Celentano, Nina Auf Zornes Flügeln

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© 2020 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Franz Leipold
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München
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Prolog

»Wir sind doch Freundinnen, und Freunde müssen zusammenhalten. Du hast doch genauso Hunger.«

Mein Magen brennt fürchterlich. Natürlich habe ich Hunger. Ich weiß nicht mehr wie es ist, ohne dieses quälende Gefühl im Magen – und ohne Schmerzen. Zaghaft nicke ich.

»Na dann komm, wir müssen zum Keller.«

Sofort verspüre ich diesen Druck im Bauch. »Der Keller?«, frage ich. Wie oft wurde ich in diese Dunkelheit gezogen? Dunkel, wie ein Tier ohne Seele. Ich blicke auf meinen Unterarm. Die Narben sind noch frisch. Ich spüre die Schläge, werde sie nie vergessen.

»Du weißt, es ist egal, ob sie uns erwischen. Sie werden uns bestrafen, immer wieder. Aber wenn wir das Risiko nicht eingehen, werden wir verhungern. Also komm jetzt!«

Ich zögere, ziehe meine Hand aus ihrer. Bleibe stehen, will nicht hinunter. Doch ich darf sie nicht alleine lassen. Sie ist alles, was ich habe an diesem schrecklichen Ort. Sie geht voran, bis zum Ende des Flures, spitzt ums Eck. »Komm, die Luft ist rein. Wir müssen jetzt schnell sein.«

Sofort läuft sie voran. Ich will ihr hinterhergehen, als ich Schritte höre. Wir müssen schnell sein. Immer wieder hallen ihre Worte in meinem Kopf. Aber ich weiß, sie sind schneller. Ich kenne diese Geräusche. Ein Schrei hallt durch die Dunkelheit. Was soll ich jetzt tun?

»Hilf mir! Hilf mir!!«

Ihre Rufe werden leiser. Und dann ein dumpfer Schlag.

Wir sind doch Freundinnen. Sie ist die Einzige von allen Kindern, die immer zu mir hält. Doch ich habe sie im Stich gelassen, spüre jeden Schmerz, den sie jetzt durchleben wird. Denn das Tier hat sie verschlungen, hinabgezogen. Hinunter in die Dunkelheit.

Kapitel 1

Die Eiswürfel in ihrem Glas schmolzen schneller, als es Kate lieb war. Unter anderen Umständen hätte sie an einem heißen Tag wie diesem eine weniger stickige Bar gewählt. Doch genau wie letztes Jahr am 8. Oktober saß sie auch diesmal in Mikey’s Bar und rührte gedankenverloren in ihrem Drink.

»Hi Kate, dich hab ich ja schon lang nicht mehr gesehen. Wie geht’s dir?«

Jim, der Barkeeper, der zu Mikey’s gehörte wie der selbst gebrannte Schnaps unter der Theke, erkannte Kate, obwohl sie ein ganzes Jahr nicht mehr hier gewesen war. Es war merkwürdig, aber die vertraute Art und Weise, in der Jim mit ihr sprach – fast so, als sei sie ein Stammgast –, gab Kate ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.

»Hey, ja, geht schon. Das Übliche eben. Es ist viel zu warm für Oktober, aber ich will nicht klagen. Machst du mir bitte gleich noch einen zweiten?«

Vor allem mochte sie an Jim, dass er keine unnötigen Fragen stellte. Er servierte ihr das Glas und überließ sie dann sich selbst.

Jim war ein Überbleibsel aus ihrem früheren Leben. Aus der Zeit, als sie noch ein Leben hatte. Als Tom noch da war. Der Gedanke an ihn versetzte Kate einen Stich. Er sollte eigentlich neben ihr sitzen. Zwei Jahre waren mittlerweile vergangen, doch es ging ihr im zweiten Jahr ohne ihn nicht besser als im ersten. Der gleiche Schmerz. Dieselbe Schuld, die sie plagte und an ihren Gedanken nagte wie ein Marder an einem Motorkabel. Es verfolgte sie. Immer wieder holten die gleichen Bilder sie ein. Sie ließen Kate erstarren, doch sie zwang sich, sie vor ihrem geistigen Auge Revue passieren zu lassen. Zu sehen, wofür sie verantwortlich war. Noch heute spürte sie das Blut, warm und klebrig, wie es zwischen ihren Fingern rann. Sein Blut. Das Blut ihres Partners. Er war viel mehr als ihr Partner im Dienst gewesen. Sie waren nicht nur ein Team, sondern auch ein Liebespaar, zwar geheim, aber sie waren es. An Abenden wie diesen malten sie sich ihre Zukunft aus. Sprachen über gemeinsame Schritte, die sie gehen wollten. Wie würden sie es ihrem Chef beibringen, dass sie eine Beziehung führten? Sollte sich einer von ihnen versetzen lassen? All diese Gedanken und unbeantworteten Fragen ließen sie seither nicht los, kamen immer wieder, quälten sie. Doch eines war Kate schmerzlich bewusst: Tom würde nicht zu ihr zurückkehren. Sie hatte ihn verloren. Sie war nicht nur gezwungen gewesen, mit anzusehen, wie er starb – nein, sie hatte ihn selbst in den Tod geschickt, dessen war sie sich sicher.

Salzige Tränen mischten sich mit dem scharfen Geschmack des Alkohols, der Trost spenden sollte. Er tat es nicht. Die Wärme, die das Getränk in ihrem Bauch ausströmte, war so falsch und verlogen wie die Hoffnung auf Frieden in ihrem Herzen. Es gab nur einen Weg für sie, Ruhe zu finden: Sie musste seinen Tod rächen. Wiedergutmachen, was wiedergutzumachen war. Sie wusste nur nicht wie. Noch nicht.

Kate spürte ihr Smartphone in der Tasche vibrieren, versuchte es aber zu ignorieren. Mit zwei Zügen leerte sie ihr Glas, trank die bernsteinfarbene Flüssigkeit, als wäre es Quellwasser, und wischte sich mit dem Handrücken die Träne fort, die ihr über die Wange lief. Wie auch im letzten Jahr legte sie Jim zwanzig Dollar unter eines der Gläser und stand auf. Sie ging geradewegs zur Tür. Die Bar würde sie ein weiteres Jahr nicht betreten. Ein weiteres Jahr ohne Tom. Kate drehte sich nicht um, bis sie in ihrem Pick-up saß. Erst jetzt sog sie tief Sauerstoff in ihre Lungen, schloss ihre Augen und hielt die Luft gefangen. Sie atmete aus und verriegelte mit diesem Atemzug die Tür zu ihrer Vergangenheit.

 

Eine Nachricht von John, ihrem Boss, riss sie kurz aus ihren Gedanken: »Hey, ich geh später zur Wache. Ich glaub, es gibt wieder einige ungelöste Fälle. Die Jungs aus dem Süden der Stadt sind anscheinend hinter ’ner heißen Spur her. Gehst du mit? Oder brauchst du die Kohle nicht?«

Heute Abend hatte Kate keine Lust auf einen neuen Auftrag. Sie hätte eine Ablenkung zwar gut gebrauchen können, aber sie wusste, dass sie keinen guten Job machen würde. Ja, sie wollte ihren Kopf freikriegen, und im Moment war John genau der Richtige, um ihr ein paar flüchtige Glücksmoment zu schenken und sie heute ins süße Vergessen abtauchen zu lassen. Sie schickte John eine Nachricht und fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz der Bar. Im Rückspiegel erblickte sie nichts als Staub.

Als sie zu Hause ankam, sah sie schon den blauen Dodge Viper vor ihrem Haus stehen. John hatte offensichtlich ihren Wink in der gesendeten Nachricht richtig verstanden hatte. Sie mochte John. Sie ergänzten sich. Zumindest rein körperlich. Er war der erste Mann nach Toms Tod, zu dem sich Kate hingezogen fühlte. Von Anfang an war jedoch klar, dass es dabei bleiben und nicht mehr werden würde. Dies war John nur recht. Er hatte kein Interesse an einer festen Beziehung. Sie sprachen nie darüber, weshalb dies so war, und Kate fragte nicht.

An seinem Wagen angekommen, klopfte sie an das verdunkelte Autofenster. John ließ die Scheibe nach unten, machte jedoch keine Anstalten, auszusteigen. Augenblicklich zweifelte Kate an ihrem Vorhaben, jetzt, da sie vor ihm stand.

»John, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich habe zu viel getrunken und … na ja, vielleicht doch besser wann anders.«

Auch wenn dies nicht der vollen Wahrheit entsprach, war ihr Stolz zu groß, um sich so offensichtlich einem Mann – und dann gerade John – an den Hals zu schmeißen. Es war kein guter Tag für ein Katz-und-Maus-Spiel.

»Schon klar, ich freu mich auch, dich zu sehen.«

Kate spürte, dass er gereizt war, und konnte das sogar ein wenig verstehen. Immerhin hatte sie ihn quer durch die Stadt fahren lassen, um ihn dann wieder heimzuschicken. Sie wollte ihm schon den Rücken zukehren und ihn allein zurücklassen, sah aber stattdessen zu Boden. John war kein Mann, der einer Frau hinterherlief, doch er spürte Kates Zerrissenheit.

»Alles in Ordnung bei dir?«

»Ja, mach dir keinen Stress, ich bin okay«, log Kate.

John bemerkte, dass mit Kate etwas nicht stimmte, aber über Probleme zu sprechen gehörte nicht zu seinen Qualitäten. Trotz ihrer rein körperlichen Beziehung von Zeit zu Zeit war Kate mittlerweile zu einer guten Freundin für ihn geworden. Sie war anders. Nicht wie all diese verrückten Weiber, die er sonst vögelte.

Er räusperte sich und glaubte selbst nicht, was er sich sagen hörte. »Dann reden wir einfach nur und trinken ein Bier? Na, wie sieht’s aus?«

Kate konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und dachte kurz über sein Angebot nach. »Nein, wir müssen nicht reden. Lass uns gemeinsam das Footballspiel ansehen.«

Er nickte zustimmend und wirkte auch ein wenig erleichtert. »Wie die Lady wünscht.«

Und als er ausstieg und seine muskulösen Arme um ihre Schultern legte, war sie doch froh, dass er da war.

Kapitel 2

Es ist schrecklich dunkel. Meine Beine fühlen sich so schwer an. Ich muss weiter. Immer weiter. Nicht stehen bleiben. Atme, Kate. Atme gleichmäßig. Es ist keiner da, der mir Mut macht. Die Stimme, die ich höre, sie ist nur in meinem Kopf. Es ist meine eigene. Ich will ihr folgen, doch es ist so anstrengend. Jeder Atemzug fühlt sich an, als würde ich brennendes Feuer direkt in meine Lunge saugen. Ich kann nicht mehr, ich muss stehen bleiben. Ich brauche Luft. Wo bin ich? Warum bin ich wieder hier? Warum bin ich nicht vorangekommen? Ich zittere. Es ist fast unmöglich, meine Hand, die den Schweiß von der Stirn wischen will, still zu halten. Sie zittert im Takt meiner Beine. Ruhig bleiben. Ich muss ruhig bleiben. Ich muss mich konzentrieren. Meine Sinne schärfen. Ich weiß, ich kann es noch schaffen. Nur nicht die Nerven verlieren.

Ich muss im Kreis gelaufen sein, denn ich stehe wieder in der gleichen Gasse. Aber das ist doch unmöglich! Ruhig, Kate. Ruhig. Der Geruch von Abwasser und Urin brennt so penetrant in meiner Nase, dass ich sie unwillkürlich mit dem Ärmel meines nassgeschwitzten Sweatshirts zuhalte. Der Wind zerrt an meiner Kleidung und lässt meinen Körper sofort erstarren. Mein Haar wirbelt wild vor meinem Gesicht herum, ich kann kaum noch etwas erkennen.

Die Straßenlaternen flackern, und nur hin und wieder erhellen sie schwach einen kleinen Teil des Weges. Da! Da ist es wieder. Diesmal ist es nicht die Stimme in meinem Kopf, die ich höre. Ein entsetzlicher Schrei lässt mich erstarren. Bitte nicht. Nicht schon wieder! Ich brülle gegen den Wind, der es mir unmöglich macht festzustellen, aus welcher Richtung die Schreie kommen. Schreie, die vom Tod erzählen. Aber ich muss es wissen. Panisch drehe ich mich um die eigene Achse. Ich darf nicht durchdrehen. Tränen strömen mir ungewollt über die Wangen. Panik kriecht in mir hoch, ich will sie abschütteln. Ich habe noch eine Chance. Ich drehe mich im Kreis, versuche zu analysieren, wohin der Ruf mich führt. Und ich gehe los. Ich laufe und laufe, aber es ist die falsche Richtung. Der Wind wird stärker. Er rauscht in meinen Ohren. Ich kann kaum sehen. Es hämmert gegen die Innenseite meiner Schläfe. Ich schmecke etwas Metallisches. Spüre, wie etwas an meiner Stirn herunterläuft. Ich fasse an meinen Kopf und halte mir die Hand dicht vor meine Augen. Ich blute.

Wieder dieses furchtbare, entsetzliche Kreischen. Schreie, die meinen Namen rufen, um Hilfe flehen. Dort hinten muss es sein. Sie scheinen aus dem Haus am Ende der Gasse zu kommen. Doch meine Beine gehorchen mir nicht mehr. Ich höre Angst aus jedem neuen Schrei. Ich weiß, woher die Schreie kommen, aber ich kann nicht helfen, nichts tun. Ich weiß, wer es ist, der nach Hilfe schreit. Er ruft nach mir.

Ein letzter schriller Ton zerreißt das Toben des Windes. Dann ist die Nacht totenstill.

 

Schweißgebadet erwachte Kate aus ihrem Albtraum. Es war derselbe, der sie ständig heimsuchte. Nur dass es sich dabei um keinen gewöhnlichen Traum handelte. Es war der Moment, in dem ein Teil von ihr gestorben war und der sie im Geist immer wieder aufs Neue sterben ließ. Wenn sie aus diesem Traum erwachte, fühlte sie nichts als Leere und den unstillbaren Wunsch, sie wäre an seiner Stelle gewesen. Warum hatte der Mörder nicht sie ausgewählt? Warum musste Tom sterben?

Die Anzeige des Weckers stand auf 4.30 Uhr. Zu früh zum Arbeiten und zu spät, um wieder ins Bett zu gehen. Die Angst davor, erneut in die Hölle ihrer Gedanken abzudriften, war viel zu groß.

Sie ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen, und zog ihre Strickjacke enger um die Brust. Kate fröstelte. Die hohen Räume mit ihren Stuckdecken und imposanten Erkern waren schön anzusehen, aber sie kühlten viel zu schnell aus. Der Gedanke verursachte ein bitteres Lächeln. Offenbar war sie hier genau richtig. Denn genau so fühlte sie sich: kalt. Äußerlich stand sie in der Blüte ihres Lebens. Tom hatte ihr immer erzählt, dass man in ihren grünen Augen versinken konnte, ohne jedoch dahinter blicken zu können. Laut John war sie ein wahr gewordener Männertraum. Lange Beine, rote lange Locken und trotz ihrer sportlichen Statur mit genug weiblichen Rundungen gesegnet, um mehr zu wollen. Sie selbst konnte mit alldem nichts anfangen. Ihr war durchaus bewusst, dass sie auf Männer eine gewisse Wirkung hatte, aber das war ihr immer egal gewesen. Sie benutzte kein Make-up, und ihre Kleidung war meist funktionell. Sie fühlte sich nicht schön. Weder äußerlich noch innerlich. Wenn sie ihre Seele nach außen gekehrt hätte, wäre eine Greisin zum Vorschein gekommen, deren zweitgrößter Wunsch es war, endlich erlöst zu werden. Endlich zu sterben.

Damals sollte hier ihre gemeinsame Zukunft beginnen, Toms und ihre. Er war die Liebe ihres Lebens, ihr Seelenverwandter, ihr bester Freund und Fels in der Brandung. Jetzt war diese Wohnung eine seelenlose Hülle, in der sie lediglich existierte und jeden Tag betete, dass das Schicksal ihrem Leben einen neuen Sinn geben möge. Zu oft schon war sie unter Tränen eingeschlafen und unter Tränen wieder aufgewacht. Es würde sicher ein kalter trostloser Herbst in Washington, D.C. werden, der einem bis in die Glieder fuhr. Es war ihr egal. Für sie würde es ohne Tom nie wieder einen Frühling geben. Kate blickte über die Dächer der wolkenverhangenen Stadt und schloss das Fenster.

Mit dem Kaffee in der Hand ging sie in ihr Arbeitszimmer. Vorsichtig öffnete sie die schwere Tür. Dies war der einzige Ort, an dem sie sich nützlich fühlte. An dem ihre Gedanken nicht so schnell abschweiften. Hier konzentrierte sie sich auf das, was sie am besten konnte: Verbrecher dingfest zu machen und den Abschaum der Gesellschaft von den Straßen zu holen. Die Schweine zu finden, die sonst keiner aufspüren konnte. Sie hatte den Ruf, einer der besten zu sein. Es wurde ihr eine großartige Karriere prophezeit. Nur einmal war es ihr nicht gelungen, den einen zu kriegen, mit dem sie eine ganz persönliche Rechnung offen hatte. Diese Besessenheit hatte dazu geführt, dass sie ihren Job beim FBI hinschmiss. Der Fall war ihr entzogen worden, da sie nicht mehr in der Lage war, objektiv zu ermitteln. Kate war zu stark involviert und galt selbst als Opfer.

Es gab nur ein Ziel für sie: dieses Schwein aufzuspüren und zu bestrafen, und dann – so hoffte sie zumindest – würde sie endlich ihren Frieden finden. Sie würde ihm alles nehmen, so wie er ihr alles genommen hatte. Doch heute, hier, war sie noch nicht so weit. Ihre Suche fand ausschließlich in ihrem Kopf statt und auf der Wand, vor der sie stand.

Ihr Leben war ohne Sinn. Es gab nur sie und den Plan. Den Plan, den Mann zu jagen, der so viele Menschen auf dem Gewissen hatte. Er war fort, untergetaucht, doch Kate war sich sicher, dass er irgendwann einen Fehler machen würde. Diese Bestie würde niemals aufhören zu töten. Es war ihre Natur.

Das Telefon auf ihrem Schreibtisch zerriss die Stille, sodass Kate vor Schreck die Tasse auf den Steinboden fallen ließ. In diesem Moment ahnte sie noch nicht, dass der Anruf alles verändern sollte.

»Kate? Er … er ist verschwunden.«

Die Frau am anderen Ende der Leitung flüsterte, aber ihre Verzweiflung bohrte sich durch Kates Herz wie ein Dolch. Ein Gefühl, an das sie sich nur allzu gut erinnern konnte. Kate wusste sofort, mit wem sie sprach.

»Linda. Wer ist verschwunden?«

»Connor. Er ist gestern nicht nach Hause gekommen. Er wollte mich doch dieses Wochenende besuchen. Sein Handy ist aus, ich kann ihn nicht erreichen, und seine Kommilitonen wissen auch nicht, wo er steckt.«

»Aber warum rufst du mich an? Ich bin nicht mehr beim FBI, ich habe mit dem Fall nichts mehr zu tun.« Kate klang ablehnender, als sie es beabsichtigt hatte.

»Du bist die Einzige, die mir helfen kann. Ich steh das nicht noch mal durch«, weinte Linda ins Telefon.

»Linda, bitte beruhig dich.«

Kate wurde selbst von einer Unruhe übermannt, die sie fast vergessen hatte. Sie konnte nicht ausmachen, was genau es war. War es ihre Angst vor der Vergangenheit, die sie in Versuchung führte, einfach aufzulegen und so zu tun, als hätte es diese letzten Minuten nicht gegeben? Auf der anderen Seite meldete sich jedoch ihr Ermittlerinstinkt, der sofort aufgeflammt war und ihr Herz zum Pochen brachte. Sie blickte sich im Zimmer um, betrachtete die unzähligen Fotos, Fallakten und Zeitungsausschnitte, die sie über die Wände verteilt hatte. Es stimmte, dass sie nicht länger beim FBI und auch nicht mehr mit dem Fall betraut war, aber sie hatte nie aufgehört, nach diesem Bastard zu suchen. Zumindest nicht an der Wand, vor der sie stand. Insgeheim wusste Kate, dass sie vor Ort hätte bleiben sollen, wenn sie Toms Mörder aufspüren wollte. Stattdessen war sie davongerannt. Trotzdem fühlte sie sich gut dabei. Kate brauchte diesen Abstand und die Zeit, um zu trauern.

»Hast du die Polizei informiert?«

»Du weißt doch, dass mir damals auch keiner geholfen hat. Ich brauche dich. Außer dir glaubt mir doch keiner. Connor ist in Schwierigkeiten, ich spüre das. Eine Mutter spürt so was. Bitte Kate, kannst du herkommen? Ich engagiere dich als private Ermittlerin. Ich habe noch etwas Geld aus Jacks Lebensversicherung übrig. Es gehört alles dir. Bitte hilf mir!«

Kate atmete tief durch. Der Hörer zitterte in ihrer Hand. Es fiel ihr schwer, ruhig und regelmäßig zu atmen. Kalter Schweiß trat auf ihre Stirn, rann herunter, und ihr Gehirn setzte aus. Es fühlte sich so an, als würde jemand ihren Brustkorb zerquetschen. Kate versuchte, sich zu beruhigen, doch die Erinnerungen holten sie mit voller Macht ein …

 

Vor zwei Jahren hatten sich Kates und Lindas Wege das erste Mal gekreuzt. Ihr Mann war nach einer Gewerkschaftsversammlung nicht nach Hause gekommen. Zuerst nahm niemand Lindas Vermisstenanzeige wirklich ernst. Nach einem erwachsenen Mann wurde nicht sofort gesucht. Und der zuständige Officer hatte erst einmal versucht, Linda zu erzählen, dass ihr Mann wohl mit einer anderen Frau durchgebrannt sei.

Linda hielt daran fest, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie und Jack waren zum Zeitpunkt seines Verschwindens beinahe 23 Jahre verheiratet. Sie hatten einen Sohn, Connor, der mittlerweile das College besuchte. Auf das kleine Haus, das sie in einem Vorort von Detroit gekauft hatten, waren sie stolz. Linda arbeitete als Sekretärin bei einer kleinen Steuerkanzlei in Detroit, Jack war Vorarbeiter bei Hammersmith & Sons, einer großen Stahlfabrik am Rande Detroits. Sie führten ein glückliches Leben.

Eine Woche nach Jacks Verschwinden wurde seine Leiche in der Nähe des Lake St. Clair gefunden. Es war die gleiche Art, auf die der Mörder schon all die anderen Opfer misshandelt hatte. All die vielen Stiche, die sofort immer wieder fein säuberlich, wenn auch nicht professionell verarztet worden waren. Die Gesichter der Toten waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt, doch am Ende wurde jedem Opfer mit einem einzigen Schnitt die Kehle durchtrennt. Der Mörder tat das mit solch einer Wucht, dass die Köpfe grotesk zur Seite hingen.

Das war der Moment, als man Kate und das FBI dazu holte. Kate Monroe und ihr Partner Tom Bennett waren bereits seit drei Monaten hinter dem Killer her, der über die Bundesgrenzen hinaus brutale Morde verübte. Es gab kein erkennbares Muster, nach dem er seine Opfer auswählte. Unter ihnen befanden sich Männer und Frauen jeden Alters. Es schien, als würde sich der Täter seine Beute wahllos aussuchen. Doch Kates Intuition verriet ihr, dass es hier eine Verbindung geben musste. Keiner der Toten wies Spuren von sexuellem Missbrauch auf. Die Opfer wurden über einen längeren Zeitraum gefoltert. Hierbei ging der Mörder äußerst präzise vor. Immer benutzte er ein Messer. Nie eine andere Waffe. Doch irgendetwas ließ ihn nach langer Zeit der Quälerei wütend werden. Die Schnitte, die am Ende der schrecklichen Leidenszeit kreuz und quer über die Gesichter gezogen wurden, waren jetzt willkürlich und hatten nichts mehr gemein mit den akkurat durchgeführten Verletzungen, die die Opfer anfangs davontrugen.

Seitdem war so viel Zeit vergangen, doch die Erinnerung daran war noch so präsent, als wäre es gestern gewesen. Kate konnte sich nicht erklären, weshalb Linda gerade sie anrief. Der Mörder befand sich immer noch auf freiem Fuß. Alle Hinweise, denen sie nachgegangen waren, hatten am Ende doch zu nichts geführt. Seit seinem letzten Opfer vor zwei Jahren war der Killer untergetaucht. Es war der Moment, als Kate sich ebenfalls aus dem Leben absetzte. Sie hatte ihren Job beim FBI hingeschmissen, jeden Kontakt zu Menschen aus ihrem früheren Leben abgebrochen und lebte seitdem in einer viel zu großen Wohnung zwischen gefühlt hundert Umzugskartons, die alle darauf warteten, dass Kate das Leben auspackte und wieder in ihr Herz ließ. Das letzte Opfer war ihr Partner gewesen. Tom.

Kates Hände zitterten, als sie den Hörer an ihr Ohr hielt und Linda sprechen hörte. Die Stimme auf der anderen Seite der Leitung holte sie in die Realität zurück.

Kates Stimme klang gepresst, und sie krächzte mit Mühe ins Telefon. »Ich weiß nicht, ich kann nicht, vielleicht … Es tut mir leid.«

Eine Panikattacke überfiel sie. Kate legte den Hörer auf und stürmte ins Badezimmer. Sie kramte in ihrem Schrank und nahm drei Tabletten statt der einen, die sie von ihrer Therapeutin Beth verschrieben bekommen hatte. Schnell setzte die erwünschte Wirkung ein. Sie saß auf dem kalten Boden ihres Badezimmers und weinte. Da war kein Schmerz mehr, denn der hatte mit jeder Pille ein bisschen stärker nachgelassen. Die Gefühle, die sie übermannt hatten, ließen nach. Die schrecklichen Erinnerungen blieben still, doch sie waren nicht fort. Ihre Seele war von Trauer besetzt, und ihre Tränen waren der Beweis.

 

Als er die Augen öffnet, sieht er nichts als Dunkelheit. Dunkelheit, die niemals endet. Sie ist so schwarz, dass er nicht einmal seine eigene Hand vor Augen erkennen kann. Mit seinen großen Händen, die einst mit Leidenschaft Footballs geworfen hatten, fühlt er die Wand, die dicht vor ihm ist. Immer noch dasselbe Loch, die gleiche Grube, wie so lange schon. Wie lange eigentlich? Connor kann sich diese Frage nicht beantworten, denn er hat jegliches Zeitgefühl verloren. Er vermisst das Tageslicht, erträgt das Leuchten der Halogenlampe nicht, das regelmäßig seine Qualen ankündigt. Der modrige Geruch bohrt sich in seine Nase. Er spürt die Feuchtigkeit an seinen schmerzenden Händen.

Früher war er der Held der Schule gewesen. Der Quarterback. Er war jemand. Er wurde angehimmelt von den hübschesten Mädchen, beneidet von den meisten Typen auf dem Campus. Connor, der Anführer. All das erscheint ihm nur noch wie ein Traum. Seine Realität sieht jetzt anders aus. Wie ein alter Mann kann er jeden seiner Knochen spüren. Seine Knie und sein Rücken schmerzen bei jeder Bewegung. Die drei Mahlzeiten, die er täglich bekommt und die nur aus Brot und Wasser bestehen, halten ihn zwar am Leben, aber er kann unter seinem verdreckten T-Shirt bereits seine Rippen fühlen. Die Kälte im Raum bringt seinen Körper ständig zum Zittern, weil die vor Dreck stehende dünne Wolldecke, die man ihm gegeben hat, ihm nur bis zur Schulter reicht.

An manchen Tagen packt ihn die Wut darüber, dass er an diesem dreckigen, trostlosen Ort festsitzt und nicht einmal weiß, warum. Das ist das Zermürbendste daran. Vor einigen Jahren hatte er seinen Vater auf brutale Art und Weise verloren. Er war grausam ermordet worden, man hatte ihn mit herausgeschnittener Zunge und zahlreichen Schnittwunden am Körper gefunden. Er war verblutet, allein, ohne irgendjemanden, der seine Hand halten konnte. Ob er Angst gehabt hatte? Connors Hände und Knie zittern nicht nur vor Kälte. Tief einatmen und ausatmen. Er schließt die Augen und zählt innerlich von hundert rückwärts. Er merkt, wie sich sein Puls langsam beruhigt; wie sein Zittern nachlässt.

Eigentlich war er auf dem Weg zu seiner Mom gewesen, um ihr zu erzählen, dass er das College abbrechen wollte, um ein Jahr nach Australien zu gehen. Er brauchte Abstand zu all den Menschen und Orten, die ihn immer wieder schmerzlich an den Verlust seines Vaters erinnerten. Er musste sein bekanntes Umfeld verlassen, um endlich wieder frei zu sein, um ein neues Leben zu beginnen. Er musste dafür aber auch seine Mom verlassen, und diese Entscheidung war die schwerste, die er jemals treffen musste. Doch jetzt ist er hier, und Australien ist in weite Ferne gerückt. Das Einzige, was er sich jetzt noch wünscht, ist, dieses kranke Spiel zu überleben.

Die Lichter an der Decke gehen wieder an. Connor ist geblendet, sodass er überhaupt nichts sehen kann und sich sogar die stinkende Decke vor die Augen hält. Das Licht brennt in seinen Augen wie Nadeln, die über seine Hornhaut kratzen. Kurz nachdem er mitbekommen hat, wie sich die Tür öffnet, kann er die Schritte hören; Sekunden später fühlte er einen Stich an seinem Arm. Er will sich wehren, er befiehlt seinen Beinen aufzustehen, seinen Armen, um sich zu schlagen, seinem Kopf, die Kontrolle zurückzubekommen; er befiehlt und befiehlt, aber nichts gehorcht ihm.

Doch dann entspannt sich sein Körper, und er taucht ab in die süße Welt des Vergessens. Bis der Schmerz zurückkommt, heftiger, als er ihn je zuvor gespürt hat. Sein Bauch brennt. Er will ihn mit seiner Hand schützen. Doch er kann den Arm nicht rühren. Der Schmerz kommt erbarmungslos wieder und wieder. Er schreit, so laut er kann. Der Schmerz übermannt ihn, bis er das Bewusstsein verliert. Das Letzte, was er hört, ist diese Stimme, die ihm verspricht, dass alles gut werden würde. Er würde wieder frei sein. Doch er weiß, er wird hier sterben, denn genau jetzt ist das sein einziger Gedanke. Er will sterben.

Kapitel 3

»Gehen wir was essen?«

Johns Augen wanderten über Kates Körper, während er versuchte, seine Frage möglichst beiläufig klingen zu lassen. Sie hatten einen anstrengenden, aber erfolgreichen Tag hinter sich, und obwohl Kate noch immer an Linda denken musste, hatte der gemeinsame Auftrag sie auf andere Gedanken gebracht. Der Auftrag kam ihr gerade recht. Allein in ihrer Wohnung zu sitzen würde zu endlosen Grübeleien führen, die sie keinen Schritt nach vorne brachten. Doch wohin ein Abendessen, nach einem erfolgreichen Auftrag mit John führen würde, das war ihr klar.

Sie redete wenig und genoss es, ihm einfach zuzuhören. Er war zwar nicht der redegewandteste Kerl, der ihr bis jetzt untergekommen war, aber sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Im Moment stellte er eine ihrer wenigen Konstanten dar. Davon abgesehen, war er ein Mann, der durchaus seine Reize hatte. Sein Job als Kopfgeldjäger hatte ihm die eine oder andere Narbe eingebracht; viele davon waren sichtbar, andere nicht. Kate hatte bereits jede davon unter ihren Lippen gespürt. Sein Körper war ihre Droge des Vergessens. Nicht, dass sie ihn liebte. Neben der körperlichen Anziehung, die sie verband, waren es Respekt und Freundschaft, die sie zu ihm hinzogen. Als sich ihre Blicke über den Tisch hinweg trafen, war es, als verstummte alles um sie herum. Auf einmal waren sie im Restaurant allein auf dieser Welt. Er ergriff ihre Hand und streichelte ihren Handrücken. Eine Gänsehaut durchfuhr ihren gesamten Körper, was ihm nicht verborgen blieb. Siegessicher breitete sich sein schiefes und dennoch sexy Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er stand von seinem Platz gegenüber auf und zog einen Stuhl direkt neben ihren, nur um ihre Hand erneut in seine zu nehmen, als wäre die Berührung nie unterbrochen worden. Langsam beugte er sich zu ihr hinüber und küsste ihr Handgelenk, ihre Wange, ihren Hals. Selbst wenn sie gewollte hätte, sie hätte keine Chance gehabt, sich ihm zu entziehen. Ihr Körper war ihm verfallen, wenn auch nur für den Augenblick. Um sie herum schien sich niemand für sie zu interessieren. Gerade als sie bereit war, sich mitten im Diner auf ihn zu stürzen, stand er auf und verschwand. Ihr Körper vibrierte in freudiger Erwartung. John war kein Mann, der etwas begann, ohne es zu beenden.

Er kam mit den Jacken zurück und führte sie zum Wagen. Eine Hand ruhte dabei auf ihrem Hintern, aber sie ließ ihn gewähren. Es war ihr egal, was die anderen dachten, denn es fühlte sich gut an. Das Bier hatte ihre Spannung gelöst, ihre Gedanken und Sorgen für einen kurzen Moment ausgeschaltet. Jetzt gab es nur noch sie und John und das süße Vergessen.

Die Autofahrt in ihr Apartment wurde zur Herausforderung. Sie konnten ihre Hände nicht voneinander lassen, und die Erregung, die Kate deutlich durch seine Hose spürte, ließ ihren Unterleib zusammenzucken. Im Flur vor ihrer Wohnung hielt sie es nicht länger aus und küsste John leidenschaftlich. Fordernd biss sie auf seine Unterlippe, grub ihre Finger in seine Haare. Forsch und aggressiv, aber genau so war es immer, wenn sie zusammen waren. In der Wohnung riss er ihr die Bluse mitsamt dem BH vom Körper, sodass er ihren vollen Busen mit seinen hungrigen Küssen bedecken konnte. Sein Bart kratzte auf ihrer Haut, aber es fühlte sich gut an, lebendig. Er drückte sie gegen die Wand neben dem Kamin, zog ihr die Hose und den Slip mit flinken Händen gekonnt herunter, hob ihren Hintern ein wenig an und drang lustvoll in sie ein. Kate überließ ihm die Kontrolle, und John nahm sie auf eine Art, die Kate nur bei ihm zulassen konnte.

Schwer atmend lag Kate in Johns muskulösen und von Tätowierungen überzogenen Armen und rauchte eine Zigarette. Er war eingeschlafen, was ihr genug Zeit gab, ihren Gedanken nachzuhängen. In einem anderen Leben und zu einer anderen Zeit wäre John vielleicht der Mann für sie gewesen, aber jetzt konnte sie ihm nicht mehr von sich geben, obwohl sie fühlte, dass sich ihre Beziehung im Laufe der Zeit verändert hatte. Beim letzten Mal war er erstmals über Nacht geblieben, und Kate hatte es geschehen lassen, obwohl dies eine der Grenzen war, die John gleich zu Beginn selbst gesteckt hatte, nur um sie dann zu überschreiten.

Heute Nacht wollte sie ihn nicht bei sich haben.

»John, du musst jetzt gehen.«

Sie wartete, bis er ihr ein Zeichen gab, dass er wach war, und verschwand dann im Bad, ohne sich zu verabschieden. Sie schloss die Badezimmertür und legte ihr Ohr daran. Sie konnte nicht genau ausmachen, was John brummelte, aber es war nicht allzu schwer zu erraten. Erst als die Haustür laut ins Schloss fiel, atmete sie tief durch und stellte sich unter die Dusche, die einen tropischen Sommerregen nachahmen sollte. Sie fühlte sich entkräftet, und die Flucht, die John ihr geschenkt hatte, war wie weggeblasen.

Im Schneidersitz ließ sie das Wasser über ihren Körper laufen und wünschte, sie hätte Superkräfte, um in die Vergangenheit zu reisen. Wäre sie doch nie an das verdammte Telefon gegangen. Warum gerade an diesem Tag? An Toms Todestag. Kate versuchte, sich an Lindas Worte zu erinnern, aber die Medikamente, die sie nach dem Telefonat eingenommen hatte, ließen die Zeit davor im Nebel verschwimmen. Sie erinnerte sich nur daran, dass Linda sie gebeten hatte, ihr zu helfen. Offenbar hatte es Connor, ihr Sohn, doch aufs College geschafft und war dieses Wochenende nicht wie geplant nach Hause gekommen. Connor. Sie würde nie die Angst in seinen Augen vergessen, als sie ihm sagte, sein Daddy würde nicht wieder nach Hause zurückkehren. Bei dieser Erinnerung konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie schluchzte laut und verzweifelt alle Gefühle aus sich heraus und schlug gegen die Wand ihrer Dusche, so fest sie konnte. Denn neben der Angst und der Trauer war da noch ein Gefühl, das ihr noch viel mehr Sorge bereitete: Es war Wut. Grenzenlose Wut. Und da war Hass. Es war, als ob all diese Gefühle, die gegeneinander um die Dominanz in ihrem Herzen kämpften, die Oberhand gewinnen wollten. Das war es, woran sie langsam zerbrach.

Ohne sich ein Handtuch umzubinden, betrachtete sie sich im großen Spiegel ihres Schlafzimmers. Es war der Ort, an dem sie sich nur zum Umziehen aufhielt. Das Bett, das Tom und sie sich vor zwei Jahren ausgesucht hatten, um sich darin zu lieben, Kinder zu zeugen oder einfach nur zusammen zu sein, hatte nie seinen Zweck erfüllt. Statt darin zu schlafen, hatte sie sich ein übergroßes Sofa bestellt, auf dem sie und von Zeit zu Zeit Männer wie John Platz fanden.

Gedankenverloren kniff sie sich selbst in die Wangen und sprach laut zu ihrem Spiegelbild. »Verdammt, Kate! Was soll der Mist? Verlier dich nicht. Du musst stark sein. Du weißt, du wirst das Schwein finden, also komm zu dir.« Sie wiederholte die Worte wie ein Mantra, immer und immer wieder. Sie durfte es nicht zulassen. Sie durfte nicht zurückfallen.

Bevor sie die Wohnung verließ, um sich unten bei Sissy’s Diner ein Frühstück zu holen, haderte sie mit sich. Mit zitternden Händen wählte sie eine Nummer.

»Praxis Dr. Shaw, was kann ich für Sie tun?«

»Hallo Sherry, hier ist Kate Monroe. Ist Beth gerade zu sprechen?«

»Hallo Mrs. Monroe, tut mir leid, Dr. Shaw ist im Moment noch in einer Sitzung. Kann ich ihr etwas ausrichten oder soll sie Sie zurückrufen?«

»Könnten Sie ihr bitte ausrichten, dass ich sie sprechen muss? Es ist wirklich wichtig.«

Beth hatte viel zu tun hatte. Seit sie ihre Praxis in die Upper Eastside verlegt hatte, strömten die Reichen und Schönen in ihre Räume und redeten über ihre vielen Probleme. Kate mochte die neue Praxis nicht. Sie war von irgendeinem angesagten Innenarchitekten durchgestylt worden. Das Mobiliar wirkte kalt und unpersönlich. Kate fiel es schwer, in dieser Atmosphäre mit all den blasierten Patienten und den unbequemen Möbeln über ihr Seelenleben zu sprechen. Kurz nach Toms Tod hatte Kate mit den Therapiesitzungen bei Beth angefangen. Sie waren sich vor einigen Jahren bei einem Fall begegnet, in dem Beth das Täterprofil erstellt hatte. Die beiden Frauen fanden sich sofort sympathisch, und nachdem Beth damals das mit Tom erfahren hatte, war sie es, die Kate besucht und ihr ihre Hilfe angeboten hatte. Beth war einer der wenigen Menschen, die Kate zu dieser Zeit an sich herangelassen hatte. Seitdem hatte sich zwischen den beiden so etwas wie eine Freundschaft entwickelt, für die Kate sehr dankbar war.

»Es ist momentan leider sehr viel los, aber ich werde es Dr. Shaw ausrichten. Ich habe gerade gesehen, dass Ihr letzter Termin schon recht lang her ist, Mrs. Monroe. Möchten Sie gleich einen neuen ausmachen?«

Kate benötigte Beths Hilfe, um ihren kaputten Kopf wieder zusammenzusetzen. Deshalb vereinbarte sie einen Termin, dankte Sherry und beendete das Gespräch. Sie ahnte, dass Beths Rückruf erst spät erfolgen würde, und beschloss, zu John ins Büro zu fahren. Arbeit war jetzt genau das, was sie brauchte.

 

»Hey, du siehst schon viel besser aus. In letzter Zeit hast du mir wirklich Kopfzerbrechen bereitet.«

Kate winkte ab, fühlte sich aber tatsächlich etwas besser. Auch wenn sie entgegen ihrer Behauptung seit Nächten keinen erholsamen Schlaf mehr gefunden hatte.

»John – oder soll ich dich Dad nennen? –, ich habe dir doch gesagt, dass alles in Ordnung ist. Können wir das Thema also bitte lassen und uns um den Job kümmern? Oder möchtest du weiterhin meine Nanny spielen?«

»Ja, ja, schon gut. Ich hab’s verstanden. Komm aber nicht an, wenn du was brauchst. Ihr Weiber seid doch alle gleich …«

Kate hob ihre Hand, um ihn zum Schweigen aufzufordern. »Verschon mich mit deinen Alle-Weiber-sind-gleich-Geschichten! Sag schon, was hast du?«

Während John den Inhalt seines Rucksacks auf dem Tisch ausbreitete, nahm Kate einen großen Schluck Eistee. Ein paar kleinkriminelle Schwachköpfe von der Straße zu holen würde ihr guttun. Die Arbeit mit John brachte sie jedes Mal ein Stück zurück zu sich selbst. Ihre eigentliche Mission war in weiter Ferne, dennoch spürte sie, sie ging in die richtige Richtung.

John räusperte sich. »Hm, also. Hier hätten wir ein Paar, Mitte dreißig, beide stark drogensüchtig. In ihrer Obhut leben zwei Kinder unten in Anacostia. Übles Viertel. Sie werden des Diebstahls bezichtigt. Eine Kamera hat sie gefilmt. Anscheinend ahnen sie, dass sie gesucht werden. Außer den zurückgelassenen und verwahrlosten Kindern hat man nichts in der Wohnung gefunden. Offenbar sind sie untergetaucht.«

Beim Gedanken an die Kinder, die in eine Welt hineingeboren worden waren, in der sie nur verlieren konnten, verspürte Kate Wut und Mitgefühl. Sie schüttelte den Kopf.

»Wenn ich wüsste, dass die Kinder nicht zu diesen Leuten zurückmüssten, dann würde es sich besser anfühlen, diese Versager zu schnappen. Aber du weißt ja, wie das oft so läuft: Die werden von ihren Dealern freigekauft, damit sie weiter ihren Scheiß verticken können, und keine Woche später sind die armen Kinder wieder bei diesen kaputten Menschen. In letzter Zeit laufen die Einrichtungen über, und keiner will Kinder adoptieren, die älter als drei Jahre sind. Nicht mal in Pflege will sie jemand nehmen.«

John beobachtete Kate argwöhnisch. »Du bist mir ein Rätsel. Seit wann interessierst du dich so für Kinder aus üblen Verhältnissen?«

»Ich hab einfach schon zu viel gesehen. Diese Welt ist zu kaputt für Kinder.«

»Süße, da hast du recht. Aber so leid mir das tut, so ist nun mal die Welt, in der wir leben. Da kann man nichts machen.«

Für den Bruchteil einer Sekunde ärgerte sich Kate. Wie oft hatte sie John schon gesagt, er solle sie nicht Süße – oder schlimmer noch Schätzchen – nennen. Sie entschied sich aber, den Atem zu sparen und stattdessen wichtige Sachen zu besprechen.

»Jep. Das ist genau der Grund, warum wir den Abschaum von der Straße holen. Wir sind diejenigen, die aufräumen.«

 

»Du siehst richtig heiß aus. Auf eine dreckige Art!«

Wieder einmal fragte sich Kate, warum sie ausgerechnet jemanden wie John an sich heranließ. Er strahlte all das aus, was sie an Männern verabscheute. Aber vielleicht war es gerade das? Es war nicht so, dass er nicht freundlich oder nett sein konnte. Ganz im Gegenteil. Er hatte das Herz am rechten Fleck, wenn es darauf ankam. Während sie in dieser kurzen Zeit darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, dass es im Grunde diese Mischung war, die ihre Art von Beziehung möglich machte – obwohl er überhaupt nicht ihrem Beuteschema für etwas Ernstes entsprach. Ihre Beziehung blieb oberflächlich, und doch mochten sie einander sehr. John war optisch der Typ Mann, nach dem sich die alte Kate, die jetzige und mit Sicherheit auch die zukünftige umdrehen würden. Sie liebte sein langes, dichtes schwarzes Haar, in das sie ihre Finger vergrub, wenn er ihr nah war. Er war die perfekte Ablenkung. Umso angenehmer, dass für beide klar war, dass sich absolut nichts weiter zwischen ihnen entwickeln würde. Er mochte bodenständige Frauen, die gern zu Hause blieben und für ihre Männer kochten. Trotzdem sollten sie nicht nur das Mütterchen am Herd, sondern gleichzeitig verwegen sein. Kate zog ihn immer wieder auf, wenn er ihr zu erklären versuchte, wonach er genau suchte. Der Gedanke ließ sie nicht los, dass John einen ähnlichen Verlust hinter sich hatte wie sie. Zum Glück hielten sich beide an dieses weitere unausgesprochene Gesetz zwischen ihnen: kein Wort über die Vergangenheit! Diese Tür wurde nicht geöffnet.

»Gib mir lieber den Elektroschocker und erzähl keine Geschichten.«

»Bist du sicher, dass du da rein willst? Wir wissen nicht, was uns erwartet. Vielleicht sind die beiden gar nicht in diesem Motelzimmer. Oder sie sind bewaffnet.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie da drin sind. Immerhin weiß die Kleine von vorhin, dass wir ihr den Hals umdrehen, wenn sie uns belogen hat.«

John ließ ein kehliges Lachen ertönen. »Ja, du hast der Kleinen echt Angst eingejagt. Ich persönlich würde dich auch nicht verarschen wollen.«

»Na, siehst du. Warte du hinten und sorg dafür, dass keiner der beiden aus dem Gebäude entkommt. Wenn ich in acht Minuten nicht mit ihnen da bin, kommst du rein und unterstützt mich.«

Ihr Job als Kopfgeldjägerin war hart und brutal; oft schon hatte Kate Situationen erlebt, die ihr die ein oder andere schlaflose Nacht beschert hatten. Verdreckte Wohnungen, verwahrloste Kinder, denen es an jeder erdenklichen Form der Fürsorge gefehlt hatte, Verfolgungsjagden, bei denen sie oft ihr eigenes Leben oder das von anderen gefährdet hatten. Es war wie eine Wild-West-Version ihres alten Lebens. John und sein Team wurden immer denn gerufen, wenn Angeklagte nicht zu den Gerichtsterminen erschienen und die Gläubiger Gefahr liefen, auf ihrer gestellten Kaution sitzen zu bleiben. In acht Bundesstaaten war der Job des Kopfgeldjägers bereits verboten worden, andere Staaten hatten Restriktionen oder Schulungen angeordnet, und wieder andere ließen jeden auf die Abtrünnigen los, der sich dazu berufen fühlte, das Gesetz in die eigenen Hände zu nehmen. Gott sei Dank vertraten John und sie ähnliche Ansichten, was ihr Handeln betraf, und der Staat stand hinter ihr. Mit dem Haftbefehl in der Tasche konnte sie so ihr schlechtes Gewissen beruhigen, wenn ihr Job sie wieder einmal an den Rand der Legalität brachte.

Selbstsicher sah Kate in den Spiegel und überprüfte ihr Ebenbild, das ihr fremd erschien. Sie spitzte die Lippen und fuhr mit dem kirschroten Kosmetikstift noch mal darüber. Sorgfältig zog sie die Netzstrumpfhose zurecht und fuhr sich durch ihre rote Mähne, in der vor einer Stunde noch große Wickler gehangen hatten. Etwas wackelig stieg sie aus ihrem dunklen Van. Sie musste sich kurz an das Tragen der High Heels gewöhnen, hatte aber schnell ihr Gleichgewicht gefunden und fokussierte ihren Blick auf das Haus, in das sie gleich hineingehen würde. Menschen, die trotz der Uhrzeit an diesem Abend noch auf der Anlage spazierten, nahmen kaum Notiz von ihr. In ihrer Aufmachung passte sie hierher, dafür hatte sie gesorgt. Auch der Motelangestellte ließ sich nicht stören und glotzte mit großen Kopfhörern in seine Flimmerkiste. Die Gitterstäbe, die am Fenster angebracht waren, sollten ihn schützen und erinnerten wieder an die Gegend, in der sie sich befanden.

Kate schaffte es sofort, in ihre Rolle zu schlüpfen. Sie war in ihrem Element, und nichts auf der Welt fiel ihr leichter. Aus dem Augenwinkel sah sie John unauffällig um das Haus herumlaufen. Ein Blick in die Umgebung gab ihr die Sicherheit, dass er bisher nicht entdeckt worden war. Sie klopfte dreimal kurz an die Tür mit der Nummer acht, genauso wie Susan, die Prostituierte, es ihr gesagt hatte. Einen Moment später öffnete wurde ihr geöffnet.

»Wer bist du? Und was willst du?«

»Ich bin Pam. Susi schickt mich. Ich hab euer Zeug.«

Kate fasste in ihre Tasche, um ihm den Stoff zu zeigen, den er so dringend brauchte. Er ließ es nicht zu, sondern umklammerte stattdessen ihren rechten Oberarm und zerrte sie grob ins Zimmer hinein. Er blickte noch einmal kurz an ihr vorbei und schloss dann mit einem Knall die Tür. Unsanft schubste er sie in Richtung des Tisches.

»Setz dich und gib mir die Scheißtasche.«

Sie übergab sie ihm, wie er es wünschte, ehe sie mit einem raschen Blick die Lage im Zimmer analysierte. Okay. Die beiden Gesuchten waren allein. Die Frau lag in gekrümmter Haltung auf dem Bett. Sie döste. Das Zimmer war heruntergekommen. Es stank modrig, und überall war Staub, der sie in der Nase kitzelte. Der Mann zitterte, während er ihre große Tasche durchsuchte.

»Erst die Kohle«, sagte Kate und richtete sich zur vollen Größe auf.

Sie sah ihm direkt in die Augen. Sie waren kalt, und er wirkte wütend. Kate atmete still und rührte sich nicht einen Zentimeter. Ihr Verhalten irritierte ihn, schien ihn noch wütender zu machen. Er schrie sie an, kam auf sie zu und hob seine rechte Hand, die sich zur Faust ballte. Während sie ihn mit ihren Augen fixierte, holte sie ihren Taser hervor, den sie an der Strumpfhose befestigt hatte, und versetzte ihm einen Schlag. Er schrie laut auf und stolperte nach hinten. Kate ließ nicht locker und näherte sich ihm, immer noch den Schocker auf ihn gerichtet. Er fiel längs neben das Bett. Die Frau wachte aus ihrem Dämmerzustand auf und sah Kate erschrocken an. Ihre Augen waren blutunterlaufen. Und dann hörte Kate sie nur noch schreien. Ein Blick in ihre Augen, und sie wusste, diese Frau stellte keine Bedrohung dar. Der Mann aber versuchte, die Lampe aus der Wand zu ziehen, um Kate damit zu attackieren. Sie wartete nicht, bis er sie treffen würde, sondern setzte sich auf ihn und schlug immer wieder auf ihn ein. So hart sie konnte. Das Schreien der Frau war wie die Musikbegleitung in einem Film, während eine spannende Szene lief, und ließ sie weitermachen. Sie bestrafte ihn dafür, das Leben so vieler Menschen und vor allem das seiner eigenen Kinder zerstört zu haben. Die Fotos dieser Kinder erschienen immer wieder vor ihrem geistigen Auge. Verwahrlost und verängstigt. Unschuldig, aber zu einem Leben wie diesem hier bestimmt. Seinetwegen. Wegen dieses Abschaums, der vor ihr lag. Und sie schlug und schlug immer weiter.

»Kate! Kate!!! Verdammt! Hör sofort auf! Kate, hörst du mich?«

Die Schreie waren verstummt, und plötzlich vernahm Kate, wie jemand ihren Namen rief.

»Kate, hör auf!«

Ein Ruck löste sie aus der Trance, in der sie sich befand. Wo war sie? Sie konnte sich nicht erinnern. Diese Augen. John zwang sie, ihn anzusehen.

»Kate. Was zur Hölle soll der Mist? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Verdammte Scheiße.«

Kate sah ihn erschrocken an. Wovon sprach er? Dann blickte sie um sich. Das Mädchen saß zitternd auf dem Bett und wimmerte. Leise sagte sie immer wieder einen Namen. »Aaron, Aaron, Aaron …«

Kate folgte ihrem Blick und erschrak bei dem, was sie sah. Blut sickerte unter dem Mann, der offenbar Aaron hieß, in den Teppich und bildete eine Lache. Sein Gesicht war rot und angeschwollen. Die Augenlider quollen über den Augäpfeln und schimmerten blau. Er regte sich nicht. Kates Herz schlug schneller. Erschrocken blickte sie auf ihre Hände. Ihre Knöchel waren blutig, und sie war sich nicht sicher, ob es sich um ihr eigenes oder um das des Mannes vor ihr handelte. Insbesondere die rechte Hand schmerzte bei dem Versuch, die Faust zu öffnen. Das weiße, fast durchsichtige Stretchkleid, das sie für diesen Job angezogen hatte und das sich kaum von ihrer hellen Haut abhob, war rot gesprenkelt. Kate schüttelte leicht den Kopf. Sie konnte nicht glauben, was sie sah, und brachte kein Wort heraus.

»Du gehst zum Auto und wartest dort auf mich. Hast du verstanden? Ich bring diesen Schlamassel hier in Ordnung.«

Kate erkannte John an seiner Stimme. Er klang wütend und schockiert. Immer noch realisierte sie nicht, dass seine Worte ihr galten. Wie ferngesteuert lief sie zu ihrem SUV und setzte sich mit versteinerter Miene auf den Beifahrersitz. Ihr Blick war auf ihre Hände gerichtet, die sie auf dem Armaturenbrett ruhen ließ. Sie konnte ihn nicht abwenden. Einige Zeit später stieg John zu ihr ins Auto.

»Ich habe meinen Bruder gerufen, er bringt die beiden zur Polizeiwache. Höchstwahrscheinlich muss der Kerl, den du so zugerichtet hast, erst mal ins Krankenhaus.«

Kate wandte den Blick von ihren Händen ab und sah John an. »Das Arschloch hat es verdient!«, verteidigte sie sich. Und doch war ihr klar, dass sie die Kontrolle verloren hatte.

John konnte nicht antworten, sondern schüttelte nur den Kopf und fuhr langsam los. So hatte er sie noch nie erlebt.

 

Mit zitternden und schmerzenden Fingern suchte Kate nach Verbandsmaterial, um ihre Hand zu verarzten. Noch immer hörte sie die Schreie der jungen Frau auf dem Bett. Sie empfand kein Mitleid. Trotzdem machte die Sache ihr Sorgen. Warum nur hatte sie sich nicht unter Kontrolle? Was war in letzter Zeit nur los mit ihr? Auf keinen Fall wollte sie ihren Job verlieren. Sie brauchte das Geld, wenn sie weiterhin in dieser Wohnung leben wollte. Niemals hätte sie es übers Herz gebracht, die vertraute Umgebung zu verlassen. Egal, wie tief der Schmerz saß. Sie war hier. In einem Teil der Zukunft, die es für sie nicht mehr gab, wenngleich sie immer ein Teil von ihr bleiben würde.