817611_Mueller_Der_Kuss_des_Feindes_S003.pdf

9

Gierig leckte der Wolf das Blut von den Steinen, den Vorgeschmack der Beute, die er in Kürze verschlingen würde. Er sah Nuh aus gelben Augen an. Nuh hob drohend das Schwert, aber der Wolf zuckte nicht einmal, er stand still da, als warte er darauf, dass Nuh sich ergab.

Nuh sah sich mit brennenden Augen um. Rings um die Hügelkuppe, auf die er hinaufgeklettert war, fegte der Wind über die Steppe, er trieb den Staub in Schwaden vor sich her. Trockene Halme wurden mitgerissen, Ziegenhaar, Wacholderblätter. Die Pfützen waren längst vertrocknet.

Der Wolf war allein. Sicher würde er mit ihm fertigwerden. Nur schlafen durfte er nicht, er musste das Tier im Blick behalten.

Um seine blutenden Füße zu untersuchen, setzte sich Nuh auf einen Felsbrocken. Er packte den rechten Fuß und hob ihn sich vor das Gesicht. Der Schnitt im Ballen war tief. Schmutz war in die Wunde eingedrungen. Am linken Fuß waren zwei Blasen aufgeplatzt, sie bluteten ebenfalls.

Der Wolf hob den Kopf und heulte. Die lang gezogenen Töne hallten weit, wilde Kraft sprach aus dem Ruf. Er sah ihn wieder an mit seinen gelben Augen, ein hungriger, unerbittlicher Blick.

Von fern kam ein Heulen zur Antwort. Dann ein weiteres. Der Wolf hatte sein Rudel gerufen. Er sammelte die Gefährten zur Jagd – zur Jagd auf ihn.

Ist das der Lohn, Allah?, betete er. Weil ich einen Mord verhindern wollte, soll ich hier sterben? Er wusste, wie die Jagd ablaufen würde. Solange er noch in der Lage war, sich mit dem Schwert zu verteidigen, schnappten sie nur nach seinen Waden. Sie würden ihm keine Ruhe gönnen, ihn treiben, bis er müde wurde. Dann würden sie ihn verletzen, um ihn weiter zu schwächen, von allen Seiten würden sie nach ihm beißen, vor allem würden sie versuchen, ihm die Sehnen zu durchtrennen, damit er nicht mehr laufen konnte. War er ermattet genug, beendete ein Biss in die Kehle seine Flucht.

»Unterschätze mich bloß nicht«, sagte er zum Wolf. »Ich bin aus Afrika. Wir Afrikaner sind ausdauernd.« Er stand auf. Mühsam humpelte er den Hang hinunter. Bei jedem Schritt stach es an den Fußsohlen. Der Wolf folgte ihm.

Seit der Gesandte des Kalifen im frühen Morgengrauen aufgebrochen war und das Frühstück – zerstückelte, hart gekochte Eier, Käse und schwarze Oliven – verschmäht hatte, sprach Haroun kein Wort mehr. Der Gesandte hatte ihn unhöflich behandelt und damit gezeigt, dass er mit seinem Besuch unzufrieden war. Der Kalif erwartete den Stamm an der Festung Saniana, es gab kein Verhandeln.

Arif sah zum Himmel. Der Wind blies Nebelpferde auf, ließ sie steigen und schnauben am Firmament. Vater saß vor dem Zelt und schliff die Schneidekanten seines Schwerts. Die Gepardin hatte sich, soweit die Kette es zuließ, entfernt. Sie mochte das Geräusch nicht; jedes Mal, wenn der Schleifstein den Stahl wetzte, bleckte sie die Zähne.

Vater hatte sich mit seinen Rüstungsteilen umgeben: dem Panzerhemd, dem halbkugelförmigen Eisenhelm, dem Schild und dem Wurfspeer, Bogen und Pfeilen, Messern und dem Schwert. Er sagte: »Bring mir deine Waffe. Wenn ich hiermit fertig bin, schleife ich sie auch. Diesmal kommst du mit. Wir brauchen in dieser Schlacht jeden Mann.«

Der gefürchtete Augenblick hatte irgendwann kommen müssen. »Mein Schwert ist in den Gärten der Christen«, sagte Arif. »Ich hab es im Dunkeln verloren.«

Der Vater hielt beim Schleifen inne. Er sah starr vor sich auf den Boden. »Wenn so etwas im Kampf passiert, sage ich nichts. Aber ohne Anlass? Wie konntest du dein Schwert liegen lassen?«

»Die Felsenhäuser sind ein Labyrinth. Ich musste durch schmale Löcher kriechen, da habe ich es abgeschnallt.«

»Und hast es vergessen? Das ist ein indisches Schwert, von Meisterhand geschmiedet! Du wirst es suchen gehen, Arif.«

»Ja, Vater.«

»Am besten reiten wir gemeinsam hin. Ich will diese Gärten sehen.«

Ihm schlug das Herz bis zum Hals. »Glaubst du mir nicht, dass es sie gibt?«

»Natürlich glaube ich dir. Ich will die Spuren lesen. Die Ungläubigen bauen dort Gemüse an, also müssen sie auch irgendwie von ihrem Versteck dahin gelangen.«

Savina läuft draußen herum, dachte er. Wenn Vater ihre Spur findet und ihr folgt! Schlimmer noch, wenn wir ihr begegnen! Vater würde sie, ohne zu zögern, töten. »Wo ist al-Qabih?«, fragte er.

Vater sagte nichts.

»Er war heute Nacht nicht im Zelt. Das hat er noch nie gemacht, selbst wenn er weggelaufen ist, am Abend war er immer wieder da.«

»Mag sein.«

»Ich mache mir Sorgen um ihn.«

»Der kümmert sich schon um sich selbst.«

»Eben nicht. Er ist schwach und braucht uns.«

Der Vater sah hoch. In seinem Blick lag Kälte. »Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt in ein Lager von Kriegern passt.«

Es war, als hätte er Arif einen Hieb in die Magengrube versetzt. »Warum?«, fragte er. »Weil ich das Schwert verloren habe? Oder weil ich gestern gesagt habe, dass die Christen gern ihr Eigentum behalten würden?«

»Du weißt es selbst, Arif.« Er schliff die Klinge mit gleichmäßigen Bewegungen und brachte den Stahl zum Singen. »Wir müssen uns damit abfinden. Du bist nicht Utman, und du wirst es auch nicht werden.«

Er wollte den Vater ansehen. Er konnte es nicht. »Aber ein Krieger – denkst du, ich bin kein Krieger?«

Haroun schwieg.

Wortlos wandte sich Arif ab und ging an der Gepardin vorüber. Er bekam keine Luft mehr, wollte nur fort von hier. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er wischte sie eilig fort, aber es kamen neue nach. Er wollte nicht weinen, Memmen weinten, Feiglinge. Nichts wollte er mehr, als ein Krieger zu sein. Er wollte kämpfen und für seinen Mut vom Vater anerkannt werden. Es brannte in seinem Inneren.

Endlich trocknete die Haut in seinem Gesicht. Sie spannte sich dabei, der Wind blies darauf und gab ihm das Gefühl, die Haut sei aus Leder. Arif krallte die Fingernägel in die Handflächen und schwor sich, nie wieder zu weinen. Er würde hart werden, ein Krieger werden. Er würde es dem Vater beweisen.

Es stimmte ja, er hatte jedes Mal Magengrimmen, wenn es in die Schlacht gehen sollte. Und er mochte die derbe Art der Gleichaltrigen nicht, ihre Raufereien, ihren Spott, ihre Wettkämpfe. Aber er konnte es lernen, er besaß Mut, er brauchte nur jemanden, der an ihn glaubte, er brauchte Vaters Liebe.

Hundegebell riss ihn aus seinen Gedanken. Da waren Marwan und Yusuf, eine kläffende Hundemeute umgab sie. Die beiden lachten. Sie hielten Lederbeutel hoch über ihre Köpfe. »Jetzt du«, sagte Marwan.

Yusuf holte ein blutiges Stück Gedärm aus seinem Beutel und warf es in hohem Bogen in die Meute. Die Hunde kämpften darum. »Siehst du das«, sagte er, »der Magere hat Kraft, er schnappt es den anderen weg.«

»Ja, ich seh’s.« Marwans Hände waren wie die von Yusuf blutverschmiert. »He, Arif«, rief er, »warst du das gestern mit al-Qabih am Halys?«

»Nein. Mein Bruder war am Fluss?«

»Ich wusste gar nicht, dass der kleine Krüppel schwimmen kann.« Marwan grinste.

»Kann er nicht. Bist du dir sicher, dass er es war? Er kann unmöglich bis zum Halys gelaufen sein.«

»Du hast ihn ja mitgenommen, oder nicht?«

Arif erstarrte. Marwans Gesichtsausdruck … »Ihr verfluchten Hundesöhne!« Er rannte zum Zelt und holte Wasserschlauch, Sattel und Zaumzeug. Vater fragte, was los sei, aber Arif hielt sich nicht mit Erklärungen auf, er stürmte zur Pferdekoppel, sattelte Layla, saß auf. Er gab ihr die Fersen, mitten in der Koppel. Layla galoppierte auf die Umzäunung zu, sprang, flog darüber hinweg. In donnerndem Galopp jagten sie auf die Steppe hinaus.

Vor Arifs innerem Auge spielten sich Erlebnisse ab, die er mit seinem Bruder geteilt hatte. Wie er als kleiner Junge versucht hatte, al-Qabih durch ausdauerndes Kitzeln abzuhärten, und am Ende hatten sie sich lachend in den Armen gelegen. Wie sie einige Jahre später in Fässern über einen kleinen See im Jemen gepaddelt waren und sich mit den Ruderstöcken gegenseitig nass gespritzt hatten. Wie er al-Qabih beim Spielen von giftigen Schlangen erzählt hatte, und der Bruder war daraufhin stocksteif stehen geblieben und wollte keinen Schritt mehr durchs Gras machen, aus Angst, eine dösende Schlange aufzuschrecken.

Er war verantwortlich für seinen Bruder. Was hatten sie mit ihm angestellt? Lag er gefesselt am Ufer des Halys und schrie sich heiser? Oder hatten sie ihn ausgesetzt und er suchte verzweifelt einen Weg nach Hause?

Niemand würde ihnen etwas nachweisen können. Trotzdem, dachte er voller Zorn, sie werden büßen für die Qualen, die sie al-Qabih zugefügt haben, dafür sorge ich. Auch ein Marwan durfte nicht ungestraft Menschen drangsalieren. Es gab Wölfe in der Gegend. Hoffentlich fielen sie al-Qabih nicht an.

Layla begann zu keuchen. Schweiß flockte von ihrem Fell. Er ließ sie in Trab fallen und schließlich in Schritt. So gingen sie, bis sich die Stute erholt hatte. Dann ließ er sie wieder antraben.

Die Ebene war weit. Al-Qabih wusste nicht, dass die Sonne im Osten aufging und im Westen unterging, und auch nicht, wo sich ihr Lager befand. Er würde sich fürchterlich verlaufen. Wie fand man einen verlorenen Bruder in dieser Endlosigkeit?

Nuh hob einen Stein auf und schleuderte ihn nach den Wölfen. Der Wurf geriet zu weit. »Haut ab!« Er schleppte sich weiter. Erneut kamen sie angesprungen, umkreisten ihn und schnappten nach seinen Beinen. Er schlug mit dem Schwert um sich. Leichtfüßig wichen die Wölfe aus.

Ich will nicht sterben, dachte er. Die Arme erlahmten ihm, das Schwert wog schwer. Ihm tanzten Sterne vor den Augen und die Zunge klebte am ausgetrockneten Gaumen. Er blinzelte.

Am Himmel kreisten Geier und warteten auf die Beute. Das Ende war unausweichlich. Zuerst würden die Wölfe sein Fleisch zerreißen, dann hackten die Geier die Reste von den Knochen. Hier, mitten in der Einöde, erlosch noch heute sein Leben.

Mit einem letzten Aufbäumen schrie er die Wölfe an, schlug nach ihnen, taumelte. Er fiel. Er meinte, einen Ruf zu hören und Hufgetrappel. Ein großer Schatten bäumte sich über ihm auf, er hörte ein Pferd wiehern. Das Tier schlug mit den Hufen nach den Wölfen, es zerschmetterte einem den Schädel. Jemand sprang aus dem Sattel und verjagte die Wölfe mit Schwerthieben. Stumm flohen sie.

Nuh wischte sich Schweiß und Blut aus dem Gesicht. Er richtete sich auf. Arif! »Wie hast du mich gefunden?«, stammelte er.

Arif wies nach oben. »Die Geier.«

»Hast du Wasser?«

Gütig streckte ihm Arif den Schlauch hin.

Nuh löste den Pfropfen und setzte die Öffnung an die Lippen. Kühles Nass rann ihm die Kehle hinab. Er verschluckte sich, hustete. Die aufgesprungenen Lippen zu benetzen, tat gut. Zunge und Gaumen erwachten wieder zum Leben. Er nahm einen weiteren großen Schluck. »Hab dich nicht kommen sehen.«

»Ich war hinter den Hügeln«, sagte Arif. »Junge, sehen deine Füße übel aus.«

»Bin vom Halys bis hierher gelaufen.«

»Vom Halys?« Arifs Stimme bekam einen misstrauischen Klang. »Was wolltest du da?«

Sich mit Arif zu verbünden, war keine gute Wahl. Er galt als feige und stand seit Utmans Tod im Stamm verlassen da. Seine eigenbrötlerische Art machte die Sache von Jahr zu Jahr schlimmer. Jeden Rest von Wohlwollen, auf den er, Nuh, bei Yusuf oder anderen noch hoffen konnte, verspielte er, wenn er sich auf Arifs Seite schlug.

Andererseits war al-Qabih ein großes Unrecht getan worden. Und Arif hatte ihm das Leben gerettet. »Wir haben al-Qabih entführt«, sagt er. »Marwan wollte ihn im Halys ertränken. Weil ich nicht mitgemacht habe, hat er mir die Sandalen weggenommen und mich ohne Pferd zurückgelassen.«

»Wo ist al-Qabih?«

»Ich musste ihn in den Fluss werfen, um ihn zu retten.«

Arif packte ihn an der Kehle. »Was redest du für einen Unsinn!«

»Ich hab ihn zu einem treibenden Ast geworfen, da ist er hingeschwommen. Ich hatte keine Wahl. Marwan wollte, dass ich seinen Kopf gegen einen Felsen schlage.«

»Mörder!«

»Würde ich so aussehen, wenn ich nach Marwans Wünschen gehandelt hätte?« Er wies auf seine Füße.

Arif sah hinab. Er ließ Nuhs Kehle los.

»Vielleicht lebt er. Er könnte ans Ufer geschwommen sein.«

Ohne ein weiteres Wort nahm Arif den Lederschlauch, band ihn am Sattel fest und saß auf.

»Lass mich nicht hier«, flehte Nuh. »Die Wölfe kommen zurück.«

»Du hast nichts anderes verdient.«

»Ich hab doch versucht, ihn zu retten! Glaub mir, es wäre einfacher gewesen, Marwan zu gehorchen. Aber ich habe nicht mitgemacht.«

Arif sah in die Weite. Es kämpfte in ihm, seine Gesichtsmuskeln zuckten. Schließlich beugte er sich hinunter und reichte Nuh den Arm. »Steig auf. Und bete, dass al-Qabih lebt.«

10

Just in dem Moment, als sie den Fellvorhang anheben und die Wohnhöhle betreten wollte, hörte Savina von drinnen gedämpfte Männerstimmen. So raunte man nur, wenn man Heimliches beredete. Sie ließ die Hand sinken und lauschte.

»… die Araber ihre Belagerung aufgegeben haben und weitergezogen sind.«

Das war Jon, der da sprach. Sie runzelte die Stirn.

»Und dann?«, fragte Vater. »Soll meine Tochter etwa deine Handelszüge mitmachen, immer in der Gefahr, dass ihr überfallen werdet? Das kann ich nicht gutheißen.«

»Wir würden in Konstantinopel wohnen. Mit dem Geld, das ich angespart habe, kaufe ich Nüsse und Gewürze aus dem Umland und verkaufe sie in der Stadt. Savina wird ein Leben in Ruhe und Wohlstand führen.«

»Mein Kleine in Konstantinopel. Ja, das würde mir gefallen. Korama ist auf Dauer nichts für sie, selbst wenn die Araber abziehen und wir nächsten oder übernächsten Monat die Höhlen verlassen können und wieder oberirdisch wohnen. Willst du die Reise vor dem Winter beginnen oder erst im nächsten Frühjahr?«

Savina konnte nicht glauben, was sie da hörte. Sie stieß den Fellvorhang beiseite. »Seid ihr noch bei Trost? Ihr redet über mich, als könnte man mich verhökern wie einen Sack Weizen!«

»Du hast gelauscht.« Vater schüttelte missbilligend den Kopf. »Haben wir dir denn gar nichts beigebracht?«

»O doch, ihr habt mir beigebracht, dass man niemanden hintergeht.«

Jonathan trat auf sie zu. »Savina, ärgere dich nicht. Ich wollte zuerst mit deinem Vater sprechen, ohne seine Erlaubnis hätte es doch keinen Sinn gehabt.«

»Ach so? Aber ohne mein Einverständnis hat es Sinn, ja?«

Verletzung sprach aus seinem Gesicht. Er sagte: »Seit ich in Korama bin, seit ich dir zum ersten Mal begegnet bin, trage ich diesen Wunsch in mir. Wir haben so gute Monate zusammen verbracht. Ich möchte, dass es immer noch mehr werden. Ich will dich heiraten, Savina.«

Sie ballte die Fäuste. »Und was ist mit mir? Ich habe keine Lust zu heiraten.«

Vater seufzte. »Was sollen wir denn machen? Dich einsperren? Die jungen Männer in Korama … Ich sehe doch, wie sie dir nachschauen. Es wird Zeit, dass wir dir einen Ehemann suchen.«

»Willst du mich nicht?«, fragte Jon leise.

Ihn so gedemütigt zu sehen, schnürte ihr das Herz ein. »Du hast immer gesagt, du bist für deinen alten Fuhrknecht hiergeblieben, weil du ihn gesund pflegen wolltest.«

»Das stimmte ja auch, anfangs.«

»Und dann konntest du nicht mehr weg, weil die Araber kamen.«

Er nickte.

»Also bist du nicht wegen mir hiergeblieben.«

»Wir sind Freunde, oder nicht?«, fragte Jon.

»Natürlich.«

»Du bist jung. Aber du wirst reifer werden und lernen, was Liebe ist.« Er sah sie eindringlich an. »Heirate mich. Ich zeige dir Konstantinopel. Ich mache dich zu einer glücklichen Frau.«

Haroun führte die Gepardin durch das Lager. Wütend kläfften die Hunde sie an. Vermutlich erinnerten sie sich an den ersten Tag: Vor einem Jahr, kaum dass der Tierfänger sie abgeliefert und das Lager verlassen hatte, hatte sie sich losgerissen und zwei Hunde mit ihren scharfen Zähnen aufgeschlitzt.

Sie war gezähmt, der Tierfänger hatte ganze drei Monate darauf verwendet, sie an die Gegenwart von Menschen zu gewöhnen. Ihr Jagdinstinkt allerdings war intakt. Nicht immer tötete sie die vom Jäger gewünschten Tiere, mitunter fiel die Raubkatze in eine Gruppe wilder Ziegen ein, anstatt den Gazellen nachzustürmen, oder sie folgte den Hakenschlägen eines Kaninchens.

Die Gepardin tat, als hörte sie das Bellen nicht. Geschmeidig setzte sie ein Bein vor das andere, sie wusste, es ging zur Jagd, wie von selbst schlug sie den Weg zur Pferdekoppel ein.

Haroun sah aus dem Augenwinkel die neidischen Blicke der Männer. Auch er tat so, als bemerke er die Blicke nicht, ruhig führte er die Gepardin an der Kette, nur ab und an wandte er sich einem älteren Krieger zu und grüßte. Er wusste, dass seine Sippe an Autorität eingebüßt hatte, die meisten rechneten damit, dass in ein paar Jahren nicht Arif, sondern der Spross einer anderen Familie die Führung übernahm. Noch waren sie ihm, Haroun, treu ergeben, aber es wurde Zeit, dass er dem Stamm wieder einen Erfolg verschaffte.

Die Christen dieser Region hatten sich bisher vor jedem Raubzug in Sicherheit gebracht, sie mussten reich sein. Wenn es gelang, sie ausfindig zu machen und ihr Versteck zu plündern, würde das seinem Namen neuen Ruhm verleihen. Kämpfte außerdem Arif in der Schlacht an seiner Seite und zeichnete sich durch Tapferkeit aus, sah die Zukunft der Familie um einiges vielversprechender aus.

Wie konnte der Junge es nur schaffen, endlich seine Furcht zu besiegen? Er war klug, klüger als Utman, vielleicht sogar klüger als er, Haroun. Aber nicht immer war Klugheit von Vorteil, vor allem dann nicht, wenn man in die Schlacht ritt. Anstatt sich in gerechten Zorn zu versetzen, dachte Arif über die Gefahren nach oder empfand gar Mitleid mit den Feinden. Auch an seinem armseligen Bruder hing er zu sehr. Irgendwann musste ihm klar werden, dass die Zukunft der Asads allein von ihm, Arif, abhing.

Haroun sattelte den Braunen. Der Jagdsattel besaß eine spezielle Vorrichtung für die Gepardin, eine Plattform hinter dem Sitz. Er klopfte auffordernd darauf. Die Gepardin sprang hinauf und kauerte sich nieder, wie sie es gelernt hatte. Haroun stieg auf.

Noch war sie jung, wenn sie sich nicht verletzte, würde sie ihm etliche Jahre erhalten bleiben. Die Kunst beim Abrichten der Geparden bestand darin, sie nicht zu früh zu fangen – Geparden lernten die Jagd von ihrer Mutter, kein Mensch konnte ihnen das beibringen. Insofern war die Gepardin ein Glücksfall. Sie jagte ausgezeichnet, war aber gerade erst ausgewachsen.

Er zog ihr die schwarze Haube über den Kopf und ritt los. Für gewöhnlich nahm er auf die Jagd einige junge Krieger mit, um sie auszuzeichnen. Jeder von ihnen war wild darauf, die Gepardin jagen zu sehen. Heute aber zog er es vor, allein zu sein.

Nach einem längeren Ritt war sein Kopf endlich frei von den schwermütigen Gedanken. Er atmete tief die würzige Steppenluft ein. Obwohl es gestern geregnet hatte, schmeckte er den Staub der Ebene, die Pfützen waren bereits vertrocknet. Haroun kniff die Augen zusammen und spähte aus.

In der Ferne sah er eine Herde Gazellen grasen. Sie war noch zu weit weg für die Raubkatze, Geparden waren die schnellsten Läufer der Welt, aber nicht besonders ausdauernd. Er musste sie näher heranbringen.

Er ritt einen Bogen, um gegen den Wind gewandt zu sein. Längst witterte die Gepardin die Beute. Sie hatte sich aufgerichtet und wendete sich, obwohl sie durch die Haube blind war, in die Richtung der Beute. Das Schwanken des Pferdeleibs glich sie mühelos durch kleine Gewichtsverlagerungen ihres Körpers aus.

Das musste genügen, schon hoben die ersten Gazellen aufmerksam die Köpfe. Haroun löste die Kette vom Halsband der Gepardin. Er presste die Fersen in die Seiten des Braunen und ließ ihn angaloppieren. Als er einen gestreckten Galopp erreicht hatte, riss Haroun die Haube vom Kopf der Gepardin. Einen kurzen Moment brauchte sie, um ihre Augen an die Helligkeit zu gewöhnen und ein Tier der Herde auszuwählen. Dann flog sie in einem lang gestreckten Sprung vom galoppierenden Wallach auf den Steppenboden. Ihr biegsamer Körper dehnte sich, schnellte zusammen, dehnte sich wieder, während sie voranjagte, auf die entsetzten Gazellen zu.

Die Herde stob auseinander. In panischer Angst sprangen die Gazellen davon. Die Gepardin aber flog wie ein gelber Pfeil über das dürre Gras der Steppe. Kaum berührten ihre Pfoten den Boden, so schien es. Sie jagte näher und näher an eines der Tiere heran, erreichte es, schlug mitten im Lauf mit der Pfote nach seinen Beinen und brachte es zu Fall. Die Gazelle überschlug sich, wollte sich aufrappeln. Da war die Gepardin schon über ihr und packte sie an der Kehle. Sie hielt den zuckenden Leib der Gazelle fest, bis er erstickt war.

Haroun ritt heran. Vor seinem inneren Auge wiederholte sich die Aufholjagd. Diese Geschmeidigkeit! Die schlanken Hüften der Raubkatze, ihre dünnen Beine, die Eleganz, mit der sie die Gazelle verfolgt und gefällt hatte!

Die Gepardin stand neben der Beute. Ihr Brustkorb pumpte Atemluft, die Raubkatze war zu erschöpft, um zu fressen. Sie verteidigte ihre Beute nicht, als Haroun vom Pferd stieg und sich über die Gazelle beugte. Er zückte das Messer und schlitzte das tote Tier auf. Die dampfenden Eingeweide warf er der Gepardin hin. Er häutete die Gazelle, schnitt Streifen von Fleisch aus dem warmen Leib und wickelte sie in ihre Haut. Mit Lederschnüren band er Päckchen daraus.

Seltsam, die Gepardin fraß nichts. Sie stand mit hoch aufgerecktem Kopf da, und obwohl ihr Atem sich allmählich beruhigte, richtete sie ihre bernsteinfarbenen Augen nicht auf das Fleisch, sondern blickte aufmerksam in nördliche Richtung und witterte.

»Was ist? Was siehst du dort?«, fragte er.

Er verschnürte das Fleischpaket am Sattel. Immer noch starrte sie auf einen unsichtbaren Punkt.

»Geh«, sagte er, »such!«

Da setzte sich ihr gefleckter Körper in Bewegung. Sie streifte im Laufen flüchtig mit der Nase die Gräser am Boden, als verfolge sie eine Spur. Schon nach einigen Pferdelängen blieb sie stehen und leckte etwas von den Steinen. Haroun stutzte. War das Blut?

Er saß ab. Keine Knochen, kein Tierkadaver waren zu sehen. Und dennoch frisches Blut. Wie ging das an? Er suchte den Boden nach Spuren ab. Als er menschliche Fußabdrücke fand, erschauderte er. Die Gepardin leckte Menschenblut. Hier war jemand gelaufen, jeder Schritt hatte den Boden mit Blut benetzt. Er war getaumelt, gefallen. Da waren Wolfsfährten. Und dort, waren das nicht die Abdrücke von Pferdehufen? Ein Reiter war gekommen und hatte den Ermatteten mit sich genommen. Wenn seine Späher einen Christen gefangen hatten, der aus den Bergen zu fliehen versucht hatte, womöglich gar einen Boten, dann mochte das die Wende bringen.

Unerklärlich war ihm nur, dass der Reiter allein gewesen war. Keiner seiner Spähtrupps bestand aus nur einem Mann.

»Hier war es«, sagte Nuh. »Hier hat Marwan verlangt, dass ich deinen Bruder in den Fluss werfe.«

Arif stieg vom Pferd und lief zum Ufer.

Er vertraut mir, dachte Nuh. Ich könnte mir die Zügel greifen und einfach davonreiten. Aber er weiß, dass ich das nicht tun werde.

Arif kam zurück und saß auf. Er lenkte die Stute am Ufer entlang. »Die Strömung ist unnachgiebig«, sagte er. »Und es gibt Wasserwirbel. Lange hat das al-Qabih sicher nicht ausgehalten.«

»Er hat sich an einen Ast geklammert.«

Je länger sie ritten, desto stärker wurde das flaue Gefühl in seinem Magen. Er ist tot, dachte Nuh. Auch wenn ich es nicht wollte, ich habe ihn umgebracht. Wir werden nicht einmal seine Leiche finden, der Halys mündet ins Schwarze Meer, er gibt nicht wieder her, was er einmal an sich gerissen hat.

Arif zügelte die Stute. Sein Körper versteifte sich. »Hörst du das?«, fragte er.

Nuh hörte nichts.

»Da weint jemand.« Er ließ die Stute antraben.

Bald hörte auch Nuh das Wimmern. »Die Insel«, rief er. Auf einer kleinen Insel im Fluss, die von ein paar Wacholderbüschen bewachsen war, kauerte al-Qabih. Er hatte die Arme um seine Beine geschlungen und die Stirn auf die Knie gelegt, zitterte und weinte.

»Al-Qabih«, rief Arif, »Allah sei Dank, du bist am Leben!«

Der Junge hob den Kopf. Sein Gesicht war tränenüberströmt, verwirrt sah er zum Ufer und blinzelte.

Zwischen ihnen befanden sich vier Klafter reißender Strömung. Arif saß ab und ging am Ufer entlang, weg von der Insel. »Was machst du?«, fragte Nuh. Die Stute neigte den Kopf und trank. Nuh nahm die Zügel auf.

Wortlos zog sich Arif die Sandalen aus. Er sprang in den Fluss und schwamm los. Die Strömung trieb Arif genau zur Insel, er war flussaufwärts an der richtigen Stelle ins Wasser gegangen. Mit kräftigen Schwimmzügen brachte er die vier Klafter hinter sich und stieg an Land. Die nasse Kleidung hing ihm am Leib wie eine zweite, zu groß geratene Haut.

Die Brüder umarmten sich. Al-Qabih wollte gar nicht mehr loslassen. Als Arif den Jüngeren zum Ufer zog, schüttelte der den Kopf und flehte: »Nicht Wasser!«

»Willst du hier bleiben?«

»Nicht Wasser!«

»Ich habe kein Boot, al-Qabih, und auch kein Fass, in dem ich dich rüberfahren kann. Wir müssen schwimmen. Komm, du hast es schon einmal geschafft, und ich bin bei dir.«

»Wasser in Mund.«

»Diesmal schluckst du kein Wasser, ich versprech’s. Du darfst dich an meinen Schultern festhalten.«

Unter gutem Zureden brachte Arif den Bruder dazu, mit ihm ins Wasser zu steigen. Gemeinsam schwammen sie auf das Flussufer zu und wurden von der Strömung flussabwärts getrieben. Nuh ritt die Stute am Wasser entlang, und als er sah, wo die Brüder an Land kommen würden, stieg er ab.

Der Schmerz stach aus der Fußsohle bis ins Bein hinauf. Nuh ließ sich ächzend auf die Knie fallen. Während die Wunde am Fuß in Wellen weitere Pein aussandte, kroch er auf allen vieren zum Ufer hin. Er biss den Schmerz hinunter und half al-Qabih an Land.

»Nuh böse«, sagte al-Qabih, kaum, dass er auf trockenem Boden stand. »Nuh mich ins Wasser worfen!«

»Aber da war ein Ast, ich habe dir geholfen!«

»Nuh und Marwan.« Er funkelte Nuh zornig an und verschränkte die Arme.

»Ich weiß«, sagte Arif und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nuh hat mir alles erzählt. Ich passe jetzt auf dich auf. Dir wird keiner mehr etwas antun.«

»Böse«, sagte al-Qabih noch einmal und zeigte auf Nuh.

Arif seufzte. »Ich glaube, du musst dich entschuldigen.« Er sah seinen Bruder an. »Verzeihst du ihm, wenn er sich entschuldigt?«

Al-Qabih runzelte die Stirn. Schließlich nickte er.

Immer noch auf Knien, hielt ihm Nuh erneut die Hand hin. »Es tut mir von Herzen leid. Ich hätte nicht mitmachen sollen, als wir dich eingefangen haben, und ich wollte nicht, dass du Angst um dein Leben haben musst.«

Al-Qabih nahm die Hand. Er lächelte und richtete sich etwas höher auf. »Nuh wieder lieb.«

»Ja, ich bin wieder lieb.«

Der Ritt zurück zum Zeltlager beschämte ihn. Weil er keine Sandalen hatte, saß er im Sattel, während Arif und al-Qabih zu Fuß gingen, Stunde um Stunde. Die Sonne versank glutrot hinter den Bergen, und sie redeten vor lauter Hunger von nichts anderem als von Weizengrieß, Auberginen und weißen Bohnen mit Dörrfleisch. Sie schwärmten von Wurst aus Hammelfleisch, von Wassermelonen, Mangos und Zitrusfrüchten. Um Mitternacht rasteten sie in einem verlassenen Dorf der Christen. Dort ließ Arif ihn Schweigen geloben.

Haroun blickte auf. Ein Neuankömmling, um den sich rasch eine Traube von jungen Männern bildete – das konnte bedeuten, dass er Nachricht von den Ungläubigen brachte. Haroun trank den Becher Kamelmilch leer, setzte ihn vor dem Zelt auf den Boden und erhob sich. Gemessenen Schrittes ging er zur Menschenansammlung. Man machte ihm Platz.

Der Jüngling, um den sich die anderen geschart hatten, war schwarzhäutig, er gehörte zu den Zakariyyas. Sein Name war Haroun allerdings entfallen. »Wie heißt du?«, fragte er ihn.

»Ich bin Nuh.«

»Wo kommst du her, Nuh?«

»Vom Ufer des Halys.« Er kniff vor Schmerzen die Lippen zusammen.

Haroun fuhr zusammen. Die Füße! Sie waren blutig. Dieser Bursche hatte die Blutspur hinterlassen. »Wo sind deine Sandalen?«

»Die hab ich verloren, sie sind mir ins Wasser gefallen.«

»Wer hat dich begleitet?«

»Ich war allein unterwegs.«

Der Junge log. Daran gab es keinen Zweifel. Sollte er ihn verprügeln, ihm die Wahrheit aus den Kiefern pressen? Möglich, dass die Lüge nur das übliche Kräftemessen der Jünglinge vertuschte. Genauso gut aber mochte etwas Größeres dahinterstecken, das man vor ihm zu verheimlichen suchte.

Nicht immer war eine harte Strafe der richtige Weg. Das hatte er im Laufe der Jahre gelernt. Einmal, in Indien, hatte ein Angehöriger des Stammes nach der Schlacht wertvolle Beutestücke in seinem Zelt versteckt. Ein anderer, der es zufällig beobachtet hatte, berichtete ihm davon. Haroun hätte den Betrüger entehren und ihm die Hand abhauen lassen können. Aber er besuchte ihn, allein und ohne Aufsehen, und hielt ihm die Würdelosigkeit seiner Tat vor Augen. Der Mann hatte sich fürchterlich geschämt, er hatte die gesamte Beute herausgegeben und war zu einem seiner treusten Nachfolger geworden. Leider hatte ihm letztes Jahr ein Ungläubiger mit dem Speer das Herz durchbohrt.

Welche Art von Mensch war dieser Nuh? Brauchte er Härte oder eine Gelegenheit, seinen Fehler zu berichtigen? Er hatte da draußen den Tod vor Augen gehabt. Ein Schmerz konnte ihn jetzt nicht mehr erschrecken. Irgendwen schützte er mit seiner Lüge, nicht aus Feigheit, sondern aus ehrenhaften Gründen.

Haroun entschloss sich zur Güte. »Wenn du mit den Lügen fertig bist«, sagte er, »komm zu mir und wir reden von Mann zu Mann.«

11

Nach der langen Strecke, die Layla nur im Schritt gegangen war, brauchte Arif sie nicht anzutreiben – die Stute trabte forsch in die Ebene hinaus, obwohl zusätzlich al-Qabih vor ihm im Sattel saß.

»Mama«, sagte al-Qabih.

»Im Lager ist es nicht mehr sicher für dich.«

Trotzig wiederholte al-Qabih: »Mama!«

»Du wirst etwas zu essen bekommen. Aber ich muss dich erst einmal in Sicherheit bringen, bis mir einfällt, wie ich Marwan das Handwerk legen kann.«

»Marwan böse.«

»Genau.«

»Wasser schmeißt.«

»Ach? Ich dachte, Nuh hat dich reingeworfen?«

»Nuh schmeißt, Marwan gehaut.«

»Er hat dich geschlagen?«

»Am Kopf.«

»Dieser Sohn des Iblis!«

»Allah Allah Allah.«

»Was redest du da?«

»Ich gebetet.«

»Überlass das Beten lieber mir.«

Er ritt einen weiten Bogen, um auf felsigen Grund zu gelangen, wo er keine Spuren hinterließ. Dann wandte er sich den Bergen zu. Vater würde unangenehme Fragen stellen, wenn er heimkehrte, so viel stand fest.

Bei Einbruch der Dunkelheit ließ er Layla an einer knorrigen Ölweide halten und saß ab. »Hier bleiben wir über Nacht«, sagte er. Nachdem er al-Qabih aus dem Sattel gehoben hatte, befreite er die Stute von Zaumzeug, Sattel und Decke. Er ließ sie grasen.

»Mama«, protestierte al-Qabih. »Hunger!«

»Ich hab auch Hunger. Aber wir haben nichts zu essen. Trink einen Schluck.« Er reichte al-Qabih den Wasserschlauch. Nachdem der Bruder einen langen Zug davon genommen hatte, nahm er ihm den Schlauch wieder weg.

»Mehr«, sagte al-Qabih.

Arif schüttelte den Kopf. »Das Wasser muss noch eine Weile reichen. Hier sind alle Quellen vergiftet.«

»Mama.«

Mit der Pferdedecke als Kopfstütze legte sich Arif unter dem Baum ins Gras. Die Decke stank und der Boden war hart.

»Mama!«, quengelte al-Qabih.

»Leg dich hin.«

»Will essen.«

»Ich habe gesagt, leg dich hin.«

»Mama Brot.«

Er fuhr in die Höhe und packte al-Qabih bei den Schultern. »Willst du unbedingt sterben? Die wollen im Lager nichts mit einem Krüppel zu tun haben, versteh das doch!«

Al-Qabih riss die Augen auf.

»Ich rette dir das Leben«, sagte Arif.

Der Bruder sagte leise: »Ich nicht Krüppel.«

Nuh hob eine weitere Walnuss auf. Die Haut seiner Finger war bereits stumpf von den Schalen. Er umschloss die Nuss mit den Handballen und drückte zu, bis die Schale knackte. Mit den Daumen brach er sie auseinander und las den Kern heraus. Ein Teil davon war zerquetscht und für ihn verloren. Immerhin war der Kern nicht verfault gewesen wie bei der letzten Nuss, die ihn enttäuscht hatte.

Der Wind fuhr durch die Blätter im Walnussbaum über ihm und ließ sie rauschen. Zwei weitere Nüsse fielen zu Boden, sie blieben nach einem kurzen Hüpfer liegen. Zum Glück war Marwan heute im Morgengrauen mit einem Spähtrupp fortgeritten. Es war schlimm genug gewesen, mit ihm in einem Zelt zu schlafen. Obwohl sie seit Kindheitstagen im selben Zelt übernachteten, hatte er sich letzte Nacht von jedem Räuspern oder Schnaufen Marwans angegriffen gefühlt.

Als Nuh beim Zubettgehen ansetzte, etwas zu sagen, fuhr Marwan ihn an, gefälligst den Mund zu halten. Die harsche Aufforderung hing in der Luft, auch noch Stunden später, als er verzweifelt versuchte einzuschlafen, es aber wegen seines wild pochenden Herzens nicht konnte.

Mutter hatte ihm am Morgen die Füße gewaschen und verbunden, die Wunde pochte, das bedeutete, dass sie verheilte. Aber er zweifelte daran, dass er je wieder froh werden würde.

Er knackte eine weitere Nuss und sah ins Innere. Der Kern war mit Schimmel überzogen. Wütend warf er die Nuss weg.

Bald würden alle wissen, dass er nicht mehr unter Marwans Schutz stand. Dann setzte sich der Albtraum seiner Kindertage fort, sie würden ihn verspotten und quälen und seine Ehre in den Schmutz ziehen. Was sollte er tun? Ließ er es über sich ergehen und ordnete sich unter wie früher? Oder wehrte er sich? Aber wer würde sich schon auf seine Seite schlagen! Jeder fürchtete doch, dass Marwans Zorn und die Verachtung der jungen Männer auch auf ihn abfärbten, wenn er sich mit Nuh abgab.

Nur Arif musste sich da keine Sorgen machen. Ihn verachteten sie sowieso. Er ist meine einzige Wahl, dachte Nuh. Ich muss Arifs Vertrauen gewinnen.

Die Demütigung, die er durch Marwan erlitten hatte, saß wie ein giftiger Stachel in seiner Brust. Er schluckte die letzten Nusskernreste hinunter und humpelte zurück zu den Zelten. Ein unbändiges Verlangen packte ihn, Marwan zu schaden. Niemand tat das, niemand rächte sich an ihm für seine boshafte Willkür. Es wurde Zeit, dass er einmal eine Strafe erhielt.

Nuh schlüpfte ins Zelt. Es war leer. Er ging zu Marwans Schlafplatz und zückte sein Messer. Noch einmal sah er sich prüfend um. Dann schlitzte er über der Stelle, an der Marwan seinen Kopf bettete, die Zeltplane auf. Die fingerlange Ritze bereitete ihm Genugtuung. Es ging auf den Winter zu, in dieser Zeit regnete es oft.

Am liebsten hätte er auch noch Marwans Decken zerfetzt, ach, gleich das ganze Zelt zum Einstürzen gebracht. Der Riss in der Plane befriedigte seine Zerstörungswut nicht, er stachelte sie nur weiter an.

Von draußen drangen Stimmen herein. Jemand war am Zelteingang. Rasch steckte er das Messer weg.

Marwan betrat das Zelt. »Was hast du an meinem Schlafplatz zu suchen?« Mit drei Schritten war er bei ihm und stieß ihn zur Seite. Er wühlte in den Decken, sah sich wachsam um.

Nuh zwang sich, nicht nach oben zu schauen, um Marwan keinen Hinweis zu geben.

»Wolltest du mir Hagebuttenpulver in die Decken streuen, damit es mich die ganze Nacht juckt? Hast du immer noch nicht genug?« Marwan ließ die Decken fallen und stürzte sich auf Nuh. Er warf ihn um, landete mit vollem Gewicht auf Nuhs Brustkorb, sodass alle Luft daraus entwich, und schlug Nuh die Faust ins Gesicht.

Der Schmerz brannte, aber mit dem Elend verspürte Nuh Schadenfreude. Marwan würde beim nächsten nächtlichen Regenguss eine ärgerliche Nacht verbringen. Oder es regnete tagsüber, und wenn er sich schlafen legen wollte, waren seine Decken nass.