essen noch schlafen. Mein Mann, in dieser Zeit ein Wunder an Geduld und Verständnis, plante für uns kurzerhand vier Wochen Ferien weit entfernt von der Schweiz: die Summe all dessen, was ich sonst so sehr liebte, Sonne, Meer, eine Landschaft zum Erwandern und die südländische Kultur – doch saß ich nur reglos wie eine Puppe im Flugzeug, wir sprachen einsilbig, weinten gemeinsam. Trotz vieler Versuche, uns Gutes zu tun und uns etwas zu gönnen, sollten wir für nahezu sieben Monate weinen, zumindest daran änderte auch die telefonische Paarberatung nichts, durch die wir uns in den ersten zwei Wochen nach der Totgeburt begleiten ließen. Ich war mit meiner Einzeltherapie weiter fortgefahren, mein Mann hatte dagegen nie zuvor und auch während dieser Zeit keinen Begleiter aufgesucht. Zudem hatte er ein immer stärkeres Misstrauen gegen meinen Therapeuten entwickelt und fürchtete mittlerweile dessen Parteinahme gegen sich. An diesem Punkt gerieten wir später immer wieder in Kollision. Ein paar Monate vergingen, und ich lieferte mich selbst in eine auf Psychosomatik, speziell Traumatologie ausgerichtete Klinik ein, in der mein Mann mich besuchen konnte. Die Nächte über hielt ich es ohne ihn jedoch nicht aus und entließ mich schließlich selbst – mit einem Körpergewicht von 40kg, und ohne eine Verbesserung, was meinen Seelenzustand anging. Was auch nicht weiter verwunderlich war, denn das einmal wöchentlich stattfindende therapeutische Gespräch, Spaziergänge und Kreativarbeit waren nicht zwingend das Programm, das ich mir von dem angeblich so herausragenden Haus verhofft hatte.

Während vieler guter und schlechter Tage waren ein einfacher Zeichenblock und ein paar Wachskreiden unsere steten Begleiter, und wir malten und schrieben, sobald wir