Helmut Dahmer

Mit

GOETHE in SIZILIEN

oder

Die Entdeckung des sizilianischen Goethe

Titelbild: Concordia-Tempel, Agrigent

Books on Demand

»Dies ist ein unsäglich schönes Land,
obgleich ich nur ein Stückchen Küste davon kenne.«
Goethe aus Palermo am 18. April 1787

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 Helmut Dahmer ∙ Handewitt
Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:
Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-8482-9852-5

Goethes Reiseweg von Karlsbad nach Rom

Goethes Reiseweg von Neapel nach und durch Sizilien

INHALT

PROLOG

Wo die Zitronen blühn

Immer, wenn der kalte Ostwind weht, geht ein Ziehen durch das Land: zuerst zieht’s durch undichte Fensterrahmen, dann in den winterlahmen Gliedern, dann in den frühlingssüchtigen Seelen und dann zieht’s in den Süden. Jeder weitere nasskalte Januar-, Februar- oder Märztag steigert die Lust auf Licht und Sonne, auf blauen Himmel und Wärme und das Fernweh wird immer unerträglicher. Begierig werden Rettung verheißende, apfelsinfarbene, azurblaue Badewetter-Kataloge durchgeblättert und es dauert nicht lange, bis die unerträglich gewordene Sehnsucht allerorten bleiche Menschen in die Reisebüros treibt, um Aus=Flüge in die warmen Klimazonen zu buchen, dorthin, wo der Frühling bereits mit frischem Grün und lebensfrohen Farben Einzug in das neue Jahr gehalten hat.

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn …

Dahin! Dahin …

›Mignons Lied‹.

Eine Einladung. An dich. An mich.

Meine Würfel sind schon gefallen: Schluss mit dem Reden vom Wetter und ab nach Italien. Mit welchem Reisebüro?

Goethe. Garantiert ohne alle Formalitäten. Ich hätte eher drauf kommen können. Es muss großartig sein, Goethe einfach still beobachtend in den Süden zu folgen, sich überraschen zu lassen und zu genießen, wo immer es möglich ist. Ein bisschen anstrengend wird es auch werden. Der Weg. Damit ist zu rechnen.

Ich packe schon. Viel ist es nicht. Alles Erforderliche steht im Regal und wartet auf die Abfahrt: Die Italienische Reise.i Sie kann beginnen.

Viel Platz ist auf der Kutsche nicht, mit der sich Goethe bei Nacht und Nebel am 3. September 1786 aus Karlsbad davonstiehlt. Niemandem hat er ein Wort gesagt, wohl aus Angst, er würde es sonst nicht schaffen – nie mehr schaffen. Goethe ist abergläubisch. Erst hinter den Alpen will er ein Lebenszeichen von sich geben. Mit dem großen Gebirge im Rücken. Das gibt Sicherheit. Keiner weiß richtig Bescheid: weder die Geliebte, Charlotte von Steinii, noch der Herzog Carl Augustiii, sein Freund und Chef, noch die Herdersiv, mit denen er gerade seinen 37. Geburtstag am 28. August gefeiert hat. Der Tag, an dem er sich auf und davon macht, ist alles andere als ideal: der Herzog hat Geburtstag, wird 29 Jahre alt. Nur einer ist im Bilde, Philipp Seidelv, Goethes Diener und langjähriger vertrauter Hausgenosse. Der ist für die Logistik zuständig und verschwiegen wie ein Grab.

Goethe verschwindet mit einem schlechten Gewissen gegenüber allen, die er sitzen ließ. Dazu gehört auch sein Zögling, Fritz von Stein (1773-1844), Charlotte von Steins drittältester Sohn, den sie Goethe zur Erziehung überließ. Der nahm den 9-jährigen Knaben 1783 zu sich im Haus am Frauenplan auf, in dem er zu diesem Zeitpunkt noch zur Miete wohnte. Durch Teilnahme an Reisen, an der Erledigung der privaten Korrespondenz und der finanziellen Belange der Hauswirtschaft bildete er Fritz vielseitig und unkonventionell aus. Auch für ihn kommt das Ende dieser harmonischen Gemeinschaft abrupt. Goethe überlässt ihn sang- und klanglos seinem Schicksal in dem leeren Haus bzw. Philipp Seidel, der sein Bestes für den Jungen tut. Dieses schwarze Kapitel seiner Karlsbader Demission musste bei Charlotte von Stein auf allergrößtes Unverständnis stoßen und die aufgestauten Probleme zwischen ihnen erhöhen, vor deren Klärung Goethe sich ohnehin bis zuletzt drückte. Das doppelt und dreifach belastete Gewissen nimmt er nun mit auf die Reise und hofft, es unterwegs irgendwo, irgendwie los zu werden.

Fasst man Goethes Zustand am Ende des ersten Weimarer Jahrzehnts zusammen, so lautet die Kurzdiagnose: zu viel Arbeit, zu wenig Zeit zum Dichten, zu wenig Liebe. Von Italien erhofft er sich die Heilung seiner Gebrechen. Nur, wenn ihm das gelänge, sagt er, würde die Italienreise ihren Sinn erfüllen, wenn er befreit, gestärkt und verwandelt nach Weimar zurückkäme. Sonst könne er auch irgendwo draußen in der Welt bleiben.

Sicherheitshalber reist er inkognito als Philipp Möller, Kaufmann aus Leipzig, damit keiner auf die Idee kommt, dass sich unter dem großen Schlapphut auf der Kutsche der allerorten bekannte Werther-Dichter verbirgt, der Deutschland eilig verlässt. Goethe kann wirklich von Glück sagen, dass er kein Handy bei sich hat. Alle glauben, er wandere irgendwo im Böhmer Wald herum und genieße einsam botanische Freuden. Weit gefehlt. Er hat es eilig, muss weit weg, bevor herauskommt, wohin er aufgebrochen ist. Seine Schmerzenskinder hat er mitgenommen; sie heißen Iphigenie, Tasso, Egmont, Faust. Im Tasso, den er schon im März 1780 begonnen hatte, schreibt er sich alles von der Seele:

Nein, diese Stunde noch,
Wenn’s möglich ist! Es brennen mir die Sohlen
Auf diesem Marmorboden, eher kann
Mein Geist nicht Ruhe finden, bis der Staub
Des freien Wegs mich Eilenden umgibt.vii

Schon einmal war er auf dem Weg nach Italien eingeholt und zurückgeholt worden. In Heidelberg drehte er auf Wunsch des jungen Herzogs um, kam am 7. November 1775 in Weimar an und lernte vier Tage später Frau von Stein kennen. Lieber Engel ….2 Das lag elf Jahre zurück. Und jetzt auf der Flucht! Kaum fassbar für den Flüchtling. Für wen überhaupt?

Um halb acht in Zwota, schöner Nebelmorgen, um 12 Uhr in Eger bei heißem Sonnenschein, um fünf in Tischenreuth (heute Tirschenreuth), auf trefflicher Chaussee kommt man mit unglaublicher Schnelle fort3, weiter nach Weyda (Weiden), 1 Uhr nachts in Wernberg, Schwarzenfeld; Schwandorf um halb fünf: um zehen in Regenspurg – und hatte also diese 12¼ Posten oder 24½ Meile in 31 Stunden zurückgelegt. […] Regenspurg liegt gar schön, die Gegend mußte eine Stadt hierher locken. […] Wärest duvi nur mit mir, ich wäre den ganzen Tag gesprächich […] Wie glücklich mich meine Art die Welt anzusehn macht ist unsäglich, und was ich täglich lerne! […] Gewiß ich hoffe auf dieser Reise ein Paar Hauptfehler, die mir an kleben, loszuwerden.4

Er wird von dem Ladenbedienten einer Buchhandlung erkannt; leugnet, dass er’s sei, muss machen, dass er wegkommt; d 5ten halb 1 Mittag von Regensb[urg]5. […] um sechs in Neustadt, Geisenfeld um achte, Pfaffenhofen um 10 Uhr, d. 6. S. Unterbrück um 2, München um 6 in der frühe.6 Abends ums sechs hat er sein Münchner Pensum auch absolvirt...7 In der Bildergallerieii gewöhnt er seine Augen an Gemälde, in der Antikensammlung der Residenzviii bemerkt er, dass sie auf diese Gegenstände nicht geübt sind. […] Vieles will mir gar nicht ein.8 – Charlotte von Stein hätte es ihm sagen könne, warum nicht. Goethe erinnert sich lieber an die Worte eines Freundes: Herder hat wohl recht zu sagen: daß ich ein groses Kind bin und bleibe, und ietzt ist mir es so wohl daß ich ohngestraft meinem kindischen Wesen folgen kann.9

Er genießt diese ersten Tage der Lockerung der Schlinge, die wie eine Kette seinen Hals umschließt – ein vorübergehendes Vergnügen, bis ›sie‹ tüchtig daran ziehen wird. Noch weiß sie nicht, wo er steckt.

Morgen geht es grad nach Inspruck!10 Salzburg läßt er links liegen, auch das Zillertal. Was lass ich nicht alles liegen? um den Einen Gedancken auszuführen, der fast schon zu alt in meiner Seele geworden ist.11

Um 5 Uhr früh verlässt er München, Wohlfahrtshausen (Wolfratshausen) um 9 – Alle Welt iammert über das böse Wetter und daß der g r o s e G o t t gar keine Anstalten machen will.12 Benedickt Bayern (Benediktbeuern), Cochl. See, Walcher See (Walchensee). Es geht hinauf; Goethe zieht ehrfürchtig den Hut, als er den ersten beschneiten Gipfel sieht; Mittenwald um 6, scharfer Wind und eisige Kälte, keine Pause, Scharnitz, Seefeld. Das Klima ändert sich. Die Sonne war hoch und heis. Meine Garderobe, (eine Veste mit Ermeln und ein Uberrock,) die auf alle vier Jahreszeiten gerichtet ist mußte gewechselt werden, und sie wird offt des Tags 10mal gewechselt.13 Von Cirl hinab ins Inntal. Die Lage ist unbeschreib[lich] schön und der hohe Sonnenduft machte sie ganz herrlich. Ich habe nur einige Striche aufs Papier gezogen, der Postillon hatte noch keine Messe gehört und eilte sehr auf Inspr[uck,] es war Marien Tag. […] In Inspr [uck] und der Gegend mögt ich mit dir einen Monat verleben, mit solchem Wetter wie heute versteht sich.14

Weiter zum Brenner, wo er sechs Stunden später eintrifft. Es ist der 8. September 1786. […] hier a u f de m B r e n n e r, hier soll mein Rastort seyn, hier will ich eine Recapitulation der vergangnen sechs Tage machen, Dir schreiben und dann weiter gehn.15

Auf dem Gotthardtgipfel hatte er schon zweimal gestanden und sehnsuchtsvoll in Mignons Land geschaut. Das erste Mal war er auch einer Frau davongelaufen, genau einen Monat nach der inoffiziellen Verlobung am 16. April 1775, Ostersonntag. Die Verlassene hieß Lili Schönemann.

Gedankenvoll schreibt, sammelt, ordnet, heftet er alle bisherigen Blätterix: so findet sich’s das sie beynahe ein Buch werden, ich widme es dir. […] Lebe wohl! Gedenck an mich in dieser wichtigen Epoche meines Lebens.16

Und Charlotte von Steins Epoche? Ausgeblendet! Goethe lebt sich selbst in dieser ersten Phase der Italienreise und glaubt, auf der Alpenhöhe schon die ersten Zeichen der Wiedergeburt an sich wahrzunehmen – frei, endlich frei ...

Einen Tag dauert die Rast vom Rasen. Am Abend des 9. September verlässt er den Brenner-Gasthof. Der Gastwirt will die Pferde schon am nächsten Tag zurück haben. Im Mondschein geht es bergab nach Sterzing; der Kutscher schläft ein, die Pferde laufen weiter, kennen den Weg; in Brixen nachts um halb drei; alles schläft, nur die Postillione sind wach. Er sieht nicht viel bei der entsetzlichen Schnelle, (die Postillon fuhren daß einem oft Hören und Sehen verging)17. In Botzen kommt er bei Sonnenschein an. Überall Weinbau an den Hängen der Berge; Handel und Wandel florieren hier. Seide ist groß in Mode.

Die Unruhe in ihm treibt ihn weiter, stellt seinen Beobachtungsgeist auf die Probe, ob und wie mein Auge licht, rein und hell ist, was ich in der Geschwindigkeit fassen kann und mehr als das: ob die Falten, die sich in mein Gemüth geschlagen und gedruckt haben, wieder auszutilgen sind.18

Von Bozen geht’s von einem fruchtbaren und fruchtbarern Thal nach Trient. Die Natur wird zum Süden hin immer reicher. Alles was höher hinauf nur zu vegetiren anfängt hat nun hier schon alles mehr Krafft und Leben man glaubt wieder einmal an einen Gott.19 Spinozasx Geist liegt in der Luft. Er fühlt sich immer wohler wie ein Mensch, der von langer Fahrt aus der Fremde heimkehrt und den Vaterländischen Staub der manchmal starck auf den Strasen wird und von dem ich solang nichts gesehen habe20 als Willkommensgruss genießt. Und nun wenn es Abend wird und bey der milden Luft wenige Wolcken an den Bergen ruhn […] Es ist mir als wenn ich hier gebohren und erzogen wäre und nun von einer Grönlandsfahrt Von einem Wallfischfang zurückkäme.21

Nun weiß ›Lotte‹, wie sich Weimar für ihn anfühlte.

Trient, alt, ehrwürdig, Jesuitenkirche, um 5 Uhr abends an der Etsch entlang nach Roveredo. Das schöne Wetter dauert an. Man lebt hier anders als in Thüringen. Keiner macht die Fenster zu, die Türen stehen offen, keiner trägt Stiefel oder einen Rock aus Tuch. Ich komme recht wie ein nordischer Bär vom Gebirge. Ich will mir aber den Spas machen mich nach und nach in die Landstracht zu kleiden.22 Die Sprachgrenze ist erreicht. Endlich kann er die Sprache des geliebten Landes sprechen. Kein allzu großes Problem für Goethe, der schon im Elternhaus vom italienischen Sprachmeister Giovinazzi Unterricht erhielt, den Goethes Vater Johann Caspar (1710-1782) engagiert hatte, um die erste Fassung des Berichtes seiner eigenen Italienreise »Reise durch Italien im Jahre 1740« in italienischer Sprache »Viaggio per l’Italia« veröffentlichen zu können.

Verona hätte er bis zum Abend schaffen können, will sich aber den Lago di Garda nicht entgehen lassen; Feigen- und Ölbäume auf dem Weg zum Hafen von Torbole am nördlichen Ende des Sees. Der Wind macht, was er will. Das Boot mit zwei Ruderern kommt nur bis nach Malsesine: Habsburg ade, Venetien ahoi! Er will das Schloß für Charlotte zeichnen, was beinahe übel ausgegangen wäre. Die Einwohner fanden es verdächtig, weil hier die Gränze ist und sich alles vorm Kayser fürchtet.23 War der Allein-Reisende vielleicht ein habsburgischer Spion? Kaiser Joseph II., Sohn Maria Theresias, machte kein Geheimnis aus seinen territorialen Gelüsten auf Norditalien. Das Schloß, das Goethe für eine Ruine hielt, galt als Festung. Festungen zeichnen war verboten. Sein Charme, seine italienischen Sprachkenntnisse, seine offenbare Arglosigkeit und die Bequemlichkeit des Bürgermeisters, der den Fall selbst in die Hand genommen hatte, retteten ihn vor einem Aufenthalt im Stadtgefängnis von Verona.

Für einen als Maler getarnten preußischen Spion hielten ihn dagegen die Österreicher, die Goethe von ihrem Nachrichtendienst observieren ließen. Es wurde befürchtet, er mache bei den diplomatischen Vertretungen in Rom Stimmung für die Fürstenbund-Politik Friedrichs II. und gegen die Annexionsabsichten Josephs II. nördlich und südlich der Alpenxi. In einem Bericht an den österreichischen Fürsten Kaunitzxii verspricht dessen römischer Informantxiii, seinen Sekretär in »näheren Umgang« mit dem Personenkreis um Goethe zu setzen, »um hierdurch imstande zu sein, mit Sicherheit ein wachsames Auge auf seine Aufführung und allfällig geheime Absichten tragen zu können«24. Der weitere Bericht vom 24. März 1787 zeigt, wie präzise die Informationen über Goethes Tätigkeiten, Kontakte und Reisepläne waren. Goethe ahnte von alledem nichts, gab sich offenbar der naiven Täuschung hin, in Rom für alle Welt genauso »unterirdisch« zu sein wie für Weimar.

Von Malcesine reist er ohne amtliche Begleitung weiter nach Verona, erneut per Boot; doch in Bartolino steigt er aus und auf Maultiere um und kommt am 14. September gegen ein Uhr mittags in gewaltiger Hitze25 in Verona an. Ganze zwölf Tage sind seit Karlsbad vergangen, reich an Erlebnissen, als ob er sich seit längerem auf einer Weltreise befände. Das ist der große Unterschied zu einem 2-Stunden-Flug über den Wolken heute.

Von Verona aus nimmt Goethe zum ersten Mal Kontakt mit der Heimat auf. Am 18. September schreibt er drei Briefe. An den Herzog: Wo ich bin verschweig ich noch eine kleine Zeit. Es geht mir so gut daß mich es nur oft betrübt das Gute nicht teilen zu können26; an die Herders: Ein kleines Blättchen soll zu Euch kommen, und sagen daß ich wohl bin27; an Charlotte von Stein: Auf einem ganz kleinen Blättchen geb ich meiner Geliebten ein Lebenszeichen, ohne ihr doch noch zu sagen wo ich sei. Ich bin wohl und wünschte nur das Gute was ich genieße mit dir zu teilen, ein Wunsch der mich oft mit Sehnsucht überfällt.28 Die stillbar gewesen wäre. Wäre.

Diese Briefe schickt er an Philipp Seidel, der sie an die Adressaten verteilen soll und trägt ihm auf: In beiliegenden Briefen ist kein Ort angegeben, auch durch nichts angedeutet, wo ich sei, laß Dich auch, indem Du sie bestellst, weiter nicht heraus.29

Er ahnt die Reaktionen, die er von einer Briefempfängerin erwarten muss, die nicht weiß, wo sich ihr Geliebter seit eineinhalb Monaten aufhält; von einem Herzog, der den Mitgliedern der obersten Landesbehörde, dem Consilium, nicht erklären kann, wo sich sein Superminister befindet; von Freunden, die er an der Karlsbader Geburtstagskaffeetafel sitzen ließ.

Goethe kann von Glück reden, dass der Herzog weiß, was er an ihm hat und die Freunde ihn sogar zur Ausdehnung seiner Reise ermutigen. Nur Charlotte von Stein konnte nicht so nachsichtig sein. Hatte Goethe wirklich geglaubt, die Liebesschwüre, die Sehnsucht nach ihr, der ständig wiederholte Wunsch, sie an seiner Seite zu wissen, konnten bei ihr auf Glaubwürdigkeit stoßen? Wollte er sie glauben machen, woran er selbst nicht glaubte, was nur noch eine Gewohnheit war, ein Sprachritual, mit dem er sich selbst zu beruhigen versuchte? Während Goethe sich noch in illusionärer Liebes- und Treuerhetorik übte, spürte Charlotte bereits die nahende Endgültigkeit der Trennung. Wie tief sie der Vertrauensbruch des flüchtigen Freundes traf, vertraute sie bereits wenige Wochen nach Goethes Verschwinden ihrer Seelenfinsternis-Variante seines Gedichts An den Mond mit dem Zusatz »nach meiner Manier« an:

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Da des Freundes Auge mild
Nie mehr kehrt zurück.

Lösch’ das Bild aus meinem Herz
Vom geschiednen Freund,
Dem unausgesprochner Schmerz
Stille Thräne weint. 30

Drei Tage Verona. Am 19. September Vicenza. Die Realbegegnung mit der Architektur Palladiosxiv ist der absolute Höhepunkt der Anreise nach Rom und wird Goethes Kunstauffassung lebenslang prägen. Schon nach einigen Stunden hat er die stilprägenden Gebäude des bedeutendsten italienischen Renaissance-Baumeisters gesehen. Voller Bewunderung trägt er ins Tagebuch ein: Wenn man diese Wercke nicht gegenwärtig sieht, hat man doch keinen Begriff davon. Palladio ist ein recht innerlich und von innen heraus groser Mensch gewesen.31 Er habe ihm den Weg zu aller Kunst und Leben geöffnet.32- Am 20. September fährt er hinaus vor die Stadt zu ›dem‹ Meisterwerk Palladios: Auch hab ich heute die famose Rotonda, das Landhaus des Marchese Capri gesehn, hier konnte der Baumeister machen was er wollte und er hats beynahe ein wenig zu toll gemacht. Doch hab ich auch hier sein herrliches Genie zu bewundern Gelegenheit gefunden.33

Auch die Vicentinerinnen, befindet er, seien gut gebaut und so kann er am Ende dieses reichen Tages in der ›Città del Palladio‹ seiner Geliebten Erbauliches mitteilen: Auch bin ich wohl und von glücklichem Humor.34 Noch hat sie das Tagebuch nicht.

In Padua angekommen, schreibt er Charlotte zur späten Abendstunde die vielleicht schönsten, wenngleich bitter-süßen Zeilen in das Tagebuch:

Abends. 27. S.

Wie gewöhnlich meine liebe wenn das Ave Maria della Seraxv gebetet wird, wend ich meine Gedancken zu dir; ob ich mich gleich nicht so ausdrücken darf, denn sie sind den ganzen Tag bey dir. Ach daß wir doch recht wüßten was wir an einander haben wenn wir beysammen sind.35

Padua erfüllt ihm einen langgehegten Herzenswunsch: Endlich habe ich die Werke des Palladio erlangt.36 Mit der 4-bändigen Werkausgabe im anschwellenden Gepäck geht’s per Boot auf der Brenta nach Venedig; Erinnerungen an seinen Vater werden lebendig, der von hier das Gondelmodell mitbrachte, das zu Johann Wolfgangs ersten Spielzeugen gehörte. Die Italiensehnsucht war ihm quasi in die Wiege gelegt. Drei Tage läuft er in der Lagunenstadt herum, mit wachem Sinn für das Typische und Charakteristische, bevor er das Besondere in Augenschein nimmt. Das ist seine Art der Stadterkundung.

Mit Rom in greifbarer Nähe und Weimar außer Reichweite kann er ins Tagebuch eintragen, was ihn wirklich forttrieb: Jetzt darf ich’s sagen, darf meine Kranckheit und thorheit gestehen. Schon einige Jahre hab ich keinen lateinischen Schriftsteller ansehen, nichts was nur ein Bild von Italien erneuerte berühren dürfen ohne die entsetzlichsten Schmerzen zu leiden.37 Das ist wahr, aber nur die halbe Wahrheit.

Von Venedig aus, wo er zwei Wochen bleibt, bringt er am Abreisetag, dem 14. Oktober 1786, die zweite Postsendung auf den Weg. Charlotte von Stein kündigt er den Versand des ersten Teils des Tagebuchs an; auch Kaffee, ihr Lieblingsgetränk, aus Alexandria importiert, geht mit. Versand und Verteilung weiterhin über Seidel, den er erneut ausdrücklich ermahnt: Was Dich betrifft du tust vor wie nach als wüßtest du nicht wo ich sei.38 Es ist schon ein wenig »mystisch« um Goethes Verdunklungsmanie bestellt.

Je näher er Roma kommt, desto größer wird seine Unruhe. Schon in Padua schreibt er ins Tagebuch: daß gar so viel auf mich gleichsam eindringt dessen ich mich nicht erwehren kann daß meine Existenz wie ein Schneeball wächst, und manchmal ists als wenn mein Kopf es nicht fassen noch ertragen könnte…39 Ein beängstigendes Gefühl. Drei riesige Brocken liegen noch vor seinem Ziel: Ferrara, Bologna, Florenz. In Ferrara nimmt er sich wenigstens Zeit, das Gefängnis des unglücklichen historischen Tasso (1544-1595) zu besuchen, der hier geistig umnachtet einsaß.

Rastlos geht’s am nächsten Tag über Cento weiter nach Bologna, wo er im Tagebuch unter dem 18. Oktober festhält: Ich habe eben einen Entschluß gefaßt der mich sehr beruhigt. Ich will nur durch Florenz durchgehn und grade auf Rom. Ich habe keinen Genuß an nichts, biß jenes erste Bedürfniß gestillt ist, gestern in Cento, heute hier, ich eile nur gleichsam ängstlich vorbey daß mir die Zeit verstreichen möge.40

Bologna überfordert ihn endgültig. Norbert Miller, Mitherausgeber der Münchener Goethe-Ausgabe, schreibt in seiner »Einleitung« zum Reise-Tagebuch: »Um in die Besonderheiten der Bolognesischen Kunst einzudringen, hätte G. das Mehrfache der Zeit gebraucht, die er sich gönnen wollte. Die fremde Welt dieser Stadt, ihre geschichtliche Entwicklung und ihre artistischen Eigenheiten, so sich anzueignen, wie er das in Vicenza für den Reisenden postuliert hatte, waren die wenigen Tage nicht ausreichend, die er seiner Ungeduld noch abzwang. Drei Tage nur, dann war er aus Bologna getrieben worden, um vor Rom nicht einmal mehr ruhig innezuhalten.«41 Florenz ›macht‹ er in ganzen drei Stunden, Siena überhaupt nicht. In der nächsten Station gesteht er sein Dilemma schriftlich: In Perugia hab ich nichts gesehn, aus Zufall und Schuld.42

Die Raserei auf der Zielgeraden ist gänzlich das Gegenteil davon, wie er sich seinen italienischen Kunstgenuß vorgestellt hatte: Ich gehe nur immer herum und herum und sehe und übe mein Aug und meinen innern Sinn.43 Die Ruhe der ersten Wochen ist hin. Die Panik, die ihn vor den Toren Roms überkommt – als könne er zu einer alles entscheidenden Veranstaltung zu spät kommen – wird von Norbert Miller zutreffend als Goethes »Bologneser Krise« und als »Flucht aus der Flucht«44 bezeichnet. Mir läuft die Welt unter den Füßen fort45 gesteht er und bei seiner Ankunft in Rom wenige Tage später: Über das Tiroler Gebirg bin ich gleichsam weggeflogen. Verona, Vicenz, Padua, Venedig habe ich gut, Ferrara, Cento, Bologna flüchtig und Florenz kaum gesehen. Die Begierde, nach Rom zu kommen, war so groß, wuchs so sehr mit jedem Augenblicke, daß kein Bleiben mehr war, und ich mich nur drei Stunden in Florenz aufhielt.46

In Anbetracht der zunehmenden Hast und Blindheit für alles, was ihn umgibt, verwundert es, dass Heinrich Niederer in seinem Essay von 1980 zu dem Ergebnis kommt, die Reise sei »vom Aufbruch bis zur Wiedereingliederung«47 ein Musterbeispiel für »entfaltete Reisekunst«48, mit der Goethe »dem Publikum seines Vaterlandes ein Reisekonzept als Vorbild vor Augen gestellt«49 habe. Andere Autoren50 stellen demgegenüber fest, wie wenig sich die Italienische Reise als Reiseanleitung oder Reisehandbuch eignet und erfassen in mehr oder weniger langen Katalogen, was Goethe alles nicht sah oder ›falsch‹ sah. Dieser hatte allerdings nie im Sinn, mit der Italienischen Reise sein Debüt als Reiseleiter zu geben. Die vermeintlichen Mängellisten sind bei genauerer Betrachtung Markierungen des ganz eigenen Weges, den Goethe in Italien wählte. Dieser stand von Anfang an nicht im Zeichen eines enzyklopädischen Erfassens und Erforschens der Kunst Italiens, sondern folgte äußerst persönlichen Zielen, in deren Spektrum die Begegnung mit der Kunst Italiens nicht Selbstzweck, sondern primär Mittel zum Zweck war, um im Medium der Kunst neuen Boden unter den weimar-wunden Füßen zu gewinnen. Diese Zielsetzung hält er in Venedig explizit durch einen Eintrag im Reisetagebuch fest: Auf dieser Reise hoff ich will ich mein Gemüth über die schönen Künste beruhigen, ihr heilig Bild mir recht in die Seele prägen und zum stillen Genuß bewahren.51

Am Abend des 29. Oktober 1786 kommt Goethe nach knapp zweimonatiger Reise in Rom an. Er jubelt: Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt52 und: Endlich kann ich den Mund auftun und meine Freunde mit Frohsinn begrüßen. Verziehen sei mir das Geheimnis und die gleichsam unterirdische Reise hierher. Kaum wagte ich mir selbst zu sagen, wohin ich ging, selbst unterwegs fürchtete ich noch, und nur unter der Porta del Popolo war ich mir gewiß, Rom zu haben.53

Erstmalig sendet er seine Briefe mit vollständigem Absender versehen direkt an die Empfänger: am 1. November an den Freundeskreis, am 3. November an den Herzog, am 4. November an seine Mutter nach Frankfurt und zuletzt, am 7. November an Charlotte von Stein, die sich über diese Zurücksetzung ärgerte und es Goethe fühlen ließ. Am 16. Dezember beantwortet er einen Brief, den er von den Herders bekam, in dem es heißt: Wie herzlich freut es mich daß Ihr mein Verschwinden so ganz wie ich wünschte genommen. Versöhnt mir Fr. v. Stein und den Herzog, ich habe niemand kränken wollen und kann nun auch nichts sagen um mich zu rechtfertigen.54

Charlotte von Stein findet Goethe zunächst mit einem Zettelchen ab, das sie einer Sendung Seidels an Goethe beigibt, auf den Goethe am 13. Dezember niedergeschlagen und reuig antwortet: Dein Zettelchen hat mich geschmerzt aber am meisten dadrum daß ich dir Schmerzen verursacht habe. Du willst mir schweigen? Du willst die Zeugnisse deiner Liebe zurücknehmen? Das kannst du nicht ohne viel zu leiden, und ich bin schuld daran.55 Schmerzen, die ihn auf Schritt und Tritt begleiten werden.

Die erste Nachricht aus Charlotte von Steins verwaister Gefühlswelt lässt Goethe endgültig aus der Seligkeitswolke, auf der er über den Brenner schwebte, abstürzen und hart auf dem Boden der Tatsachen landen, die er in Weimar unverrichtet hinterlassen hatte. Diesen Absturz blenden Goethe-Autoren gerne aus, die glauben, mit der Schaffung der Illusion vom prästabilisierten Glück dem italienreisenden Goethe die Ehre zu geben. »Die Reise nach Italien ist in der Tat für Goethe wieder eine Schulzeit; er wandert mit jungem Herzen, unbekümmert und vergnügt wie ein Student im ersten Semester, und freut sich der akademischen Freiheit …«56 schreibt Josef Hofmiller in »Wege zu Goethe«.

Anders als dieser Glauben machen will, war sich Goethe des Ausnahmezustands, den er sich auf der Anfahrt nach Rom gönnte, völlig bewusst, denn Seidel ermahnte er schon bei der ersten Briefsendung im Oktober: Du schickst mir nichts nach, es wäre denn höchst nötig, denn ich will Rom ohne Erwartung nordischer Nachrichten betreten.57 Er ahnte nichts Gutes aus dieser Richtung, besonders vom Hoch-Kochberg nicht, dem Landgut der von Steins 30km südlich von Weimar in der Nähe von Rudolstadt, auf das sich Charlotte mehr und mehr zurückzog. Goethe mobilisiert bereits zu Beginn der Reise zum Zwecke des Selbstschutzes ein erstaunlich selektives Wahrnehmungstalent, das er im Verlauf der Reise gezwungenermaßen zu einer Überlebensmethode kultiviert. Doch darf man sich nicht täuschen: hinter dem wiederholten Rückzug in eine ›splendid isolation‹ stand der angestrengte Versuch, stressfreie Nischen zu finden, um zu sich selbst zu kommen. Die Kunst war eine solche, von der er am Ziel seiner Sehnsüchte Heilung von allen seinen Leiden erwartete.

In Rom passt er flexibel sein Inkognito den neuen Lebensbedingungen an und nennt sich von nun an: Filippo Miller, tedesco, pittore 32. Die erhoffte Verjüngung nimmt er im amtlichen Fremdenverzeichnis schon mal vorweg, nicht ahnend, dass bis dahin noch ein langer, beschwerlicher Weg vor ihm lag, den er sich durch den selbstverschuldeten Zwang zur Fortsetzung des Weimarer Scheins und Seins erheblich erschwerte.

Goethe hatte den Italienaufenthalt für ca. ein Jahr geplant. Im August 1787 wollte er zurückkehren, um am 28. d. M. seinen 38. Geburtstag in der Heimat zu feiern. Zunächst standen vier prall gefüllte Kunstmonate Rom auf dem Programm. Ende Februar 1787 reiste er weiter nach Neapel. Den Vesuv wollte er unbedingt besteigen und möglichst einen ›schönen‹ Ausbruch mit rot-glühender Lava aus nächster Nähe miterleben. April, Mai: Beginn des Rückweges. Das war sein ursprünglicher Plan.

Und dann kommt alles anders. Ende März 1787 in Neapel entschließt sich Goethe, die Reise nach Sizilien fortzusetzen. Etwas Entscheidendes ist passiert. Was es ist, lässt sich nur ahnen. Doch die Ursachen und Auswirkungen werden von Tag zu Tag deutlicher, sofern man Goethe nicht nach Sizilien verschwinden lässt, sondern ihm folgt und in Palermo und während der Inselreise aufmerksam beobachtet. Dort kommt ein entzwängter, veränderter Goethe zum Vorschein, der schon den Geniekultbildnern seiner Zeit quer lag.

Zurück zu den Anfängen! – Rom stillte Goethes ersten, großen Kunsthunger, Neapel weckte seine Lebensgeister, Sizilien eroberte seine Seele. Die insulare Metamorphose im Zeitraffertempo transformierte meine ursprüngliche Arbeitsbezeichnung, der ›sizilianische Goethe‹, in einen Wesensbegriff, der sich Stück für Stück mit Charakterzügen auffüllte, die den post-italienischen Goethe prägten und bei seiner Heimkehr für ebenso große Verwirrung sorgten wie die gewaltige Bildungsfracht, die er im Gepäck hatte.

An dieser Stelle begann mich die Frage zu reizen, ob der ›sizilianische‹ Goethe der heutigen Goethe-Forschung ein guter Bekannter sei. Daran sollte sich entscheiden, ob das Kapitel »Die Entdeckung des sizilianischen Goethe« noch geschrieben werden müsste oder längst bekannt war.

Goethe in Sizilien?

Orientiert man sich zunächst in den zahlreich vorliegenden Goethe-Biographien unterschiedlichen Umfangs über den mittleren Lebensabschnitt, in den die Italienreise vom September 1786 bis Juni 1788 fällt, verfestigt sich schon bald der Eindruck, Goethe sei eigentlich nur in Rom gewesen. Während die zwei Aufenthalte in Neapel noch erwähnenswerte Kulturabstecher sind, wird die sizilianische Reise wie eine Auszeit behandelt, die man im Italiengesamt durchaus vernachlässigen kann – ganz erstaunlich, wenn man in Betracht zieht, was Goethe über sein Sizilien-Erlebnis sagte: Italien ohne Sizilien macht gar kein Bild in der Seele; hier ist erst der Schlüssel zu allem.58

Die gängige Bewertung der Reisestationen folgt dem chronischen Nord-Südgefälle des Landes und orientiert sich überwiegend am ›Kulturgewicht‹ der Standorte Rom, Neapel, Sizilien in Verbindung mit der jeweiligen Aufenthaltsdauer: von den insgesamt eindreiviertel Jahren in Italien, beginnend mit der heimlichen Abreise von Karlsbad am 3. September 1786, entfällt auf Rom (Ankunft 29. Okt.) mit insgesamt 15 Monaten der Löwenanteil, gegenüber dem sich die jeweils eineinhalb Monate Neapel und Sizilien in der Tat bescheiden ausnehmen. Auffällig ist, dass Goethes Berichterstattung von den Reiseabschnitten nicht ihrem chronographischen Verhältnis entspricht: unter Berücksichtigung der jeweiligen Aufenthaltsdauer übertrifft die Berichterstattung aus Sizilien bei weitem die der Rom- und Neapelaufenthalte. Bedenkt man in diesem Zusammenhang Platons Ansicht, die unterschiedliche Bedeutung der Abschnitte eines Schriftwerks müsse sich proportional im jeweiligen Umfang abbilden, so könnte dieser Aspekt ein bedeutsamer Hinweis auf die innere Gewichtsverteilung in der Buchveröffentlichung der Italienischen Reise sein.

Im Segment der großen Goethe-Biographien der letzten Jahrzehnte ist Richard Friedenthals 1963er Studie »Goethe. Sein Leben und Werk« zu nennen, die zwei unerhebliche Absätze über Sizilien enthält; sodann die von Karl Otto Conrady verfasste Lebensbeschreibung (Goethe. Leben und Werk; 1982), in der Sizilien mit keinem Wort erwähnt wird. Demgegenüber widmet sich erfreulicherweise die 1991 erschienene enzyklopädische Goethe-Biographie von Nicholas Boyle (deutsch 1995/99) im siebten Kapitel »Endlich nach Italien« auf mehr als einhundert Seiten der Reise Goethes in das gelobte Land. Zwanzig Seiten gelten dem Sizilienaufenthalt, auf dessen Bearbeitung und Bewertung durch den Cambridge-Professor später gebührend eingegangen wird.

Selbst die ausschließlich auf die Italienreise spezialisierte Fachliteratur liefert ebenso selten wie die Biographien Gesamtdarstellungen von Goethes fast 2-jährigem Leben im Ausland. Der sizilianische Abschnitt wird auch hier im chronologischen wie im autobiographischen Kontinuum der Reise kaum zur Kenntnis genommen. Dagegen liegen zahllose Untersuchungen vor, die Einzelaspekte globaler Italienthemen vertiefen wie Goethes Begegnung mit der Weltkunst Roms, mit Tizian, Raffael oder Michelangelo usw., mit dem griechisch-römischen Altertumserbe in Kunst und Architektur oder mit Goethes eigenen Bemühungen als bildender Künstler, um nur einiges zu nennen.59 Alle Einzelbetrachtungen reflektieren den Reichtum eines Geistes, dessen Unerschöpflichkeit es nahelegt, immer wieder in lokale Tiefen des goetheschen Genius einzutauchen. Dementsprechend ist die literatur-, kunst- und geschichtswissenschaftliche Reisebearbeitung überwiegend auf Rom konzentriert. Die Erwähnung Siziliens beschränkt sich auf die wenigen ›Bonbons‹ wie die Urpflanzen-Thematik oder Goethes neu erwachtes Interesse an Homer. Der Rest ist Schweigen. Dem selektiven Zugriff entgehen dabei Erkenntnisse, die nur einer kontinuierlichen Goethe-Erforschung »unterhalb« dieser Bildungsoberfläche zugänglich sind. Nirgendwo gilt das mehr als in Sizilien, wo allein die intensive Verfolgung des inneren und äußeren Reiseverlaufs Beobachtungen erschließt, die die Entdeckung des ›sizilianischen‹ Goethe möglich machen, die in einer Gesamtschau seines Lebens unverzichtbar ist.

Nur wenige Autoren weisen offen auf das ›schwarze Loch‹ in der literaturwissenschaftlichen Aufarbeitung der Italienreise hin. Peter Boerner, Goethe-Herausgeber und Verfasser einer Goethe-Biographie (»Goethe«, 1964), stellt in einem Beitrag von 1985 über Goethes »Italienische Reise (1816-1829)«xvi fest: »Einmal gilt es, die Frage aufzuwerfen, warum in der Tat so wenige Ansätze zu einer umfassenden Behandlung existieren; zum anderen soll hier postuliert werden, daß das Werk durchaus strittige Aspekte enthält, daß aber gerade diese Aspekte bisher weitgehend ignoriert wurden.«60 Einer dieser Aspekte sei die »äußerliche Heterogenität der Italienischen Reise«.61 Es stelle sich die Frage, wie denn »dieses formal so unausgeglichene Werk eines der heitersten Kapitel in Goethes Lebensgeschichte spiegeln soll«62. Boerners Kritik bringt die Sachlage auf den Punkt. Die meisten Goethe-Autoren huldigen mehr oder weniger verdeckt einem lupenreinen Dichterfürsten-Kult, der durch nichts beschädigt werden darf – als könne diese exzeptionelle Vita allen Ernstes durch irgendeine ›unangenehme‹ Enthüllung Schaden nehmen. Folglich wird die ausgewachsene Lebenskrise am Ende des Weimarer Jahrzehnts, die Goethe nicht in Karlsbad, sondern in Italien ausschwitzen wollte, bagatellisiert oder vollständig ignoriert, weil sie nicht in die verbreitete Goethe-Idolatrie passt.

Auf die Notwendigkeit einer ganzheitlich-psychologischen Analyse des Italienaufenthalts Goethes weist Norbert Miller hin. »Mit der Ausleuchtung psychischer Vorgänge und Substrukturen ist sicher nicht der Universalschlüssel für das Goethe-Verständnis zu gewinnen. Es läßt sich andererseits aber nicht übersehen, daß der italienischen Reise – gerade unter dem Gesichtspunkt der Krisensymptomatik – ein Komplex des Untergründigen, nicht unmittelbar Ausgesprochenen, aber noch Erschließbaren zugehört, ohne den diese Flucht und Selbsterziehung, dieser grandiose Versuch einer Selbstheilung nicht recht verstehbar wäre.«63 Millers 2002 erschienene Studie »Der Wanderer ∙ Goethe in Italien« präsentiert eine kenntnisreiche Italienanalyse, die mit ihrer sensiblen Psychoanalytik des Wanderers in Sizilien eine Ausnahme auf einem weitgehend unerforschten Terrain der mit Goethe befassten Italienliteratur darstellt.

Das Fazit:

Der unerwartete Befund, auf einen in der Literaturwissenschaft fast vergessenen Goethe in Sizilien zu stoßen, reizte, Goethe auf seiner sechswöchigen Reise durch Sizilien zu folgen und dabei die Schönheit der Insel, ihre antiken Kulturzeugnisse und die durch Natur und Geschichte geprägten Menschen mit goetheschen Augen zu sehen und dabei jene Metamorphose zu verfolgen und zu beschreiben, die den ›sizilianischen Goethe‹ hervorbrachte, dessen neugeborenen Stern viele Goethe-Autoren feiern, ohne zu sagen, wo er aufging.

Die gewünschte und wünschenswerte Zuwendung zu dieser verlockenden Aufgabe war allein vom Schreibtisch her nicht machbar. So folgte im März/ April 2008 eine Reise nach Palermo und von dort nach Messina auf den längst verwischten Fußstapfen Goethes in Sizilien. Ein ganz anderer als der übliche Urlaubsblick führte mich durch die Gassen Palermos, durch die wechselnden Landschaften der Insel oder hinauf zu Taorminas griechischem Theater und ließ mich die Insel quasi doppelt sehen. Manche Eindrücke und Erkenntnisse sind unmittelbar in den Text eingeflossen, andere haben in der Nachschrift »PALERMO 2008 ∙ SPUREN IM REGEN« ihren wetterent sprechenden schriftlichen ›Niederschlag‹ gefunden.


i Goethes Tagebuch seiner Reise nach Italien 1786-88; mehr dazu S. 23ff. u. S. 201ff.

ii Charlotte von Stein (1742-1827), geb. von Schardt

iii Carl August (1757-1828); ältester Sohn Anna Amalias; ab 1775 Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach; im selben Jahr heiratete er die ebenfalls 18-jährige Louise von Hessen-Darmstadt (1757-1830); ab 1815 Großherzog v. Sachsen-Weimar-Eisenach

iv Johann Gottfried Herder (1744-1803); Schriftsteller, Theologe, Philosoph; hatte großen Einfluss auf Goethe seit der ersten Begegnung in Straßburg 1770, wo Goethe Jura studierte; seit 1773 verheiratet mit Karoline Herder (1750-1809)

v Philipp Friedrich Seidel (1755-1820), der schon im Frankfurter Elternhaus Goethes als Hauslehrer seiner Schwester Cornelia und als Schreiber seines Vaters tätig war, folgte ihm 1775 als Kammerdiener, Sekretär und Reisebegleiter nach Weimar; starb 1820 nach einem halbjährigen Aufenthalt in einem Jenaer Irrenhaus

vi gemeint ist Charlotte von Stein; siehe Fußnote nächste Seite

vii Damals noch an der Nordseite der Residenz, heute in der Alten Pinakothek

viii heute in der Glyptothek und Staatlichen Antikensammlung am Königsplatz

ix aus diesen Blättern, die er bis Verona gar nicht abschickte, stellte Goethe das »Tagebuch der Italienischen Reise für Frau von Stein (1786)« zusammen, welches er später in den Text der »Italienischen Reise« einarbeitete. Ausführlich dazu S. 201ff.

x Baruch Spinoza (1632-1677), Amsterdamer Philosoph; in Spinozas phil.-theol. Weltbild fand Goethe die Bestätigung seiner Auffassung der Gott-Natur-Einheit, deren anti-metaphysische Tendenz er in der Diskussion mit Herder überwand; die Beschäftigung mit Spinoza fand in einer kleinen Schrift Goethes vom Winter 1784/85 Studie nach Spinoza ihren Niederschlag

xi mehr dazu S. 35f.

xii Wenzel Anton Graf Kaunitz (1711-1794), Staatskanzler (und vieles mehr), nahm unter Maria Theresia und Joseph II. maßgeblichen Einfluss auf die österreichische Außenpolitik

xiii Der römische Informant war Kardinal Graf zu Herzan und Harrach

xiv Andrea Palladio (1508-1580), geb. und gest. im Padua, überwiegend in Vicenza tätig, wo Goethe dessen Olympisches Theater, die Basilika und die Villa Rotonda sah. Palladios Verschmelzung antiker Baukunst mit römischer Majestät und einem venezianischen Sinn für das Malerische wurde Grundlage des gesamten Klassizismus des 17. + 18. Jahrhunderts (vgl. HA 11, S. 592f.)

xv Das zur Abendandacht gebetete Ave Maria

xvi die Jahreszahlen beziehen sich nicht auf die Reisedaten, sondern auf die Veröffentlichungsdaten der Italienischen Reise

ERSTES KAPITEL

Weimarer Vorspiel

Während sich Goethe in Neapel an Bord des Seglers auf eine unerwartet lange Seereise nach Palermo begibt, soll diese Überfahrt-Pause genutzt werden, um sowohl die vor-italienische Situation in Weimar als auch die ersten Erfahrungen Goethes auf italienischem Boden ins Blickfeld der stillen Begleiter zu rücken. Dies erscheint auf dem Hintergrund des diagnostizierten biographischen Sizilienlochs notwendig, um von den Voraussetzungen der Reise ausgehend der Entwicklung ›aufgeklärter‹ nachspüren zu können, die den auf dem italienischen Festland vergeblich Halt Suchenden zur Loslösung von diesem veranlasste, um der unerfüllten Selbstfindung auf dem klassischen Boden Siziliens eine neue, letzte Chance zu geben.

So unbestritten die italienische Reise ›das‹ zentrale Ereignis in Goethes Lebensmitte ist, so strittig ist ihre literaturwissenschaftliche Deutung. Keine andere Lebensphase ist so nachhaltig unter die Räder vorgefasster Goethe-Bilder geraten wie diese. Die idolisierenden beherrschen nach wie vor die Szene und neigen nicht unerwartet zu einer Verharmlosung der alles auslösenden Weimarer Krise, wollen von einer ›Flucht‹ des Dichters nach Italien gar nichts wissen – dieses ungeachtet der Tatsache, daß Goethe sein urplötzliches Verschwinden selbst als Hegirexvii bezeichnete. Heinrich Niederer (»Goethes unzeitgemäße Reise nach Italien«, 1980) hält das für einen Irrtum, vielleicht für eine Irreführung, denn die Abschiedsbriefe Goethes an seine Freunde und Vertrauten seien der unzweifelhafte Beweis für eine wohlgeplante, alles andere als überstürzte Aktion.

Werfen wir mit Niederer einen Blick in die drei Abschiedsbriefe, die Goethe unmittelbar vor seinem ›Abgang‹ am 1. und 2. September 1786 schrieb. Dem Freund und Chef, Herzog Carl August, versichert er, dass er seinen Arbeitsplatz geordnet und auf längere Zeit entbehrlich verlasse und bittet ihn rückwirkend um den im Vorwege selbst erteilten unbestimmten Urlaub64; die Herders müssen sich mit einem herzlichen Lebet recht wohl!65 bescheiden und sollen etwas für ihn tun: Saget den Überbleibenden viel Schönes und womöglich etwas Vernünftiges in meinem Namen , damit sie mir den heimlichen Abschied verzeihen66 Goethe überlässt dem Einfallsreichtum der engsten Freunde, wofür er selbst offenbar weder eine plausible Erklärung, noch die notwendige Zeit hatte: Ich muß enden und eilen um der Witterung und anderer Umstände willen67, die er nicht nennt. Panisch ist dieser Abschied nicht, aber ein Musterbeispiel an Planung auch nicht.

Eine besonders geglückte Abschiedsbotschaft, so Niederer, sei die an Charlotte von Stein: »Seine Geliebte bestürmt er, ihn weiterhin zu lieben, denn er bedarf zu seinem Wagnis der emotionalen Sicherheit, die ihm diese Liebe gewährt und ihm die Mühen der Reise durch die Aussicht auf einen liebevollen Empfang erträglich und sinnvoll macht.«68 Einerseits erweckt diese Darstellung den Eindruck, der Herzog habe Goethe auf eine ferne diplomatische Mission abgeordert und von der Geliebten herzzerreißend zwangsgetrennt – andererseits wird die Rolle deutlich, die Niederer der Sitzengelassenen wie ein höheres Schicksal zumutet: sie hat nicht etwa einen Anspruch auf sich selbst. Ihre Berufung erfüllt sich vielmehr im Verzicht auf sich selbst im Dienst an etwas Höherem, das sie mit ihrer ganzen mütterlichen Musenkraft zu fördern hat. »Dies«, befindet Ernst Beutler (Hrsg. der Artemis Goethe-Gedenkausgabe von 1949), sei »das Geheimnis ihrer Sendung«69 gewesen. Niederer erwähnt immerhin, dass Goethe in seinem letzten Brief an Frau von Stein am 1. September 1786 andeute, »daß er wegen seines ungeklärten Verhältnisses zu ihr nun in die Einsamkeit der Welt hinausgehe«70, verspräche ihr aber, schon Ende September – drei bis vier schweigende Wochen später – ein Röllgen Zeichnungen71 zu schicken! Und schließlich, so Niederer, beende er sein Abschiedsgesuch mit der herzlichen Bitte: Liebe mich, und sage mirs damit ich mich des Lebens freuen könne.72 Gezeichnet G. Das war’s. – War das vorbildlich?

Alle drei Briefe erreichten die Empfänger erst nach seiner Demission. Wenn etwas geplant war, dann das. Frau von Stein war einige Tage zuvor nach Ober-Kochberg abgereist und der Herzog nach Weimar zurückgekehrt. Allein die Herders weilten noch mit einigen anderen Überbleibenden in Karlsbad und konnten am Morgen des 3. September 1786 nur noch das sang- und klanglose Verschwinden ihres Freundes als Tatsache konstatieren und darüber rätseln, warum er diese abrupte, alle vor den Kopf stoßende Form des Abschieds gewählt hatte, für die es nur ein Wort gab: Flucht. Welchen Grund hatte er, sich ohne ein Händeschütteln, ohne eine Umarmung, ohne ein ›Alles Gute‹ von ihnen zurückzuziehen? Ohne ein vertrauliches Gespräch mit den besten Freunden? Genau das war es, was er nicht konnte, was er nicht wollte, was er am meisten fürchtete. Es hätte seine Pläne zunichte machen können. Deshalb wählte er die Heimlichkeit der Nacht, um bis zum frühen Morgen eine möglichst große anonyme Distanz zwischen sich und Karlsbad zu legen, damit jede Such- oder Einholaktion ohne Chancen sein würde. Wie die Abschiedsbriefe gehört auch diese Art des spurlosen Verschwindens zum Ritual der Flucht.

Ein weiterer Blick in den von Niederer nur auszugsweise zitierten Abschiedsbrief Goethes an Frau von Stein bringt einen Zipfel der Wahrheit über die erwähnten »ungeklärten Verhältnisses« zum Vorschein: Ich habe bisher im stillen gar mancherlei getragen, und nichts so sehnlich gewünscht als daß unser Verhältnis sich so herstellen möge, daß keine Gewalt ihm was anhaben könne. Sonst mag ich nicht in deiner Nähe wohnen und ich will lieber in der Einsamkeit der Welt bleiben, in die ich jetzt hinausgehe.73 Das sind ganz andere Töne, die die düsteren Wolken erahnen lassen, die sich über dem Paar in dem zurückliegenden Weimarer Jahrzehnt zusammengebraut hatten. Dieses begann 1775 mit Goethes kometenhaftem Aufstieg im Weimarer Ministaat und endete in einer Sackgasse, in der er sich von Problemen umringt sah, für die er keine Lösung wusste. Beim Namen genannt waren es der Herzog, Charlotte von Stein und Tasso stellvertretend für alle anderen poetischen Bruchstücke. Dieses kaum zu steigernde Problemgemenge skizziert das existenzielle Ausmaß der Krise, die Goethe nach Italien trieb, wo er nicht nur Kunstgenuss und Erholung suchte, sondern einen neuen ›modus vivendi‹ mit sich und der Welt finden musste.

Unter den genannten Weimarer Problemen war der Herzog ›als solcher‹ das kleinste. 1775 übernahm Carl August 18-jährig von seiner Mutter, Herzogin Anna Amalia, die Regierungsgeschäfte des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, die diese, selbst erst 19-jährig, seit dem frühen Tod ihres Mannes siebzehn Jahre lang ausgeübt hatte. Sie holte Christoph Martin Wieland (1733-1813) von seiner Erfurter Professur für Philosophie 1772 als Erzieher Carl Augusts nach Weimar, der, kaum volljährig und schon Regent, den 26-jährigen Werther-Autor nach Weimar lockte, den er kurz zuvor in Frankfurt kennengelernt hatte und engagierte ihn für seine Dienste: zweifellos die klügste Entscheidung seines Lebens. Schnell erkannte der Jungfürst die Nützlichkeit des juristisch ausgebildeten Erfolgsautorsxviiixix