1947 – Zwei Jahre alt und neugierig aufs Leben

1964 – Die erste Schulband mit einfachsten Verstärkern

1967 – Während meiner Zeit an der Neuen Münchner Schauspielschule, nach dem Desaster an der Otto-Falckenberg-Schule

1958 – Angelika als »Puppe« bei einer Aufführung der Ballettschule

1967 – Angelika im Ballettsaal der Hamburgischen Staatsoper

1970 – Am Schauspielhaus Zürich, als Ferdinand in Goethes Egmont, neben Ullrich Haupt, der die Hauptrolle spielte

1971 – Mit Bart im »geflüsterten« Faust in Münster

1974 – Hamlet in Dortmund

1976 – Als Edgar Wibeau in Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf in Solothurn

1974 – Angelika als Aschenputtel und ich als Prinz, ein Weihnachtsmärchen in Dortmund

1975 – Grachtenfahrt in Amsterdam, wo wir unsere Eheringe und ein Hochzeitskleid kauften

1975 – Hochzeit im Standesamt Jever

1983 – Das fröhliche Landleben am Chiemsee

1992 – Besuch vom Chief der Chumash, Semu Huahute

1995 – Dr. Specht wird fünfzig, mit großer Schnapsklappe

1996 – Unser erstes eigenes Haus

1979 – Mit Ingmar Bergman und Martin Benrath in einer Drehpause von Aus dem Leben der Marionetten

1983 – Mit Judy Winter in Australien für Das schöne Ende dieser Welt

1987 – Beginn der Dreharbeiten von Oh Gott, Herr Pfarrer mit Stella Adorf und Maren Kroymann

1988 – Mein Vater überreicht mir die Goldene Kamera

Nach der Verleihung mit Angelika und meinen Eltern

1995 – Dr. Specht in einer Drehpause

1997 – Der Kapitän mit Jophi Ries, der in allen Folgen ein wunderbarer Partner war

1997 – Der Kapitän mit Angelika in der Folge »Die letzte Fahrt der M.S. Cartagena«

2004 – Mit meinem Sohn Jens im Fernsehfilm Das Kommando

2005 – Das Tatort-Team mit Julia Schmidt und Tilo Prückner

2020 – So sehen wir heute aus

Inhalt

Einiges vorweg

Alles auf Anfang

Drum Fever

Mit diesem Schauspieler kann ich nicht arbeiten

Ich war begeistert, vor allem von mir selbst

Ein Altmeister wie Dürrenmatt sagt nicht viel

Faust, diesmal geflüstert

Eine ganz andere Frau

Auf zu neuen Ufern

Ohne dich macht mir das keinen Spaß

Das große Aufräumen

New York, New York

Tänzerin oder Krankenschwesterin?
(von Angelika Atzorn)

Mein Freund, der Herr Pfarrer

Das machen wir mit links

Ein Berliner in der Schweiz

Das mache ich auf keinen Fall

Wie überlebt man zwei Lachwurzen?

Ein schwedisches Genie namens Bergman

Ein einzigartiger Kollege

Australian Sandworm

Was fressen eigentlich Küken?

Eine versöhnliche Geste

Geh nur. Aber ohne mich!
(von Angelika Atzorn)

Es geht hier um euer Leben

Geburtstage bleiben schwierig, gerade in Glyndebourne

Besuch von einem anderen Stern

Haste mal ’n Zehner oder Spechts Ehering

Mein Leben im Off
(von Angelika Atzorn)

Ein zweites Standbein

Einmal Hamburg und schnell wieder zurück

Aye, aye, Käpt’n! Tolle Frisur!

Ein krimineller Ritterschlag

Es ist grandios, mit einem Schauspieler zu leben
(von Angelika Atzorn)

Ein würdevolles Verhalten

Jedem Ende wohnt ein Zauber inne

Dank

Impressum

Robert Atzorn

Duschen und Zähneputzen – Was im Leben wirklich zählt

eISBN: 978-3-95910-277-3

Eden Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © 2020 Edel Germany GmbH, Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edenbooks.de | www.edel.com

1. Auflage 2020

Einige der Personen im Text sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes anonymisiert.

Projektkoordination: Nina Schumacher

Lektorat: Gerti Köhn

Covergestaltung: Buchgut, Berlin

Fotocredits Bildteil: Privatarchiv Robert und Angelika Atzorn, außer »1967 Neue Münchner Schauspielschule«: Hans Grimm; »1967 Angelika im Ballettsaal«: Ben Walraven; »1970 Am Schauspielhaus Zürich«: Leonard Zubler; »1974 Hamlet«: Johannes Glöckner; »1976 Als Edgar Wibeau«: Hannes Flurig; »1987 Beginn der Dreharbeiten von Oh Gott, Herr Pfarrer«: Peter W. Engelmeier; »1995 Dr. Specht«: Ulrike Beelitz; »1997 Der Kapitän mit Jophi Ries«, »2005 Das Tatort-Team«: Peter Bischoff; »2004 Mit meinem Sohn Jens«: picture-alliance / dpa/dpaweb | Uli Deck; »2020 So sehen wir heute aus«: Janine Guldener

Covermotiv: Janine Guldener

E-Book-Konvertierung: Datagrafix GSP GmbH, Berlin | www.datagrafix.com

Im Rahmen der Erstellung des vorliegenden E-Books waren wir bemüht, sämtliche Rechte an den Abbildungen zu klären. Dies ist uns nicht bei allen gelungen. Sollten Sie Rechte an einzelnen Abbildungen innehaben, setzen Sie sich gern mit uns in Verbindung und wir lizenzieren diese nach.

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.


Einiges vorweg

Warum ich aus meinem Leben erzähle? Gute Frage!

Es gibt jede Menge Vorstellungen über das Leben eines Schauspielers. Der Beruf regt die Fantasie der Menschen an, und die Medien tun ihr Bestes, um das vermeintlich glamouröse Schauspielerdasein in den buntesten Farben darzustellen: Ein Leben ohne Sorgen und Probleme. So viel Geld, dass man es in einem Leben gar nicht ausgeben kann. Ein gesellschaftliches Event jagt das nächste. Rote Teppiche, wohin man tritt. Champagner und die tollsten Frauen/Männer …

Bei mir sah das allerdings ganz anders aus. Völlig anders. Und vermutlich nicht nur bei mir. Insofern möchte ich mal ein paar Dinge geraderücken und das Leben eines Schauspielers greifbarer machen.

Die meisten kennen mich als Lehrer Dr. Specht. Als diese Serie ausgestrahlt wurde, war ich bereits Mitte vierzig. Man kann bei mir also nicht gerade von einem Shootingstar sprechen. Was war eigentlich vorher? Wie kam ich überhaupt dahin?

Ich möchte meinen Lebensweg noch einmal abschreiten. Vielleicht haben Sie Lust mitzugehen?

Das Schreiben dieses Buches war ein äußerst spannendes Unterfangen. Über weite Strecken machte mir das Formulieren und Fabulieren Spaß, aber immer wieder stieß ich an Grenzen und landete in Sackgassen. Ich wollte abbrechen, mehrmals, aber dann fielen mir immer wieder meine Enkelkinder ein und ihre Neugier: »Mensch, Opa, erzähl mal, wie war das damals?«

Jüngere Generationen können sich nicht mehr vorstellen, was es heißt, als Nachkriegskind groß geworden zu sein. Es gab damals einfach nichts. Kein Telefon, keinen Fernseher, keine Waschmaschine, keine Spülmaschine, kein Auto, kein Internet. Ein kleines Radio war der einzige Luxus. Ein riesiger Kontrast zu der Fülle, in der meine Enkelkinder aufwachsen!

Natürlich habe ich nicht alles aufgeschrieben. Geht ja auch gar nicht. Interessiert wahrscheinlich auch niemanden. Einige Teile des großen Puzzles sind jedoch nach wie vor sehr präsent. Ich habe nie Tagebuch geschrieben. Dazu hatte ich keine Lust. Also erzähle ich das, was meine grauen Zellen jetzt noch ausspucken: die unauslöschlichen Eckpunkte, quasi die Wendebojen.

Meine Anfänge als Schauspieler waren alles andere als lustig. Ganz schnell wurde klar, dass keiner auf mich gewartet hatte. Das wunderte mich zunächst. Aber nicht lange, denn so was wie Akzeptanz oder gar Erfolg stellten sich in keinster Weise ein.

Daher quälte mich ständig die Frage aller Fragen: Wie kann ich besser werden? Wie komme ich an ein größeres Theater? Oder wenigstens: Wie werde ich ein so guter Schauspieler, dass ich von diesem Beruf leben kann?

Was braucht es dazu?

Und: Warum zum Teufel klappt es bei mir nicht?

Diese Frage stellte alle anderen in den Schatten, als mein damaliger Lieblingsregisseur Peter Zadek mich gnadenlos abserviert hatte. Ich war fertig. Bedient. Dem Exitus nah.

Es musste dringend was passieren. Aber was?

Wolfgang Reichmann und Martin Benrath, diese unverwechselbaren Lichtgestalten unter den Schauspielern, hatten wertvolle praktische Hinweise, als ich sie um Hilfe bat. Die Essenz ihrer Ratschläge war: Es gibt kein Rezept für den Erfolg als Schauspieler. Jeder muss seinen individuellen, ureigenen Weg finden.

Mein Lieblingstipp stammt von dem Schauspieler und Komiker Theo Lingen. Auf die Frage eines jungen Mannes, was das Wichtigste für einen Schauspieler sei, meinte er lapidar: »Gründlich duschen und Zähne putzen!«

Mit so etwas Banalem hatte der junge Mann sicher nicht gerechnet. Aber letztlich steckt darin eine elementare Erkenntnis: Wenn man auf einer Probe mit den verführerischsten Liebeserklärungen von Shakespeare eine Partnerin bezirzen möchte, dabei nach Schweiß riecht und sie dann umarmen soll – wird sie mitspielen?

Und wie läuft die anschließende Kussszene mit Mundgeruch?

Eben. Das geht überhaupt nicht. Das fand ich dann doch sehr einleuchtend. Deshalb habe ich auch dieses Buch so betitelt.

Was den Erfolg eines Schauspielers wirklich ausmacht, hat der große Regisseur Max Reinhardt in einem Satz zusammengefasst: »Die wichtigste Aufgabe eines Schauspielers ist die Entwicklung seiner Persönlichkeit.«

Super Tipp! Aber was meint er damit, und wie geht das?

Bei mir setzten der wesentliche Entwicklungsprozess und das beste Menschlichkeitstraining in dem Moment ein, als ich meiner heutigen Frau Angelika begegnete.

Sie besaß eine unbeirrbare Liebe nicht nur zu mir, sondern auch zur Wahrhaftigkeit. Nachdem die überbordende Euphorie der ersten Verliebtheit auf ein normales Niveau heruntergekühlt war und der Alltagsstress und das Zusammenleben bewältigt werden mussten, ging die überaus empfindliche Beziehungsarbeit los. Ein Prozess über eine lange Zeit, ehrlich gesagt: bis heute.

Wir bemühten uns, mit Liebe, Respekt, Humor, Geduld und Beharrlichkeit unsere eigenen Defizite zu erkennen und zu bearbeiten. Das war ungewohnt, absolut neu für mich und meistens ziemlich unangenehm. Solche auslotenden Gespräche über innerste Gefühle hatte es in meinem Zuhause nie gegeben.

Wie Sie in fast jedem meiner Kapitel lesen werden, hatte Angelika einen riesigen Anteil an meiner Entwicklung und an meinem Erfolg. Ohne sie wäre ich nie so weit gekommen. Nie! Ich wäre sonst wo gelandet. Deshalb mussten auch unbedingt vier Geschichten von ihr in diesem Buch auftauchen. Gott sei Dank hat sie sich von mir dazu überreden lassen.

Für meine Familie

Alles auf Anfang

Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1945, wurde ich in einer kleinen Stadt in Westpommern geboren. Unsere Familie hatte dort Verwandte, und es schien sicher genug zu sein, um dort ein Kind auf die Welt zu bringen. Drei Tage später wurde das Krankenhaus evakuiert: Die Russen kamen in bedrohliche Nähe.

Da ich gleich nach der Geburt an Diphtherie erkrankte, meinte der Arzt zu meiner Mutter: »Versuchen Sie so schnell wie möglich, in den Westen zu kommen. Lassen Sie das Baby hier, es stirbt sowieso.«

Aber sie ließ mich natürlich nicht zurück. Sie schloss sich einem Treck an und landete in Neumünster in einem Auffanglager. Mein Vater war zu der Zeit als Offizier auf dem Russlandfeldzug und geriet in Gefangenschaft. Ich lernte ihn erst kennen, als ich fünf Jahre alt war.

Von Neumünster ging es nach Oldenburg in Oldenburg in das kleine Reihenhaus meiner Großeltern. In einem der oberen Zimmer stand mein Kinderbettchen. Als ich drei Jahre alt war, wurden dort zwei Flüchtlingsfrauen aus Ostpreußen zwangsuntergebracht und ich landete auf dem Dachboden. Ich erinnere mich, dass ich dort oben schreckliche Angst hatte. Es spukte, es knackte, es war unheimlich. Auch das Zusammenleben mit den Flüchtlingsfrauen gab immer wieder Anlass zu Auseinandersetzungen, weil eine der beiden heimlich im Zimmer rauchte. Besonders schlimm wurden die Streitereien, als das ganze Haus plötzlich mit Wanzen verseucht war. Mein Opa lief Amok. Für ihn war es eindeutig, dass die Damen die Schuldigen waren. Der Kammerjäger räucherte und räucherte. Ich fand den Gestank ätzend – ich glaube, er arbeitete mit Ammoniak –, aber trotzdem war die Aktion für mich ein spannendes Unterfangen: ein Jäger im Haus, dunkel angezogen, ein bisschen gespenstisch mit seiner Giftspritze. Jede Ecke wurde untersucht und eingesprüht. Ich folgte ihm neugierig auf Schritt und Tritt. Wie diese Monster wohl aussahen? Allerdings bekam ich nie eine Wanze zu Gesicht. Vielleicht hatte mein Opa das auch nur erfunden, um die Frauen loszuwerden, denn sie wurden danach umgesiedelt. Ich weiß es nicht. Mein Bett wurde wieder runtergestellt, ich schlief wie ein Murmeltier. Und dann, oh Schreck, war plötzlich auch noch der Holzwurm im Gebälk! Es rieselte und rieselte, aber dafür fand Opa keinen Schuldigen …

Im Ersten Weltkrieg war mein Opa schwer verwundet worden. Nach seiner Genesung hatte er bei der Reichsbahn gearbeitet, und auch im Rentenalter war er noch ein begeisterter Eisenbahner. Am Bahnhof zeigte er mir Züge mit der Aufschrift »DR«. Das bedeutete »Deutsche Reichsbahn«, aber er flunkerte: »Kuck mal, da sind meine Initialen auf jedem Waggon, DR!«

Sein Name war Diedrich Remmers. Ich war so stolz auf meinen Opa, auch weil er alle Bahnstrecken kannte, samt Zwischenstationen und Umsteigemöglichkeiten. Ich fand das phänomenal und wollte unbedingt auch zur Bahn, am liebsten natürlich als Lokomotivführer.

Opa wurde meine Hauptbezugsperson. Er und meine Oma hatten einen Sohn im Babyalter verloren, was vielleicht eine Erklärung dafür ist, warum er sich so um mich kümmerte. Ich war so etwas wie ein Ersatzsohn. Er radelte mit mir aufs Land zu Bauern, um etwas Essbares zu ergattern. Dort bekam ich dicke Brotschnitten mit Speck. Herrlich. Obwohl es sonst meistens nur wenig zu essen gab, oft nur Mahlzeiten mit Steckrüben und Kartoffeln in diversen Variationen, hatte ich nie ein Mangelgefühl. Es war einfach so. Opa ging mit mir spazieren und erklärte mir die Natur.

Als ich vier oder fünf Jahre alt war, meldete er mich im Turnverein an. Das war allerdings überhaupt nicht mein Ding, einmal und nie wieder. Ich konnte mit Barren, Reck und Ringen nichts anfangen. Er selbst muss wohl in seiner Jugend ein großer Turner gewesen sein. Im Garten hatte er eine Reckstange, wo er mir hin und wieder seine 15 Klimmzüge zeigte. Irgendwann schaffte ich immerhin zwei. Opa war glücklicherweise nicht enttäuscht, als meine Turnversuche scheiterten. Wir gingen einfach mehr spazieren, schauten den Anglern an einem Teich zu, kümmerten uns um unseren kleinen Gemüsegarten.

In dieser Zeit kam mein Vater aus der Gefangenschaft zurück. Doch davon erzähle ich an anderer Stelle.

Meine Mutter hatte der Krieg völlig aus der Bahn geworfen. Sie war verstummt. Sie half nicht im Haushalt, machte eigentlich gar nichts. Oma sorgte für alles. Heute würde ich sagen, meine Mutter hatte eine schwere Depression. Sie saß irgendwo im Sessel und wartete. Auf was, wusste ich nicht. Oder sie stand in ihrem grünen Bademantel vor dem Fenster, schaute verloren in den Garten und weinte. Warum, wusste ich auch nicht. Hin und wieder unternahm ich einen Versuch, sie zu trösten, sie anzusprechen oder abzulenken. Ich wollte mit ihr im Garten spielen oder mit ihr spazieren gehen, aber jedes Mal wandte sie sich ab und verwies auf Opa. Keine Umarmung, keine Nähe. Mein Opa fing dieses Defizit mit Wärme auf. Von ihm fühlte ich mich angenommen und geliebt.

Manchmal spielte Mutter Klavier und sang. Sie war Sopranistin und liebte Lieder, vor allem von Franz Schubert oder Hugo Wolf. Früher hatte sie mit diesen Liedern Konzertreisen zur Truppenunterhaltung gemacht. Bei einer dieser Reisen hatte sie meinen Vater kennengelernt. Jetzt spielte sie mir etwas vor. Nach jedem Lied schaute sie mich mit hungrigen, traurigen Augen an. Ich sollte das eben Gehörte schön finden, sie loben. Ich fand diese Lieder aber einfach langweilig bis scheußlich, ich konnte absolut gar nichts damit anfangen. Aber damals rang ich mir irgendein »Hm …, schön« ab. Das beruhigte sie. Und sie lächelte ein bisschen.

Opa war ein Choleriker der reinsten Art und konnte sehr rüde mit meiner Mutter und meiner Oma umgehen. Vielleicht weinte sie auch deshalb. Immer wenn etwas nicht so lief, wie er es wollte, knallten sämtliche Türen, dass man es bis auf die Straße hörte. Er schrie und legte sich dann zwei Tage lang ins Bett. Zwei Tage! Nicht ansprechbar. Stur. Man durfte ihm nichts zu essen bringen. Keiner durfte ihn stören. Keiner durfte in sein Zimmer. Selbst ich nicht. Alle schlichen auf Zehenspitzen durchs Haus. Oma musste auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Auch ich traute mich nicht zu ihm. Eiszeit. Am dritten Tag stand er morgens wieder auf wie immer und tat, als wäre nichts gewesen. Alle waren erleichtert, aber gesprochen wurde nie darüber, jedenfalls nicht in meiner Gegenwart. Gott sei Dank war ich nie die Ursache für seine Ausbrüche.

Ein großes Glück in meiner Kindheit war ein Kino, das ganz in unserer Nähe lag. Nachdem ich sechs Jahre alt geworden war, besuchte ich so viele Vorstellungen, wie ich konnte. Wenn das Taschengeld nicht reichte, nahm ich den Rest heimlich aus Opas Geldbörse. Ob er es je bemerkt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich im Tarzan-Film die erste nackte Frau meines Lebens gesehen habe. Meine Güte, war das aufregend! Eigentlich war der Film erst ab zwölf, aber irgendwie hatte ich mich, angestachelt durch ältere Jungen, reingeschummelt. Nacktheit war ein absolutes Tabu in meiner Familie, und da schwamm Jane völlig nackt von links nach rechts über die Leinwand. Diesen Film habe ich mehrmals angeschaut, weil er mich ziemlich neugierig auf das weibliche Geschlecht machte. Das musste ich genauer wissen!

Ich war zehn Jahre alt, als wir nach Hamburg zogen. Eine neue Volksschule für zwei Monate, daneben die Prüfung fürs Gymnasium. Alles klappte so leidlich. Aber ich vermisste meinen Großvater. Mit wem sollte ich reden, meine Probleme besprechen? Mein Vater war sehr streng, autoritär. Er redete tagelang nicht mit mir, wenn ich etwas »falsch« gemacht hatte. Entsprechendes kannte ich ja schon von meinem Opa … Aha, so lösen Männer also Probleme? Mit Schweigen?!

Meine Mutter taute in Hamburg zwar langsam aus ihrer Ohnmacht auf, aber ich hatte immer das Gefühl, ich müsste sie unterstützen. Ich war traurig. Allein. Ohne meinen Großvater schien mir das Leben nicht lebenswert. Als ich 15 oder 16 Jahre alt war, starb er, jetzt konnte ich nicht einmal mehr die Ferien in seiner Nähe verbringen.

Meinem Vater täuschte ich vor, dass ich sehr interessiert an neuen gymnasialen Lernbereichen sei. Ich dachte, dann würde er mich sicher mögen. Er sollte auf keinen Fall merken, wie langweilig ich die Schule fand. Hat er auch nicht. Aber es war demzufolge kein Wunder, dass ich zweimal sitzen blieb. Schule war eine Tortur für mich, es war grauenvoll, lediglich die letzten drei Jahre auf dem musischen Zweig mit Zeichnen und Malen als Hauptfach waren einigermaßen erträglich. Aus Angst, etwas Falsches zu sagen und ausgelacht zu werden, beteiligte ich mich nie am Unterricht. Ganz schlimm war es, wenn ich aufgerufen wurde und an die Tafel musste. Wie der Gang zur Guillotine. »Robert, dann zeig du uns doch mal, wie das geht!«

Ich wusste es nicht. Ich hatte meine Hausaufgaben nicht gemacht. Diese Matheaufgabe an der Tafel war für mich unlösbar. Verlegen schlich ich nach vorn. Wie konnten drei Brüche multipliziert werden? Ach ja, erst gleicher Nenner, und was dann? Die Klasse johlte schon. Alle weideten sich an meiner Unwissenheit. Ich schrieb irgendeine vermutete Zahl hin. Nenner 24. Schallendes Gelächter. Ich war schweißgebadet.

»Wie wär’s mit Nachhilfe? Wer kann helfen?«

Ein Klassenkamerad, nicht gerade mein Freund, löste es mit links. Ich stand doof daneben.

»Ja, das sieht nicht gut aus für dich, Robert. Setz dich.« Der Lehrer schrieb irgendwas in irgendein Heft.

Glücklicherweise hatte ich in den letzten drei Klassen einen sehr liebevollen Klassenlehrer, der mich akzeptierte, wie ich war. Ohne ihn hätte ich das Abitur nie geschafft. Ich bin sicher, alle meine Lehrer haben vereint mitgeholfen, dass ich endlich die Schule verlassen konnte. Ich war schließlich überfällig.

Jetzt half nichts mehr, ich musste mich für einen Beruf entscheiden. Da der Zeichenunterricht mein Überleben in der Schule gesichert hatte, wollte ich erst einmal weiter zeichnen. Eine Grafikerausbildung schien mir ziemlich geeignet. Das kam mehr aus dem Kopf als aus dem Herzen. Ich bewarb mich an einer Hamburger Grafikschule, wurde angenommen und begann verhalten mit dem Studium. Freude kam nicht wirklich auf.

Ein Lichtblick während meiner Schulzeit war der Jugendring, über den man verbilligte Veranstaltungskarten bekam. Sooft ich welche ergattern konnte, war ich im Theater. Am liebsten verbrachte ich meine Freizeit im Deutschen Schauspielhaus oder im Thalia Theater, dort fühlte ich mich zu Hause. Ich hatte Bilder von Ulrich Haupt, Will Quadflieg, Richard Münch und Heinz Reincke aus den Programmheften ausgeschnitten. Das waren die Idole meiner Jugendzeit. Riesenplakate in der heutigen Form gab es noch nicht. Auf die Idee, selbst Schauspieler zu werden, kam ich nicht. Zu groß war meine Bewunderung und Hochachtung für diese Künstler.

Ich war begeistert, vor allem von mir selbst

Die Neue Münchner Schauspielschule war bereits meine zweite Schauspielschule. Mein zweiter ernsthafter Versuch, den Beruf des Schauspielers zu ergreifen. Der erste Versuch war gescheitert. An der berühmten Falckenberg-Schule hatte ich nach einem Tag Unterricht gleich wieder gekündigt. Die Aufnahmeprüfung lief relativ problemlos mit einem zweimaligen Vorsprechen, aber den Unterricht konnte ich nicht aushalten. Ich hatte das Gefühl, dass es nur darum ging, wer besser und wer schlechter war, keinesfalls um die Qualitäten des Einzelnen. Rivalität und gegenseitige Bewertung, also Kampf auf allen Ebenen, war schon am ersten Tag zu spüren. Gegenseitiges Mustern und Einschätzen. Spannungsgeladen. Bei unserer ersten Aufgabe, einer Improvisation, schnitt ich am schlechtesten ab, dachte ich jedenfalls. Aber nach acht Vorgängern fiel mir keine neue Variante des gestellten Themas ein. Ich kam zuletzt dran, sollte einen »Sommertag am Ufer« in Szene setzen. Ich war blockiert, hatte keine neue Idee. Darum ging ich einfach weg, mitten im Unterricht. Ich war der festen Meinung, ich hätte mich zu sehr mit Unbegabtheit blamiert.

Direktor Gerd Brüdern schrieb mir tags darauf einen Brief und bot ein Gespräch an. Aber ich wollte nicht reden, ich wollte aufgeben. Plötzlich hatte ich verstanden, dass die Beurteilung von außen ein Teil des Schauspielberufs ist und mehr als schmerzlich sein kann. Ich war zutiefst verzweifelt. Der Beruf könnte ja toll sein, aber ich fühlte mich zu mickrig. Zu schlecht. Einen anderen Berufswunsch hatte ich jedoch nicht. Leere.

Ich dachte daran, mich umzubringen; vielleicht nicht wirklich, aber ich sah keinen anderen Ausweg. Es gab keinen Menschen, dem ich diesen peinlichen Vorfall hätte schildern können. Also kaufte ich jede Menge rezeptfreier Schlaftabletten, schrieb einen unsentimentalen Abschiedsbrief und wanderte stundenlang mit den Tabletten in der Tasche an der Isar auf und ab. Keine Ahnung, ob diese zwei Röhrchen etwas gebracht hätten. Es kam glücklicherweise nicht dazu. Der Brief wurde von meiner Mutter auf meinem Schreibtisch gefunden. Mehrere erschrockene Menschen machten sich auf die Suche nach mir. Ein Kollege meines Vaters fand mich und holte mich aus meiner verzweifelten Sackgasse, indem er mir lange, wirklich lange zuhörte, nachdem ich es gewagt hatte, ihm mein Versagen zu offenbaren. Er machte mir klar, dass Niederlagen zum Leben gehören.

»Es geht nie nur steil aufwärts! Bei keinem Menschen.« Er brachte einige Beispiele aus seinem Leben. »Misserfolge sind die größten Chancen zum Lernen!«

Das beruhigte mich insoweit, dass ich mich leichten Herzens von den Tabletten trennte und sie in die Isar warf.

Vielleicht also doch mit Grafik weitermachen? Nach dem Abi war ich in Hamburg ein halbes Jahr lang auf die Kunstschule Alsterdamm gegangen. Ich hatte noch eine Mappe mit Zeichnungen und Bildern, die ich dort angefertigt hatte, und lief damit immer wieder um die Kunstakademie München herum. Wie geht das denn mit der Abgabe der Zeichnungen und Bilder? Wohin muss ich gehen? Ins Sekretariat? Ich traute mich nicht hinein und fuhr mit der Bahn wieder nach Hause. In Wirklichkeit wollte ich ja auch nicht unbedingt meine Zeit vor leeren weißen Blättern verbringen.

Welch ein Glück, dass ich meinen Frust bei zwei exzessiven, rockmäßigen Drum-Spektakeln in der amerikanischen Flint-Kaserne rausschmettern konnte. Fantastische Hamburger und sehr viel Bier schafften den Rest. Gott sei Dank musste ich nicht den Kleinbus der Band heimfahren. Als ich am nächsten Tag wieder einigermaßen wusste, wo oben und unten war, raffte ich mich auf und telefonierte mit der Schauspielerin, die mir vor der Falckenberg-Schule Unterricht gegeben hatte, der Kollegin von Wolfgang Reichmann. Sie war sehr mitfühlend, hatte sie doch selbst schon viele Enttäuschungen erlebt, und bot an, mir weiterhin Schauspielunterricht zu geben. Ich war glücklich und begann, wieder mit ihr zu arbeiten. Sie half mir, neue Rollen zu finden, knetete diese mit mir durch und riet mir nach ein, zwei Monaten, auf einer Privatschule bei ihr um die Ecke vorzusprechen. Inzwischen hatte sie mich so weit stabilisiert, dass ich mich dort tatsächlich zur Aufnahmeprüfung anmeldete.

Dort sah ich SIE zum ersten Mal. Wir hatten die Aufnahmeprüfung am gleichen Tag absolviert – und bestanden. Ich sah sie in irgendeiner Rolle – nicht besonders überzeugend, wie ich fand –, aber ihr Aussehen! Ich war paralysiert. In den folgenden gemeinsamen Rollenstunden lernten wir uns näher kennen. Vom ersten Moment an fand ich sie besonders. Sie war knapp 16 Jahre alt, ging noch zur Schule, durfte aber nebenbei die Schauspielausbildung machen. Bei den sogenannten Partnerübungen versuchte ich stets, in ihrer Nähe zu sein oder ihr Spielpartner zu werden. Leider klappte es nicht immer. Ich litt ein bisschen, denn es gab ja auch noch ein paar andere ansehnliche Schüler.

Trotzdem gelang es mir immer wieder, sie mit kleinen Aufmerksamkeiten zu umgarnen: Manchmal lud ich sie in ein Café ein oder holte sie vom Gymnasium ab und ging mit ihr in unsere Schauspielschule. Am Abend brachte ich sie galant nach Hause oder ging ins Kino mit ihr. Irgendwann gelang das erste Händchenhalten. Der erste Kuss. Ich war berauscht.

Das Unaussprechliche drängte und wurde stärker. Aber wo? Wir hatten kein Zimmer. Im Zimmer ihres Zuhauses waren die Wände zu dünn. Man fühlte sich ungeschützt. Bei mir war es indiskutabel, ich teilte ein Zimmer mit meinem kleinen Bruder. Damit das unvermeidbar Schöne endlich passieren konnte, überredete ich eine Schauspielkollegin, mir ihre kleine Schwabinger Wohnung für einen Nachmittag zu überlassen. Sie kam mit. Ein Gläschen Sekt oder zwei … Es war unbeschreiblich. Sie war nackt noch viel schöner als Jane! Behutsam fiel ich auf sie drauf und in sie hinein. Ich war begeistert – von ihr, aber besonders von mir selbst. Ich wusste, diese Frau behalte ich, komme, was da wolle. Mit ihr wollte ich für immer zusammenbleiben.

Wir wurden beide zusammen an der Esslinger Landesbühne engagiert. Großer Sieg. Große Freude! Nach zwei Jahren Schauspielschule hatte ich nämlich gedacht, ich wüsste nun wirklich genug. Was sollte der Quatsch? Immer nur üben, üben, üben! Nein, Schluss! Es war Zeit für die Praxis, an einem richtigen Theater. Geld verdienen. Deshalb hatte ich mich ganz schlau bei einem Theateragenten um ein Engagement für uns beide bemüht. In aller Heimlichkeit. Unsere Lehrerin war entsetzt, als sie dahinterkam. Zutiefst beleidigt, dass so etwas hinter ihrem Rücken passiert war.

»Die Ausbildung ist ausgelegt auf drei Jahre! Ihr dürft das nicht!«, wetterte sie. Wir klappten die Ohren zu, verließen die Schule und waren nur glücklich. Endlich richtig auf einer Bühne stehen, das tun, wovon jeder junge Schauspieler träumt.

Mit der Eisenbahn fuhren wir nach Esslingen. Von heute auf morgen war es die schönste Stadt Deutschlands mit dem besten Theater der Welt geworden. Wir suchten eine kleine Wohnung. Woran wir überhaupt nicht gedacht hatten: der Kuppelparagraf. Niemand wollte einem unverheirateten Paar eine Wohnung vermieten, erst recht nicht, wenn die Frau noch minderjährig war. Außerdem hörten wir immer wieder, wir seien viel zu jung und unsere Gagen viel zu gering, um damit eine Miete nebst Lebenskosten zu stemmen. Keiner wollte uns, es war extrem frustrierend. Nach mehreren Wohnungsbesichtigungen und ernüchternden Gesprächen saßen wir bei Flammkuchen und Federweißem in einer fürchterlich braven Gaststätte.

Sie meinte melancholisch: »Die letzte Wohnung hätte mir schon gefallen, oder die erste!«

»Ja, mir auch. Die erste mit dem Minibalkon fand ich auch super, sie war auch überhaupt nicht teuer.«

Wir knabberten den weichen Flammkuchen, er schmeckte so gar nicht.

»Wir müssen wohl zwei Apartments mieten. Oder wollen wir in eine Wohngemeinschaft?«

»Gibt’s hier so was überhaupt?«

»Weiß ich nicht.«

»Ne, das find ich doof. Das kann ich nicht … so mit anderen … und alles teilen. Moment mal!« Ich strahlte sie an, mir war ein genialer Gedanke durchs Hirn geschossen. »Weißt du was? Weißt du, was wir machen?« Meine Stimme überschlug sich, so aufgeregt war ich.

»Ne, was denn?«

»Du, wenn das hier so spießig ist … Wir wollen doch zusammen sein und Theater spielen, dann … dann … dann heiraten wir eben!«

»Was?!«

»Ja, wir heiraten!«

Sie schaute verblüfft. Offener Mund.

»Was hältst du davon?«

Ihre Gesichtsfarbe wechselte in leuchtendes Rosa. Sie musste dieses Angebot verarbeiten.

Ich schob nach, fühlte mich unbesiegbar: »Stell dir vor: Wir heiraten und können endlich machen, was wir wollen! Wir sind frei!«

»Frei! Tolle Idee!«, stimmte sie freudig zu. »Das machen wir! Ja! Super!«

Wir küssten uns.

»Morgen gehen wir zu der Vermieterin und teilen ihr mit, dass wir heiraten werden. Vielleicht kriegen wir die Wohnung.«

»Meinst du, die tut das?« Ein Hoffnungsschimmer.

»Keine Ahnung. Wir versuchen es.«

Die Vermieterin ließ sich nicht umstimmen, aber das war uns egal. Wir fuhren nach München mit diesem traumhaften Plan, der alles versprach.

Am nächsten Tag kaufte ich einen großen Blumenstrauß, zog das einzige Sakko an, das ich hatte, dazu ein weißes Hemd mit Fliege. So suchte ich die Wohnung der Angebeteten auf. Ihre Mutter öffnete, ließ mich ein und freute sich über die Blumen.

Außer mir vor Aufregung stammelte ich ganz förmlich, wie ich es in einem Film gesehen hatte: »Ich möchte Sie um die Hand Ihrer Tochter bitten.«

Die Mutter schmunzelte, der Antrag hatte wohl etwas von Opas Theater. Doch sie war gerührt und umarmte mich glücklich. Meine Eltern hatten auch keine Einwände, im Gegenteil, sie mochten dieses Mädchen. Also heirateten wir kurz darauf standesamtlich. Eine kleine Feier im engsten Familienkreis fand bei meiner Schwiegermutter statt. Meine junge Frau war stolz darauf, dass sie mit 17 Jahren die Erste in ihrer Schulklasse war, die heiratete. Von nun an war die Wohnungssuche in Esslingen kein Problem mehr.

In Esslingen erwartete mich meine erste Rolle. Meine Frau hatte, wie damals üblich, meinen Namen angenommen. Aus diesem Grund wollte das Theater nicht, dass wir gemeinsam in einem Stück spielten. Zweimal derselbe Name im Programm mache einen schlechten Eindruck, war die Ansicht. Sie bekam eine kleine Rolle in einem anderen Stück. Ich spielte »Volk« in einem Sternheim-Stück. Dabei musste ich in einer Versammlung einen Satz über alle hinwegschreien. Das Ergebnis war, dass ich jeden Abend nach der Vorstellung fast heiser nach Hause ging. Stimmübungen hatten noch nie zu meinen Lieblingsfächern gehört. Das rächte sich jetzt. Am nächsten Abend war die Stimme zunächst wieder da, hinterher wieder weg. Man besetzte mich dann im Weihnachtsmärchen als Hans im Glück, allerdings auf der wesentlich kleineren Studiobühne. Die Stimme hielt.

Der Intendant wollte nach Würzburg wechseln und nahm mehrere Schauspieler des Ensembles mit. Uns beide nicht. Enttäuschung! Doch mit Wolfgang Reichmanns Hilfe hatten wir glücklicherweise genau zu diesem Zeitpunkt im Züricher Schauspielhaus ein Vorsprechen und wurden genommen. Riesige Hochstimmung, das war ja noch viel besser! Ein legendäres Großstadttheater. Na, dann mal los!

Mit diesem Schauspieler kann ich nicht arbeiten

In Hamburg hatte ich nach dem Abitur ein Grafikstudium begonnen, das wollte ich in München fortsetzen. Aber das einsame Sitzen vor einem leeren Blatt Papier gefiel mir nicht wirklich. Beim Zeichnen bist du immer allein. Ich war schüchtern, wollte raus aus dieser Einsamkeitsfalle, war neugierig aufs Leben. Vielleicht doch die Schauspielerei?

Das Schicksal half. Eines Abends brachte mein Vater Wolfgang Reichmann mit in unsere Wohnung, um ihn zu interviewen. Ich hatte ihn schon einige Male im Fernsehen gesehen, als Othello etwa oder als Lenny in Von Mäusen und Menschen. Ein wunderbarer Mensch. Das war eine günstige Gelegenheit. Ich vertraute mich ihm an. Er meinte, so einfach könne er nicht beurteilen, ob das etwas für mich sei. Deshalb trafen wir uns an einem der nächsten Tage in der Wohnung einer befreundeten Schauspielerin. Er ließ mich die Suchsituation »Portemonnaie weg« improvisieren. Es machte Spaß, und er war wohl ganz angetan, denn er empfahl mich seiner Kollegin. Ich nahm ein paar Stunden bei ihr, bis ich an der Falckenberg-Schule vorsprechen konnte.

An anderer Stelle erzähle ich, warum ich diese Schule schnellstens wieder verließ und auf einer Privatschule landete, nämlich auf der Neuen Münchner Schauspielschule. Dort platzte eines Tages meine Schauspiellehrerin Ali Wunsch mitten in eine Rollenstunde.

»Robert, kommst du mal?«

Schreck lass nach. Wieso ich? Der Unterricht wurde unterbrochen.

»Gehen wir nach nebenan.«

Ich folgte ihr irritiert. Es klang nach einer Übeltat. Hatte ich etwas falsch gemacht? Aber was? Irgendjemand hatte einen anonymen Liebesbrief an die Chefin geschrieben, und es ging das idiotische Gerücht herum, ich sei das gewesen. Völliger Quatsch, ich war doch an einem ganz anderen Mädchen interessiert. Glaubte meine Lehrerin das etwa auch? Das konnte ja wohl nicht wahr sein, an älteren Damen war ich nicht so sonderlich interessiert.

»Ich habe gerade einen Anruf vom Residenztheater bekommen.«

Der besagte Brief war es also nicht.

»Die sind in den Endproben von Schillers Räubern, mit Martin Benrath und Helmut Griem. Von den Räubern, also von den Rollen ohne Text, ist plötzlich einer wegen Erkrankung ausgefallen, und die brauchen Ersatz. Ich denke, du könntest das.«

»Wirklich?«

»Geh sofort hin und stell dich vor.«

»Jetzt?«

»Ja, beeil dich, ich habe dich vorgeschlagen, die proben seit zehn Uhr. Je schneller du da bist, desto besser. Premiere ist in sieben Tagen!«

»Danke! Toll!«

Ich rannte los. Das Residenztheater war mit der U-Bahn von Schwabing aus leicht zu erreichen. Der Pförtner wusste schon Bescheid und alarmierte den Regieassistenten. Ich war sehr aufgeregt, hatte den größten Respekt und auch Angst vor den großartigen, bekannten Schauspielern.

Der Assistent meinte: »Sei ganz leise. Du weißt ja, wir haben nicht mehr viel Zeit. Ich stelle dich gleich in die Reihe der Räuber, die sind mitten in einer Probe. Allererster Durchlauf. Du kennst ja das Stück!«

Ich kannte es nicht, aber ich ließ ihn in seinem Glauben.

»Griem wiederholt gerade einen seiner Monologe.«

Obwohl ich so viel Theater gesehen hatte, waren mir Schillers Räuber nie untergekommen. Der Assistent schummelte mich an die vierte Stelle in einer Reihe Kleindarsteller. Es waren zehn Räuber, teilweise kostümiert, mit Messern oder Degen ausgestattet. Er wollte die Einwechslung ohne großes Aufsehen durchführen. Also sagte er niemandem etwas, ich war plötzlich einfach da.

Griem war für mein Empfinden richtig gut. Ich war beeindruckt. Einen so hervorragenden Schauspieler hatte ich noch nie aus der Nähe erlebt. Solche gekonnten Wutausbrüche gab es auf unserer Schauspielschule nicht. Die Rede war intelligent und durchdacht aufgebaut, mit lauten und dezenteren Momenten. Griem benutzte die komplette Probebühne, ging die ganze Räuberreihe auf und ab und schaute jedem von uns mitten ins Gesicht. Auch ich war dran. Das irritierte mich, denn ich wusste nicht, wie ich zurückgucken sollte. Ich wusste ja überhaupt nicht, worum es ging. Er zögerte kurz, dann ging er weiter, setzte den Monolog fort, schreiend oder auch wimmernd. Dann kam er wieder zurück in meine Richtung. Einer nach dem anderen wurde mit fordernden Vorwürfen dem Stück entsprechend bedacht. Vor mir blieb er stehen. Stockte. Brach ab. Wie hätte ich denn schauen sollen? Wütend, betroffen, erstaunt oder verblüfft? Keine Ahnung! Eins war klar, mein Blick war falsch.

Griem schaute zum Regisseur und rief laut zu ihm hinunter: »Mit diesem Schauspieler kann ich nicht arbeiten!«

Stille. Mir stockte der Atem. Ich bekam Herzrasen und wusste nicht, was ich machen sollte. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.

Regisseur Hans Lietzau rief von unten: »Jetzt beruhige dich mal, Helmut. Der ist heute eingesprungen. Ganz neu. Das wird schon.«

Ich stand mit knallroter Birne da. Sagte gar nichts. Nur ganz leise nach ein paar Sekunden: »Ja, äh …Tut mir leid.«

»Die Szene machen wir morgen noch mal, und Sie … wie heißen Sie eigentlich?«, fragte der Regisseur.

Ich räusperte mich: »Hrrrkr … Robert Atzorn.«

»Ja, also, Sie … Herr … äh …? Sie bereiten sich bis morgen vor.«

»Ja, klar, mach ich.«

»Helmut, wir wiederholen die Stelle. Mach das noch mal, allein. Mir ist aufgefallen, du bist immer noch zu schnell … Versuch mal, die Erregung noch mehr nach innen zu nehmen …!«

Ich war zunächst erlöst. Erleichtert verschwand ich mit den anderen Richtung Kantine. Ich stellte mich den Kollegen vor. Ich wurde nicht rausgeschmissen.

Der Assistent kam zu mir: »Ich hätte dich nicht so einfach reinstellen sollen. Das war falsch, Entschuldigung! Wenn wir das morgen wieder machen … Es geht um Folgendes …«

Er umriss das Thema, ich ging mit dem Textbuch aufgeregt nach Hause, las die Fassung über Nacht, und von der nächsten Probe an lief alles wie geschmiert. Ich fand mich schnell in das Konzept ein. Es gab jede Menge Gruppenauftritte, meist mit kämpferischem Gesang. Die Vorstellung wurde ein großer Erfolg. Sogar mit mir als viertem Räuber.

Und es ging weiter: Wir gastierten mit den Räubern in Moskau. Die Russen nahmen uns herzlich auf. Nach der gelungenen Premiere wurden mehrere Reden über den fruchtbaren Kulturaustausch gehalten, wir beklatschten uns gegenseitig und es gab jede Menge zu essen und zu trinken. Besonders zu trinken. Wodka im Übermaß. Daneben Kaviar. Einige tranken hemmungslos.