Debra Moerke mit Cindy Lambert

Ein Mord, zwei Mütter
und die Macht der Liebe

Über das Buch:
Als Debra und ihr Mann sich als Pflegeeltern bewerben, ahnen sie nicht, wie sehr dies ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Doch dann wird ihre fünfjährige Pflegetochter Hannah ermordet – ausgerechnet von Karen, ihrer leiblichen Mutter!
Von Trauer und Entsetzen schier überwältigt, können die Moerkes keinen weiteren Schlag verkraften. Da ruft Karen aus dem Gefängnis an. Sie, nun zu lebenslanger Haft verurteilt und erneut schwanger, hat eine ungeheuerliche Bitte: Debra soll sie besuchen … und ihr Baby großziehen. Was sollen Debra und Al nur tun?
Eine schier unglaubliche wahre Geschichte – über eine ganz normale Familie, ihren Glauben und den mutigen Versuch, Gottes grenzenlose Liebe sogar dem Menschen widerzuspiegeln, der ihnen das Liebste geraubt hat.

Über die Autorin:
Debra Moerke war 18 Jahre lang Pflegemutter für über 140 Kinder, hat in diversen Gefängnissen und sozialen Projekten mitgearbeitet und kürzlich ein Bibelschulstudium absolviert. Zusammen mit ihrem Mann Al lebt sie in Wyoming. Das Paar hat sechs erwachsene Kinder und sieben Enkelkinder.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96362-924-2
Alle Rechte vorbehalten
Originally published in English in the U.S.A. under the title:
Murder, Motherhood, and Miraculous Grace,
by Debra Moerke with Cindy Lambert
© 2019 by Debra Moerke
German edition © 2020 by Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
35037 Marburg an der Lahn
with permission of Tyndale House Publishers, Inc. All rights reserved
Deutsch von Anja Findeisen-MacKenzie
Cover photograph by Thom King
Umschlaggestaltung: Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH
nach einer Vorlage von Ram Creative
Satz und Datenkonvertierung E-Book:
Verlag der Francke-Buchhandlung GmbH

www.francke-buch.de

Im Gedenken an meine Schwester Jude,
die mich nicht nur zum Herrn geführt hat,
sondern auch die Erste war, die mich dazu ermutigt hat,
diese Geschichte aufzuschreiben.

Glücklich ist, wer die Bewährungsproben besteht
und im Glauben festbleibt.
Gott wird ihn mit dem Siegeskranz,
dem ewigen Leben, krönen.
Das hat er allen versprochen, die ihn lieben.

Jakobus 1,12

Vorwort von Carol Kent

Als ich den Titel dieses Buches las, blieb mir fast das Herz stehen. Vor ungefähr zwanzig Jahren klingelte mitten in der Nacht mein Telefon. Mein einziger Sohn, Absolvent der US-Marine-Akademie mit einer bis dahin tadellosen Vergangenheit, war verhaftet worden unter dem Verdacht, den Ex-Mann seiner Frau umgebracht zu haben. Nun erfuhr ich am eigenen Leib, wie es ist, wenn man eine unerwartete, schockierende Nachricht erhält. Wie einem schwindelig wird, man sich kaum noch auf den Beinen halten und das Ganze einfach nicht fassen kann. Alles um mich herum schien sich zu drehen, ich fürchtete um die Sicherheit meines Sohnes und um das Wohl seiner Frau und seiner zwei Stieftöchter. Ich fragte mich, warum ein guter Gott so etwas Furchtbares zulassen konnte; ich machte mir Sorgen, wie wir die Anwaltskosten bezahlen sollten und wie sich unser Leben verändern würde, wenn die Nachricht erst an die Öffentlichkeit gedrungen war. Zugleich empfand ich auch großes Mitgefühl mit den Angehörigen des Getöteten. Eines war jedenfalls gewiss: Das Leben würde nie wieder so sein wie vorher.

Tatsächlich kann es Einschnitte in unserem Leben geben, die einfach alles verändern. Ein schockierender Anruf. Die Geburt oder mögliche Adoption eines Babys. Ein Ereignis, das von uns eine ungeheure Charakterstärke erfordert. Eine verheerende persönliche Entscheidung, die uns die Freiheit raubt. Ein unerwartetes gesundheitliches Problem, das einen Menschen, den wir lieben, ins Leid stürzt. Eine Glaubenskrise, weil Gott es scheinbar zulässt, dass das Böse triumphiert. Die aufwühlende Entscheidung, jemandem zu helfen, der uns verraten hat. Die Bereitschaft, das Unverzeihliche zu vergeben.

Alles kommt plötzlich zum Stillstand und wir fühlen uns wie ein Außenseiter – wie jemand, der am Rande der Realität lebt und nicht wirklich »drin« ist. Unsere Gedanken werden durcheinandergewirbelt und widersprechen sich gegenseitig:

Das ist bestimmt nicht wirklich passiert.
Irgendwann wache ich auf und merke,
dass es nur ein böser Traum war.
Wenn das wirklich real ist, was soll ich dann tun?
Hätte ich es verhindern können?
Will Gott, dass ich mich da persönlich engagiere?
Wie wird sich das auf meine Familie auswirken?
Was werden die anderen denken?

Wir brauchen Weisheit, um ganz zu verstehen, was da geschehen ist, welche Rolle wir in dieser Situation übernehmen sollen und ob Gott möchte, dass wir etwas tun, was uns einiges abverlangt oder weit jenseits unserer menschlichen Fähigkeiten liegt.

Debra Moerke musste sich genau diesen Herausforderungen stellen, als sie und ihr Mann Al ihr Haus und ihr Herz für über hundertvierzig Kinder öffneten über einen Zeitraum von mehr als sechzehn Jahren. Weil sie überzeugt war, dass Gott sie dazu berufen hatte, nahm Debra gern die Probleme und den Schmerz an, den diese verwundeten Kinder mit im Gepäck hatten. Dann aber geschah etwas Unvorstellbares mit einem dieser kostbaren Kinder, für die sie sorgten und die sie liebten – einem Kind, das sie schützen wollten und für dessen Schutz sie gebetet hatten.

Die rätselhaften Wege Gottes schienen völlig unbegreiflich zu sein, als ausgerechnet Debras Familie, die Gottes Liebe mit solcher Hingabe weitergab, von einer schrecklichen Tragödie getroffen wurde. Und noch schwerer zu verstehen war dieser Weg, als Debra von Gott zu einem noch tieferen Gehorsam aufgerufen wurde – einem Gehorsam, der ein Opfer von ihr verlangte, das ihr menschlich gesprochen unmöglich erschien.

Weit über die Grenzen des Erträglichen herausgefordert, ging Debra einen Schritt nach dem anderen auf diesem neuen Weg, der ihrem verwundeten Herzen eine Vergebungs- und Risikobereitschaft abverlangte, die sie sich eigentlich nicht mehr vorstellen konnte. In ihrer Geschichte geht es nicht nur darum, sich den eigenen Ängsten zu stellen und gegen Riesen zu kämpfen; es geht nicht nur um unvorstellbare Vergebungsbereitschaft und um die Wunder, die geschehen, wenn wir uns Gott hingeben. In Wirklichkeit geht es um das, was nur Gott tun kann. Es ist so wunderbar, dass man es kaum glauben kann, und doch ist es wahr. Je mehr man von dieser Geschichte liest, umso größer wird Gott.

Auf meinem eigenen Weg mit meinem Sohn, der eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne Aussicht auf vorzeitige Entlassung erhielt, lerne ich immer mehr, dass Gott seinen Willen oft erst im Rückblick offenbart. Immer wenn ich denke, er wäre anderswo beschäftigt und sähe meine Not nicht, erkenne ich, dass er meine Gebete auf eine andere Weise erhört hat, als ich es mir gewünscht oder es erwartet habe. Statt meinem Sohn eine befristete Strafe zu gewähren, öffnete er unserer Hilfsorganisation Speak Up for Hope eine Tür für die Arbeit unter Strafgefangenen und ihren Angehörigen. Mein eigener Schmerz machte mich sensibel für die Nöte anderer und ließ mich bereit werden, jenen Familien ganz praktisch Liebe und Mitgefühl zu erweisen, die ich kennenlerne, während wir gemeinsam Schlange stehen und warten, bis wir unsere inhaftierten Angehörigen besuchen können. Ich erlebe, wie mein Sohn seine Ausbildung, seine Führungsqualitäten und seinen christlichen Glauben einsetzt, um seine Mitgefangenen zu unterrichten und zu beraten. So wie Debra Moerke erfahre auch ich Gottes wunderbare Gnade mitten in schwierigen Lebensumständen.

Möchten auch Sie gerne glauben, dass die Liebe über alles siegt? Sind Sie bereit, Gott auch dort am Werk zu sehen, wo die Umstände scheinbar gegen seine Existenz sprechen? Möchten Sie Zeuge einer unüberwindlichen Kraft der Vergebung werden und offen sein, über das zu staunen, was nur Gott tun kann? Beim Lesen dieses Buches erfahren Sie, wie Sie selbst in den dunkelsten Zeiten nach Gottes Licht Ausschau halten können.

Dieses Buch erzählt Debra Moerkes wahre Triumphgeschichte. Wenn Sie es gelesen haben, überlegen Sie doch einmal, wem Sie mit einem Exemplar dieser bemerkenswerten Geschichte Mut machen könnten. So weisen Sie auch andere Menschen auf eine ewige Perspektive hin, die uns den Segen offenbart, den wir auf dem Weg des Gehorsams erleben dürfen.

Carol Kent

Referentin und Autorin

Vorbemerkung

Die Geschichte, die Sie gleich lesen werden, ist tatsächlich passiert. Ich habe mich beim Erzählen jedoch nicht allein auf mein Gedächtnis verlassen, sondern auch Gerichtsprotokolle und Zeitungsartikel herangezogen. Außerdem habe ich Gespräche mit vielen Betroffenen geführt, um eine korrekte Darstellung zu gewährleisten. Ich bin allen dankbar, die mich in diesem Prozess unterstützt haben.

Korrektheit, Ehrlichkeit und Transparenz sind mir sehr wichtig. Ebenso wichtig aber ist mir ein angemessener Umgang mit anderen Menschen sowie deren Sicherheit und Privatsphäre. Darum wollte ich gern einen Weg finden, wie ich meine Geschichte erzählen kann, ohne die Privatsphäre anderer zu verletzen, sie öffentlich bloßzustellen oder gar in Gefahr zu bringen. Immerhin geht es hier um Pflegekinder und das Jugendamt, um einen Mord und ein Gerichtsverfahren, um Szenen aus dem Gerichtssaal und dem Gefängnis und ganz allgemein um eine heikle Situation.

Ich habe daher die Namen verschiedener Personen in diesem Buch verändert und ihre Identität verschleiert:

Jedes Kind, das in diesem Buch erwähnt wird, hat ein Pseudonym erhalten, auch eines meiner eigenen Kinder. Alle anderen haben es mir gestattet, sie mit ihrem richtigen Namen zu nennen.

Alle Juristen, alle Mitarbeiter der Jugendämter und anderer staatlicher Behörden erhielten ein Pseudonym, sofern sie überhaupt namentlich erwähnt wurden.

Auch »Karen«, die in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielt, taucht nicht mit ihrem echten Namen auf.

Die Namen von »Karens« Familienangehörigen, Freunden und Bekannten und von anderen Personen, die in Beziehung zu ihr stehen, wurden ebenfalls geändert.

Viele Menschen, deren tatsächliche Namen hier erwähnt werden, haben mir dies ausdrücklich gestattet, wofür ich ihnen sehr dankbar bin.

Private Unterhaltungen und Ereignisse, die nicht in öffentlichen Dokumenten festgehalten wurden, habe ich nach bestem Wissen und Gewissen wiedergegeben und danke allen, die es mir erlaubt haben, sie wörtlich zu zitieren. In einigen Fällen habe ich um des Erzählflusses willen kleinere Veränderungen vorgenommen, die aber dem ursprünglichen Wortlaut keinen Abbruch tun.

Debra Moerke

Prolog

»Mama, kann ich mit Katherine shoppen gehen?«

Es war ein warmer Junimorgen im Jahr 2012 und für Courtney hatten gerade die Sommerferien begonnen. Die Temperaturen in Casper (Wyoming) stiegen zwar, aber der Alcova Lake war immer noch zu kalt für irgendwelche Wasseraktivitäten. Und so war die Shopping Mall der spannendste Treffpunkt für die Jugendlichen in unserer Stadt.

»Katherines Mutter bringt uns hin …«

»Und ich kann euch abholen«, sagte ich. Mit ihren dreizehn Jahren erlaubte ich Courtney, zusammen mit ihren Freundinnen ohne elterliche Aufsicht bummeln und essen zu gehen.

Als ich später losfuhr, um Courtney und Katherine abzuholen, kam mir die Idee, wir könnten den Abend gemeinsam verbringen. Fast Food und ein Film im Kino, das könnte für meine Tochter im Teenageralter doch ganz interessant sein. In der Woche davor hatten wir Gäste gehabt und so dachte ich, dass uns beiden ein Abend ganz für uns guttun würde.

Der Parkplatz des Einkaufszentrums war überfüllt, deshalb fuhr ich mit dem Auto direkt zum Haupteingang, wo Courtney und ich uns verabredet hatten. Eine kleine Gruppe von Teenagern stand an der Tür mit Courtney zusammen. Ich winkte ihr zu und bemerkte, dass ein paar Jugendliche zu mir herübersahen und auf mich deuteten. Die Gesichter wirkten vertraut.

Und dann traf es mich wie ein Blitz. Waren das nicht zwei Kinder von den Bowers? Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich war mir nicht ganz sicher. Das letzte Mal hatte ich sie vor fast sechs Jahren vor unserem alten Haus gesehen. Trotz meines momentanen Unbehagens lächelte ich weiter und winkte Courtney zu mir. Endlich fand sie mich in der Schlange der Autos und kletterte auf den Beifahrersitz unseres SUV.

»Hallo, Schatz! Habt ihr Spaß gehabt? Wo ist Katherine?«, fragte ich.

»Oh, ihre Mutter hat sie vor ein paar Minuten abgeholt. Sie wollen essen gehen, deshalb musste sie früher los.« Courtney sprach leise und ihre Stimmung wirkte sehr gedämpft für ein Mädchen, das gerade ein paar Stunden mit seinen Freundinnen verbracht hat.

»Wer waren denn die Jugendlichen, mit denen du dich unterhalten hast?«

»Ach, nur so ein paar Kids. Ein paar aus der Schule und ein paar andere, die irgendwo in Casper wohnen.« Sie schnallte sich an und starrte geradeaus. Irgendetwas war passiert. Jemand hatte etwas gesagt. Ich spürte es. Die Furcht packte mich und meine Gedanken überschlugen sich.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Mir geht’s gut. Bin nur müde.«

Warum schaut Courtney mich nicht an?

»Ich dachte, wir könnten eine Kleinigkeit essen und uns einen Film anschauen. Papa kommt heute nämlich später von der Arbeit nach Hause. Hättest du Lust dazu?« Ich dachte, mein Vorschlag würde sie vielleicht aufmuntern.

»Ja! Klingt gut, können wir machen«, antwortete sie und klang dabei wieder mehr wie sie selbst.

Nachdem wir uns einen Burger geholt hatten, suchten wir uns einen Film aus, der uns beiden gefiel. Mit Popcorn und Getränken in der Hand machten wir es uns auf unseren Plätzen in der letzten Reihe gemütlich und warteten, bis es losging. Dann, wie aus heiterem Himmel, fragte sie mich plötzlich: »Mama, wie heißen meine leiblichen Geschwister?«

Diesmal setzte mein Herz gleich zwei Schläge aus.

Nun wusste ich es genau. Die beiden Teenager, die ich mit Courtney beim Einkaufszentrum gesehen hatte, waren ihre leiblichen Geschwister Steven und Ally. Sie waren ein gutes Stück gewachsen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, aber sonst hatten sie sich seit damals nicht sehr verändert. Obwohl die Frage mich überrumpelt hatte, antwortete ich mit einer Gegenfrage: »Bist du sicher, dass du dir den Film anschauen willst? Wenn du willst, können wir auch gehen.« Mit der Popcorntüte auf dem Schoß sah ich sie an.

Sie überlegte einen Augenblick und meinte dann: »Nein. Lass uns nach dem Film reden.« Die Lichter gingen aus und wir sahen auf der Leinwand die Vorschau für einen Film, der demnächst laufen würde.

Während der ganzen Vorstellung dachte ich über Courtneys Frage nach und überlegte, ob nun der Augenblick gekommen war, in dem sie mich bat, ihr die ganze Geschichte ihrer Adoption zu erzählen.

Sie meint vielleicht, sie sei dazu bereit, aber bin ich es? Ich weiß nicht, wie ich ihr das alles sagen soll. Ich konnte mich kaum auf den Film konzentrieren, sondern verbrachte die meiste Zeit mit Gebet.

Die anschwellende Orchestermusik verkündete das Ende der Vorstellung. Als die Lichter angingen, folgte ich Courtney ins Foyer und hinaus aus dem Kino. Schweigend gingen wir zum Parkplatz, stiegen in unser Auto und schnallten uns an.

»Na, wie hat dir der Film gefallen?«, fragte ich, während ich den Motor anließ.

Ohne Vorwarnung brach Courtney in Tränen aus. Schnell nahm ich sie in den Arm. »Was ist denn los?«, fragte ich sie, während ich sie an mich drückte.

»Ich … ich bin einfach …« Sie schluchzte und rang nach Worten.

»Durcheinander?«, beendete ich ihren Satz.

»Ja.« Sie weinte, als würde ihr das Herz brechen.

Ich hielt sie fest in meinen Armen und flüsterte: »Ich glaube, wir sollten jetzt nach Hause fahren, in unsere Schlafanzüge schlüpfen, uns auf mein Bett setzen und reden. Was meinst du?« Ich wartete auf ihre Antwort, ohne sie loszulassen.

Unfähig zu sprechen, nickte sie und wischte sich die Tränen aus den Augen. Während wir nach Hause fuhren, wurde mir klar, dass dieser Abend unser Leben verändern würde. War Courtney wirklich bereit, die ganze Wahrheit zu erfahren? War sie bereit für die Antworten auf all die Fragen, die sie schon so lange im Herzen trug?

Ich wünschte mir so sehr, dass sie das Licht Gottes durch ihre Geschichte hindurchscheinen sah, aber zuerst würde sie von der Dunkelheit hören müssen.

War ich in der Lage, es ihr zu erzählen?

Teil eins

Kapitel 1

Ein Tag, der das Leben für immer verändert, kündigt sich selten vorher an.

Erst im Rückblick erkenne ich, dass ein kleines Ja an einem warmen Junitag im Jahr 1996 eine ganze Flut von lebensverändernden Entscheidungen, von schier unerträglichem Schmerz und zugleich überirdischer Freude mit sich brachte. Es waren Entscheidungen, die nicht nur unsere Familie verändern würden, sondern auch mich selbst. Mein Glaube würde dermaßen herausgefordert werden, dass ich ihn kaum wiedererkennen sollte. Ich habe gelernt, dass man nie unterschätzen sollte, was Gott aus einem Ja machen kann.

Ich hatte eine Ladung Wäsche in der Waschmaschine und machte in der Küche sauber, während fröhliche Geräusche aus dem Kinderzimmer herüberdrangen. Da klingelte das Telefon.

»Hallo, Debbie, hier ist Ellen.« Die Sozialarbeiterin des Jugendamtes begrüßte mich wie üblich in einem freundlichen Tonfall. Mein Mann Al und ich waren seit vierzehn Jahren Pflegeeltern und kannten die Mitarbeiter des Jugendamtes so gut, dass wir uns mit den Vornamen anredeten.

»Ich weiß, Sie haben gerade zwei Brüder bei sich aufgenommen, die bald wieder nach Hause zurückkehren«, fuhr Ellen fort. »Könnten Sie vielleicht auch noch ein vier Tage altes Baby nehmen? Die Mutter liegt nach einem Kaiserschnitt im Krankenhaus und sie und ihr Kind wurden positiv auf Kokain getestet. Deshalb haben wir Ermittlungen angeordnet und müssen das Baby in der Zwischenzeit bei Pflegeeltern unterbringen.«

»Klar!«, antwortete ich und diese Zusage fiel mir nicht schwer. Ich konnte es kaum erwarten, unserer zwölfjährigen Tochter Helen die Neuigkeit mitzuteilen. Helen liebte Babys und wir hatten schon lange keines mehr bei uns aufgenommen.

»Wunderbar! Wenn Sie ins Krankenhaus kommen, melden Sie sich bitte im Zimmer des Pflegepersonals im zweiten Stock.« Ellen kannte unsere Geschichte. Sie wusste, dass wir gern Säuglinge und Kleinkinder bei uns aufnahmen und auch bei Kindern, die Entwicklungsstörungen hatten, Erfolge aufweisen konnten. Alkohol- oder Drogenmissbrauch während der Schwangerschaft wirkte sich oft sehr negativ auf die betroffenen Kinder aus; sie hatten viele Probleme, die es zu überwinden galt. Drei meiner eigenen fünf Kinder wohnten noch zu Hause und folglich erhielten die kleinen Pflegekinder von verschiedenen Seiten viel Zuwendung. Genau wie Helen hatten auch die fünfzehnjährige Sadie und der zehnjährige Charles ein Herz für Kinder und waren sehr geschickt im Umgang mit ihnen. Ich war stolz darauf, wie liebevoll meine eigenen Kinder sich um die Pflegekinder kümmerten. (Elizabeth, unsere Älteste, studierte an der Texas A&M Universität und unser Sohn Jason war bei der amerikanischen Luftwaffe in Deutschland stationiert.)

Ein paar Stunden später, nachdem ich die Arbeiten im Haushalt erledigt hatte und wir alle zu Mittag gegessen hatten, fuhren Helen und ich nach Casper, eine Strecke von fünfundzwanzig Minuten.

Als wir das Krankenhaus erreichten, ging Helen schnurstracks zum Aufzug. Sobald die Türen sich öffneten, war sie drinnen. »Welches Stockwerk?«, fragte sie, während ihr Zeigefinger über den Knöpfen kreiste, bereit, sie alle zu drücken, wenn uns das schneller zu dem Baby bringen würde. Natürlich war auch ich freudig aufgeregt, aber ich machte mir auch einige Gedanken. Wie hatten sich die Drogen auf den Körper des Kindes ausgewirkt? Welche Hilfe würde es von uns brauchen?

Warum dauerte es so lange, bis der Aufzug im zweiten Stock ankam?

Endlich öffneten sich die Türen.

Eine Krankenschwester begrüßte uns am Empfangstresen. »Wir haben Sie schon erwartet. Folgen Sie mir bitte, damit ich Ihnen alles mitgeben kann, was das Baby bei Ihnen zu Hause braucht.«

Auf der Säuglingsstation lag ein winziges Baby in einem Stubenwagen unter einer Wärmelampe. Es war in eine weiß und hellgrün gestreifte Decke eingewickelt. Helen quietschte vor Begeisterung, als sie im schwarz gelockten Haar des kleinen Mädchens eine rosa Schleife entdeckte. Sie führte einen kleinen Freudentanz auf und streichelte dem Baby dann sanft über die dunkle Stirn.

Die Pflegerin lachte. »Ihr dürft sie gleich mit nach Hause nehmen und so viel auf den Arm nehmen, wie ihr wollt. Sie braucht jede Menge Zuwendung.«

Dann reichte sie mir einen ganzen Stapel Entlassungspapiere und Anweisungen. Sie machte eine Kopie von meinem Führerschein, während ich schnell die Formulare ausfüllte.

»Die Kleine ist süß, aber ich muss Sie auch warnen«, meinte die Pflegerin schließlich in ernstem Tonfall. »Die Drogen werden sich noch einige Tage, vielleicht sogar Wochen auswirken.«

»Wie schwer sind die Symptome?«, fragte ich.

»Manchmal zittert und weint sie und lässt sich kaum trösten. Am besten ist es, wenn sie lernt, selbst damit klarzukommen. Wickeln Sie die Kleine fest in eine Decke ein und nehmen Sie sie auf den Arm. Wenn man sie hin und her schaukelt, ihr etwas vorsingt und mit ruhiger Stimme spricht, scheint sie das zu trösten.«

»Das schaffen wir schon«, versicherte ich.

Helen nickte ebenfalls, als würde sie persönlich die Verantwortung übernehmen, dass alle Anweisungen befolgt wurden. In diesem Moment kam eine andere Pflegerin herein.

»Die Mutter des Kindes würde Sie gern kennenlernen«, sagte sie zu mir.

»Dazu sind Sie nicht verpflichtet«, wandte die erste Pflegerin ein. »Wir können ihr auch alle Informationen geben, die sie haben möchte.«

»Nein«, erwiderte ich, »ich gehe zu ihr. Kann ich sie jetzt sehen?« Helen war überglücklich, dass sie solange bei dem Baby bleiben durfte.

Ich folgte der Pflegerin in ein Krankenzimmer und sah eine junge Frau mit dunklem, welligem Haar und dunkler Hautfarbe im Bett liegen, die eine Dose Mineralwasser trank.

Als sie mich sah, stellte die Frau die Dose aufs Tablett und versuchte sich aufzurichten. Sie biss die Zähne zusammen und schloss die Augen, während sie sich an der Rückenlehne des Bettes abstützte. Ich konnte ihr ansehen, dass sie noch Schmerzen von der Operation hatte.

Ich stand am Fußende des Bettes. »Hallo, mein Name ist Debra. Ich kümmere mich für eine Weile um Ihr Baby. Sie haben eine hübsche Tochter!«

»Danke«, sagte die Frau kurz angebunden, den Blick zur Seite gewandt. »Ich werde für ein paar Wochen bei meinen Eltern wohnen und möchte meine Muttermilch abpumpen und einfrieren. Wären Sie bereit vorbeizukommen und sie abzuholen?« Sie sah mich kurz an und wandte dann den Blick wieder ab. »Ich möchte unbedingt, dass sie meine Milch bekommt.«

Offensichtlich fiel es der Frau schwer, mich anzuschauen. Für sie war ich wahrscheinlich Teil des Systems, das ihr das Kind wegnahm – keine ungewöhnliche Reaktion einer leiblichen Mutter, wenn das Jugendamt sich entschied, das Kind zur Pflege wegzugeben. An ihrer Stelle hätte ich mich auch schrecklich gefühlt.

»Ich spreche mal mit der Sozialarbeiterin und frage sie, ob das in Ordnung ist«, sagte ich und lächelte in der Hoffnung, ihr klarzumachen, dass ich nicht ihre Feindin war. »Wie heißt Ihre Tochter denn?«

»Ally.« Ihre Wangen röteten sich leicht, als sie den Namen aussprach. Sie senkte den Kopf und ihre Verärgerung schien sich zu legen, während ihr die Tränen über die Wange liefen und auf die Bettdecke tropften.

Es ist schon schwer genug, mit all den Gefühlen klarzukommen, die eine Mutter nach der Geburt überwältigen. Und dann im Krankenhaus bleiben zu müssen, während das neugeborene Kind fremden Menschen übergeben wird, das muss noch schwerer sein.

»Und wie heißen Sie?«, fragte ich schließlich.

»Ähm … Karen Bower«, antwortete sie.

»Schön, Sie kennenzulernen, Karen.« Die Pflegerin warf mir einen Blick zu und machte einen Schritt in Richtung Tür. Ich folgte ihr aus dem Zimmer zurück auf die Säuglingsstation, wo Helen dem Baby nicht von der Seite gewichen war.

»Also, packen wir zusammen und dann ab nach Hause mit euch beiden«, sagte ich mit einem Lächeln. Ich unterschrieb ein Formular auf einem Klemmbrett und die Pflegerin händigte mir meinen Führerschien wieder aus. Wir legten das Baby in den Autositz, den seine Mutter mit ins Krankenhaus gebracht hatte, und gingen zurück zum Aufzug.

Es war schon spät am Nachmittag, als wir den Parkplatz der Klinik verließen. Das Pflegepersonal hatte uns Säuglingsnahrung und eine Tüte mit Creme, Shampoo und Windelproben mitgegeben, aber Helen und ich machten noch bei einem Geschäft halt, in dem wir Strampler, Bodys und Windeln kauften.

Als wir nach Hause kamen, nahmen Sadie und Charles voller Begeisterung das Baby abwechselnd auf den Arm, während ich die Wiege aus dem Abstellraum holte und sie frisch bezog. So viele Babys hatten schon bequem in diesem Bett geschlafen. Nun war Ally dran.

* * *

Al und ich hatten unsere Aufgabe als Pflegeeltern stets gemeinsam erfüllt. Die damit verbundenen Freuden hatten wir genossen und die Herausforderungen bewältigt. Als Ally zu uns kam, hatten wir zuvor schon über 140 Kinder betreut, manche nur für eine Nacht, andere für Wochen oder Monate, einige wenige waren mehrere Jahre bei uns gewesen.

1982 haben wir das erste Mal Pflegekinder bei uns aufgenommen. Damals waren wir drei Jahre verheiratet und bildeten eine Patchworkfamilie mit drei Kindern. (Unsere beiden anderen Kinder wurden in den nächsten Jahren geboren.) Eine Beziehung zu Gott hatte keiner von uns. Al war in einer katholischen Umgebung aufgewachsen, seine Mutter war katholisch und sein Vater evangelisch-lutherisch. Zur Kirche ging seine Familie nur selten. Ich gehörte zur presbyterianischen Kirche und besuchte als Kind häufig den Gottesdienst. Als ich älter wurde, ging meine Familie jedoch nicht mehr so regelmäßig dorthin. Ich habe meine Familie oft als »Kirchgänger mit problematischem Hintergrund« bezeichnet. Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich acht war. Von da an gingen wir nur noch unregelmäßig zur Kirche.

Als Al und ich uns kennenlernten und heirateten, besuchten wir gelegentlich eine in der Nähe gelegene Kirche, meist zu bestimmten Anlässen wie Hochzeiten oder Beerdigungen und zu besonderen Feiertagen wie Weihnachten und Ostern. Ein wöchentliches Ereignis war unser Kirchenbesuch jedoch keinesfalls. Allerdings beteten wir mit unseren Kindern zu Tisch und beim Schlafengehen. 1980 wollte ich mich gern in der Lebensrechtsbewegung engagieren. Weil jedoch die Gemeinde, zu der wir gehörten, meine Ansichten nicht teilte, schickte ich Briefe an andere Gemeinden in unserer Umgebung, um herauszufinden, wer sich für das Lebensrecht Ungeborener einsetzte. Die einzige Gemeinde, die auf meine Anfrage antwortete, war eine kleine baptistische Gemeinde. Ich entschied mich, mit den Kindern gelegentlich dorthin zu gehen; Al kam jedoch nicht mit.

* * *

Eines Abends sahen Al und ich im Lokalfernsehen einen Werbespot, in dem unsere Stadtverwaltung dringend nach Familien suchte, die bereit waren, Kinder bei sich aufzunehmen – solche, die von ihren Eltern misshandelt oder vernachlässigt worden waren. Wir sahen uns an und waren uns sofort einig: Wir hatten ein schönes Zuhause, genug zu essen und Freiraum in unserem Herzen. All das wollten wir mit diesen Kindern teilen. Am nächsten Tag fuhr ich zu unserem Jugendamt und füllte einen Bewerbungsbogen für Pflegeeltern aus. Nach intensiven Gesprächen und einer Überprüfung unseres Zuhauses durfte unser erstes Pflegekind, ein kleiner Junge, bei uns einziehen.

In der ersten Zeit als Pflegeeltern sahen wir die Eltern, den jeweiligen Vormund und die Familienmitglieder, die eigentlich für diese unschuldigen Kinder verantwortlich waren, sehr kritisch und betrachteten uns zumindest punktuell als die Retter dieser vernachlässigten und misshandelten Kinder. Wir dachten nicht über die Hintergründe dieser Misshandlungen nach. Wir nahmen einfach an, dass die Erwachsenen eben drogen- oder alkoholabhängig waren oder früher selbst misshandelt worden waren und deshalb jetzt mit ihren Kindern genauso umgingen, wie man mit ihnen umgegangen war. Oder sie hatten ein Problem mit ihrer Aggressivität, das nie behandelt worden war. In unseren Augen waren solche Eltern einfach böse, sie hatten kein Gewissen und kannten keine Grenzen. Natürlich war das eine sehr vereinfachte Perspektive und obwohl wir nicht verstanden, was Menschen dazu brachte, solche Entscheidungen zu treffen, setzten wir uns doch mit ganzer Leidenschaft ein, um den Kindern zu helfen, die unter ihren Eltern litten oder von ihnen nicht versorgt wurden.

Eines unserer ersten Pflegekinder war ein fünf Tage alter Säugling. Der kleine Junge war an einem heißen Tag von seiner Mutter im Auto zurückgelassen worden, die sich mit Drogen aus dem Staub gemacht hatte. Sie wurde gefunden und verhaftet, doch die Polizei wusste nichts von dem Kind, bis der Freund der Mutter auftauchte, um eine Kaution für sie zu bezahlen. Der Säugling überlebte nur knapp und musste einen Monat im Krankenhaus bleiben, bevor wir ihn zu uns nach Hause holen durften.

Ein anderes Baby hatte aufgrund von Misshandlungen Schädelfrakturen erlitten. Manche Kinder wurden mit Zigaretten verbrannt oder verprügelt, sodass ihre kleinen Körper blaue Flecken oder sogar bleibende Narben davontrugen. Wenn unsere Kinder sahen, wie diese kleinen, hilflosen Wesen misshandelt worden waren, waren sie empört darüber. Sie äußerten das, was wir selbst auch dachten. Ihre Reaktionen reichten von: »Wer so was tut, gehört für den Rest seines Lebens eingesperrt« bis hin zu: »Man sollte diese Leute auch mal mit Zigaretten verbrennen oder gleich erschießen«. In ihren Gedanken gab es nicht viel Gnade oder Vergebung für diese Menschen. Al und ich dachten besonders in den ersten Jahren ganz ähnlich.

Doch nach vier Jahren veränderte sich unser Leben auf dramatische Weise. Al hatte ein massives Alkoholproblem und ich merkte, dass ich damit völlig überfordert war. Wir erlebten, wie unsere Ehe zerbrach, und fürchteten schon, dass die Scheidung der einzige Ausweg war. Al beschloss, sich in einer Klinik in Behandlung zu begeben, und ich merkte kurz danach, dass ich schwanger war.

Eines Sonntags, als Al noch in der Klinik war, ging ich mit unseren Kindern in den Gottesdienst und hörte eine Predigt über 5. Mose 5, wo es um »die Sünden der Eltern« geht. Gott gebrauchte diese Predigt, um mich dazu zu bewegen, dass ich auf die Knie ging und um Rettung bat. Denn ich hatte erkannt, wie die Sünden meiner Eltern, Großeltern und vergangener Generationen mein Leben beeinflusst hatten. Es ging dabei um Bitterkeit, mangelnde Vergebungsbereitschaft, Lust, Habgier und vieles mehr. Ich sah mit ganz neuen Augen, dass es diese Sünden auch in meinem Leben gab und dass Al und ich sie an die nächste Generation weitergaben, wenn dieser Kreislauf nicht unterbrochen wurde. Das Opfer Jesu durchbrach diesen Automatismus; wenn ich meine Sünden bekannte, dann würde er mich »von allem Bösen reinigen« (1. Johannes 1,9). Ich entschied mich für Jesus und betete, dass die Sünden und Belastungen meines Lebens weggenommen und durch sein Blut vergeben und gereinigt würden.

Ohne dass ich es wusste, fand Al während seiner Behandlung seinen ganz eigenen Weg zum Glauben. Als wir beide uns über das austauschten, was wir erfahren hatten, beschlossen wir, Gott zu vertrauen. Er konnte in uns neues Leben schaffen und unsere Ehe erneuern. Nach der Geburt von Charles gaben Al und ich bei einem Familientreffen vor allen Anwesenden unsere Entscheidung für Jesus bekannt. Seit seiner Entziehungskur hat Al keinen Alkohol mehr angerührt und lebt sein Leben für Christus. Seitdem hat Gott uns in viele herausfordernde Situationen geführt, durch die unser Glaube gewachsen ist, und er hat uns in seinen Dienst berufen.

Als wir den Zusammenhang von Sünde, Sündenbekenntnis, Vergebung und geistlichem Wachstum verstanden hatten, erkannten wir, dass wir nicht nur für das seelische und physische Wohl unserer Kinder und Pflegekinder verantwortlich waren, sondern auch für das geistliche. Das veränderte einfach alles. Es war unsere Aufgabe, diesen Kindern die Wahrheit zu vermitteln, die auch sie und vielleicht sogar ihre Familien frei machen konnte. Wir konnten unseren Teil dazu beitragen, dass andere Menschen mit Christus in Berührung kamen, egal wie viel oder wie wenig Zeit wir mit jedem einzelnen Kind verbrachten. Wir waren dazu aufgerufen, auf jede erdenkliche Weise von der Hoffnung in Christus weiterzuerzählen. Daraufhin wurde der Gottesdienstbesuch am Sonntag für uns als Familie zur Regel, das Gebet nahm in unserem Alltag eine zentrale Stelle ein und wir lasen unseren Kindern regelmäßig Geschichten aus der Bibel vor.

Darüber hinaus erkannten wir, dass wir die Liebe Gottes auch an die Menschen weitergeben sollten, die in unseren Augen alles andere als liebenswürdig erschienen – an Eltern, die ihre Kinder misshandelten und vernachlässigten. Aber wie sollte ich es schaffen, diese Eltern zu lieben? Ich musste akzeptieren, dass ich ihnen nicht überlegen war – dass wir alle vor Gott Sünder sind. Ich wusste es nicht, aber ich setzte alles daran, dass Gott dieses Wunder in mir bewirken konnte. Und mir war auch klar, dass wirklich ein Wunder nötig war, um in meinem Herzen diese Liebe, Vergebungsbereitschaft und Gnade zu spüren.

Ich kam auf diesem Weg einen riesigen Schritt voran, als ich eine Bibelarbeit für das Zentrum für Schwangerschaftskonfliktberatung vorbereitete. Ich wollte einigen unserer Klientinnen helfen, mit dem sexuellen Missbrauch, den sie erlitten hatten, fertigzuwerden. Ich selbst war in jungen Jahren ebenfalls Missbrauchsopfer geworden und wünschte mir, dass Gottes Wahrheit mich verwandelte. Während ich diese Bibelarbeit vorbereitete, zeigte Gott mir, dass er es ist, der die Antworten hat, und es ohne ihn kein echtes Verstehen und keine Hoffnung auf Heilung gibt. Diese Bibelarbeit zum Thema »Heimliche Sünden« wurde im Selbstverlag gedruckt und von verschiedenen Organisationen in der Beratung Betroffener verwendet.

Als Al und ich unsere persönliche Begegnung mit Jesus hatten und mit seiner Vergebung und der Bibel in Berührung kamen, wollten wir uns gegenseitig dazu ermutigen, auch gegenüber den Eltern, die ihre Kinder misshandelten, ein vergebendes Herz zu haben. Durch unsere Bekehrung veränderte sich aber unsere natürliche Reaktion der Wut und des Wunsches nach Vergeltung nicht von heute auf morgen. Es blieb ein Kampf.

Natürlich wurde es für uns dadurch auch nicht einfacher zu ertragen, dass Kinder von ihren eigenen Eltern verletzt wurden, und wir waren jedes Mal innerlich aufgewühlt, wenn ein Kind wieder nach Hause geschickt wurde, weil die Mutter oder der Vater alle gerichtlichen Auflagen erfüllt hatte. Besonders tragisch war, dass sexuell missbrauchte Kinder häufig zu einem Elternteil zurückgeschickt wurden. Das hatte sie zwar nicht selbst missbraucht, würde die Kinder aber wahrscheinlich nicht vor dem nächsten Missbrauchsversuch schützen. Irgendwann mussten wir schließlich erkennen, dass wir das fehlerhafte System nicht verändern konnten, sondern dazu berufen waren, im Leben dieser Kinder und Eltern so lange zu wirken, wie Gott es uns erlaubte. Wir durften liebevoll für sie sorgen und sie mit einem anderen Lebensstil vertraut machen. Wir lernten, unseren Kindern zu erklären, dass solche Dinge in der Welt geschehen und wir nur den Part übernehmen können, zu dem wir berufen sind.

Erst viel später sollte ich erfahren, dass Gott auch das Unmögliche Wirklichkeit werden lassen kann, wenn er uns zu einer scheinbar unmöglichen Aufgabe beruft.

* * *

Die nächsten vierundzwanzig Stunden mit unserem neuen kleinen Gast vergingen wie im Flug. Wenn Ally wach war, hatte immer irgendjemand sie auf dem Arm.

Glücklicherweise zeigte sie keine Anzeichen einer Entwicklungsstörung. Vom ersten Tag an war sie aktiv und reagierte auf jede Zuwendung. Allerdings hatte sie Entzugserscheinungen, die mehrmals auftraten. Dann riss sie die Augen auf, schlug mit ihren kleinen Armen um sich, so als hätte sie vor etwas Angst, und fing an zu weinen. Manchmal zitterte sie und schüttelte sich, was weitere Tränen hervorrief. Wir taten unser Bestes, um sie zu beruhigen, legten ihr eine Wärmflasche auf den Bauch, trugen sie herum oder sangen ihr etwas vor. Das mochte sie besonders gern. Beim Singen schaute sie mich an und spitzte die Lippen, als wollte sie mitsingen.

Einen Tag nachdem wir Ally zu uns in unser bescheidenes Landhaus in der Goose Egg Road geholt hatten, bekam ich einen weiteren Anruf von Ellen.

»Das Baby, um das Sie sich kümmern, hat Geschwister, die ebenfalls Pflegeeltern brauchen. Die Eltern der Mutter haben schon das älteste Kind bei sich aufgenommen, aber sie können nicht alle Kinder nehmen.«

»Wie viele sind es denn?«, fragte ich. Ich hatte vier Betten für Pflegekinder, denn die beiden kleinen Brüder, um die wir uns gekümmert hatten, waren wieder zu ihrer Mutter zurückgekehrt.

»Vier«, antwortete Ellen. »Ein sechsjähriger Junge, zwei Mädchen, vier und fünf Jahre alt, und noch ein Junge, drei Jahre alt. Wenn Sie dazu bereit sind, dann könnten die Kinder im Lauf der nächsten Woche zu Ihnen kommen. Sie leben im Moment verstreut bei verschiedenen Familienangehörigen. Können Sie alle vier bei sich aufnehmen?«

Ich wusste, dass ich mich mit Al nicht abstimmen musste, weil er mit meiner Antwort einverstanden sein würde. Schon vor längerer Zeit waren wir übereingekommen, dass unsere Tür immer für weitere Kinder offen stand, solange wir freie Betten hatten.

»Auf jeden Fall! Bringen Sie sie alle her!«

Wieder ein scheinbar einfaches Ja.