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Die Autoren

Prof. Dr. med. Joachim Küchenhoff ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Psychoanalytiker (IPA). Nach dem Studium der Medizin und Philosophie arbeitete er an der Psychiatrischen Universitätsklinik und der Psychosomatischen Klinik in Heidelberg und habilitierte sich dort. Er erhielt 1994 einen Ruf an die Universität Basel. Ab 2007 wirkte er als Direktor der Erwachsenenpsychiatrie Basel-Land bis Juli 2018 und ist seither in freier Praxis tätig. Er ist Vorsitzender des Aufsichtsrates und Gastprofessor der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin und arbeitet als Chefredakteur des Schweizer Archivs für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Er gehört dem Wissenschaftlichen Beirat des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt und der Lindauer Psychotherapiewochen an. Seine neuesten Buchpublikationen lauten: »Verständigung und Selbstfindung. Psychoanalytisch-philosophische Gedankengänge« (2019); »Sich verstehen im Anderen. Erkenntniswege der Psychoanalyse« (2019). Auf der Homepage www.praxis-kuechenhoff.ch finden sich weitere Informationen und die Liste aller Publikationen.

Korrespondenzadresse: Prof. Dr. Joachim Küchenhoff, Hohe Winde-Straße 112, CH-4059 Basel, Joachim.Kuechenhoff@unibas.ch

Prof. Dr. phil. Ralf T. Vogel ist Psychologischer Psychotherapeut, Verhaltenstherapeut und Psychoanalytiker, Lehranalytiker und Supervisor an Ausbildungsinstituten unterschiedlicher therapeutischer Schulrichtungen und Honorarprofessor für Psychotherapie und Psychoanalyse an der HfBK in Dresden. Er ist Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Gremien, Herausgeber der Schriftenreihe »Analytische Psychologie C. G. Jungs in der Psychotherapie« bei Kohlhammer und Redaktionsmitglied der Zeitschrift »Analytische Psychologie«. Von ihm liegen zahlreiche Fachbücher vor. Dabei liegt sein wissenschaftlicher Schwerpunkt neben der Analytischen Psychologie vorwiegend auf der therapeutischen Arbeit im Umfeld von Tod und Sterben sowie dem Verhältnis der therapeutischen Schulrichtungen. In Ingolstadt ist er in privater Praxis für Psychotherapie und Supervision tätig.

Joachim Küchenhoff Ralf T. Vogel

Psychotherapie an der Grenze des Machbaren

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035657-3

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-035658-0

epub:    ISBN 978-3-17-035659-7

mobi:    ISBN 978-3-17-035660-3

»Psychotherapie bleibt Grenzerfahrung, ein Können an der Grenze des Nichtkönnens, ein Mitsein an der Grenze des Fremdbleibens, ein Verstehen an der Grenze des Unverständlichen, ein sympathetisches Mitgehen an der Grenze der undurchdringlichen Geschiedenheit.« (Gaetano Benedetti, Züricher Tagesanzeiger, 18.12.2013, aus einem Beitrag von Walter Hollstein)

Inhalt

 

 

 

  1. Einführung
  2. 1. Vorlesung
    Psychotherapie mit Flüchtlingen – Grenzen der Psychotherapie
  3. Joachim Küchenhoff
  4. Begründungen
  5. Der Ausgangspunkt: die Belastungspotenziale vor, während und nach der Flucht
  6. Die Grenzen der Psychotherapie und die unabdingbaren Anderen
  7. Soziale Hilfen
  8. Rechtliche Hilfen
  9. Sprachliche Hilfen
  10. Therapeutische Haltung
  11. Kultursensibilität
  12. Umgang mit Differenz
  13. Vier Elemente einer Aufarbeitung von Trennungserfahrung in der Arbeit mit Flüchtlingen
  14. Schlussbemerkungen
  15. 2. Vorlesung
    Die Grenzen der therapeutischen Verfahren
  16. Ralf T. Vogel
  17. Was ist ein psychotherapeutisches Verfahren?
  18. Grenzen
  19. Die existenziellen Begrenztheiten psychotherapeutischen Handelns
  20. Der Umgang mit der Begrenztheit
  21. 3. Vorlesung
    Die Psychotherapie mit psychotisch erlebenden Menschen – therapeutische Grenzen und Grenzerfahrungen
  22. Joachim Küchenhoff
  23. Die Grenzen von Diagnostik und Psychopathologie und die Notwendigkeit eines erweiterten Krankheitsverständnisses als Voraussetzung einer Psychotherapie der Psychosen
  24. Positivierung als therapeutische Grundhaltung (G. Benedetti)
  25. Beziehungsdilemmata und ihre psychotischen Lösungen (S. Mentzos)
  26. Die Wirkprinzipien von Psychotherapie und ihre Grenzen in der Psychosentherapie
  27. Die Erweiterung der Grenzen der Psychotherapie
  28. Psychotherapie auf der Suche nach der Subjektivität des psychotisch erlebenden Menschen
  29. Hören mit dem »dritten Ohr«
  30. Hören mit dem »vierten Ohr«: Produktive Negativität
  31. Bewahren und Erinnern (Archivar sein)
  32. Der Aufbau von Triangulierungen
  33. Abschließende Bemerkungen
  34. 4. Vorlesung
    Die Grenzen der therapeutischen Beziehungsfähigkeit
  35. Ralf T. Vogel
  36. Die Zentralität der therapeutischen Beziehung
  37. Die Beziehungsgrenzen der Beteiligten
  38. Die Grenzen des Patienten
  39. Die Grenzen im therapeutischen Paar
  40. Die Grenzen im Therapeuten
  41. Selbsterfahrung und Supervision
  42. Das Gute an den Beziehungsgrenzen
  43. 5. Vorlesung
    Der Begriff des Machbaren: Abschlussreflexion und Diskussion
  44. Joachim Küchenhoff und Ralf T. Vogel
  45. Grenzen des Machbaren (R. T. Vogel)
  46. Die Reichweiten des Handelns und die Kunst zu machen und zu lassen (J. Küchenhoff)
  47. Literatur
  48. Stichwortverzeichnis

Einführung

 

 

 

Der vorliegende Band enthält etwas erweitert die Inhalte einer fünftägigen Vorlesung der beiden Autoren auf den 68. Lindauer Psychotherapiewochen: »Erwartung«/»Heimat im 21. Jahrhundert«, 15. bis 27. April 2018 in Lindau.1

Die Psychotherapieforschung bestätigt uns immer mehr in unserem klinischen Handeln, indem sie nachweist, wie viel Psychotherapie bewirken kann. Aber als Psychotherapeuten stoßen wir immer neu an Grenzen. Wir können uns bemühen, sie zu verschieben, etwa indem wir neue Gruppen von Patienten2 einbeziehen und so unseren Wirkungskreis erweitern, z. B. in der Begegnung mit psychotisch erlebenden Menschen oder mit Asylsuchenden und Flüchtlingen. Wir beherrschen allerdings immer nur einige von vielen Verfahren, so dass unsere eigenen Möglichkeiten begrenzt sind und wir anderen den Vortritt je nach Indikation lassen sollten. Schließlich stellen ca. 42 % der in der BRD neu eingeführten psychotherapeutischen Sprechstunden keine Indikation für eine Richtlinienpsychotherapie3. Soziale und körperliche Realitäten lassen sich u. U. durch Psychotherapie nicht verändern. Schließlich können wir nicht voraussetzen, dass Patienten, die zu uns kommen, unser Angebot aufgreifen können oder wollen. Was aber Therapieziele sind und ob sich erreichbare Ziele festlegen lassen, bleibt grundsätzlich zu hinterfragen.

Der vorliegende Band beansprucht keine umfassende Abhandlung des Themas der psychotherapeutischen Grenzen. Wichtige Themen, wie etwa die durch ethische Verpflichtungen oder berufsrechtliche Vorgaben gesetzten Begrenzungen, bleiben weitgehend ausgespart. Die beiden Autoren nähern sich vielmehr dem Thema jeweils aus ihrem Erfahrungsfeld und spannen den Gegenstandsbereich in seiner Heterogenität auf. Die Frage nach den Grenzen und dem Machbaren sind große Themen philosophischer und psychologischer Erörterungen, die für die Vorlesungsreihe auf vier konkret psychotherapeutisch relevante Themen heruntergebrochen wurden. Dabei geht es in den beiden Themen von Joachim Küchenhoff in erster Linie um therapeutisches Handeln an den Grenzen des Machbaren, während Ralf Vogel sich in einem Überblick den dem Psychotherapeutischen genuin inhärenten Grenzen zuwendet. Das fünfte Kapitel versucht dann eine Zusammenschau, nicht um die behandelten Themen endgültig abzuschließen, sondern um weitergehende Diskussionen im fachlichen Raum anzuregen. Wenn wir als Psychotherapeuten an den Grenzen des Machbaren arbeiten, so sind wir aufgerufen, uns in der durch die Vorlesung aufgespannten Polarität zu bewegen: Wir wollen den Umfang des Machbaren erweitern und dadurch viele Menschen mit unseren Verfahren erreichen, die bislang von uns nicht profitieren konnten. Wir müssen uns zugleich die Grenzen unserer Möglichkeiten immer bewusst halten, um nicht einem keineswegs nur in der Psychotherapie spürbaren Zwang zur Selbstoptimierung und Perfektionssuche zu erliegen.

1        Dieses Buch stellt eine grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung der Vorlesungen dar, die die Autoren zum gleichen Thema im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen 2018 gehalten haben (www.auditorium-netz werk.de).

2        Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in der Regel die neutrale bzw. männliche Form verwendet. Diese gilt für alle Geschlechtsformen (weiblich, männlich, divers).

3        Bühring P (2019), S. 14

1. Vorlesung
Psychotherapie mit Flüchtlingen – Grenzen der Psychotherapie

Joachim Küchenhoff

Begründungen

Flüchtlinge und Asylanten4 brauchen unsere Hilfe. Sie brauchen u. U. auch unsere psychotherapeutische Hilfe. Aber wenn Psychotherapie, wie das Wort sagt, die Behandlung seelischer Nöte oder wenn Psychotherapie die Behandlung mit psychologischen Mittel ist, dann kommt sie als Angebot gegenüber Flüchtlingen – und nicht nur da – an ihre Grenze, da Menschen, die ihre Heimat verloren haben, die keine Bleibe im Gastland haben, die ohne Geld angekommen sind, noch andere Formen der Unterstützung brauchen, unmittelbare und handfeste eben. Damit ist Psychotherapie aber in keiner Weise überflüssig. Sie muss indes eingebunden sein in eine hilfreiche Umgebung, die materielle und organisatorische Hilfen ebenso enthält. Darin andererseits unterscheiden sich die unterstützenden Maßnahmen der Flüchtenden nicht von den Behandlungsgrundsätzen in anderen Bereichen. Nehmen wir als Beispiel die Arbeit mit chronisch psychotisch erlebenden Menschen, auf die wir in der dritten Vorlesung zu sprechen kommen: Sozialpsychiatrie ist auf die Psychotherapie angewiesen wie auch umgekehrt. Soziale Therapie und Psychotherapie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich. Die Flüchtlingsarbeit dient exemplarisch dafür, die bio-psycho-soziale Komplexität von Krankheit und Krankheitsversorgung zu zeigen. Deshalb ist ein unterstützendes und beratendes Netzwerk von Menschen wichtig, zu dem der Psychotherapeut gehört, freilich nur als einer von mehreren. Die Grenzen der Psychotherapie in der Flüchtlingsarbeit zu beachten, bedeutet deshalb auch immer, die Grenzen der eigenen Möglichkeiten und Kompetenzen anzuerkennen und mit anderen zusammenarbeiten zu wollen.

Nun haben wir ganz selbstverständlich von »Krankheit« gesprochen; diese Selbstverständlichkeit müssen wir zurücknehmen. Zwar wissen wir, dass ein hoher Prozentsatz der Menschen, die geflohen sind, traumatisiert ist. Das aber besagt gleichzeitig, dass nicht alle in einem behandlungsbedürftigen Ausmaß seelisch belastet sind. Die Grenzen der Psychotherapie müssen also auch dort ausgelotet werden, wo es um seelische Krankheit oder reale Not geht. Vielleicht helfen dem Flüchtling Beratungsgespräche und Informationen mehr als ein psychotherapeutisches Gespräch im engeren Sinn.

Eine andere Grenze muss noch bedacht und berücksichtigt werden. Es ist die fachliche Grenze der Psychotherapie selbst. Nicht alle Arten der Psychotherapie eignen sich für alle seelischen Störungen, die bei Flüchtlingen auftreten können; das ist klar. Die meisten Verfahren aber sind an das Gespräch gebunden; ohne die Möglichkeiten einer sprachlichen Verständigung kann Psychotherapie an ihre praktischen Grenzen, die Grenzen der Anwendbarkeit, stoßen. Subtiler, schwerer zu fassen, aber ebenso wichtig ist es zu prüfen, ob über die sprachliche Verständigung eine kulturelle möglich ist. Es ist schwer, dort eine Psychotherapie anzubieten, wo das psychotherapeutische Verfahren unbekannt ist und/oder den Gepflogenheiten und kulturellen Werten zuwiderläuft.

Im Folgenden soll es darum gehen, das durch die genannten Begrenzungen eingeschränkte, darum aber auch fachlich besonders attraktive Feld der Psychotherapie mit Flüchtlingen auszumessen. Die Psychotherapie stößt an Grenzen in der transkulturellen Arbeit, aber sie erweitert diese Grenzen auch. Damit ist sie besonders produktiv. Die transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie macht es sich zur Aufgabe, neue Antworten auf viele Fragen zu finden; ihre Erkenntnisse bereichern die Psychotherapie. Die Begegnung mit kulturell Fremden zwingt dazu, sich über den Umgang mit Fremden und mit Fremdem überhaupt Gedanken zu machen. Insofern hält die transkulturelle Arbeit der Psychiatrie überhaupt den Spiegel vor und erlaubt zu sehen, worum es auch sonst in der klinischen Arbeit geht.

Der Ausgangspunkt: die Belastungspotenziale vor, während und nach der Flucht

Um die Grenzen, aber auch die Möglichkeiten einer Psychotherapie mit Flüchtlingen inhaltlich zu bestimmen, ist es hilfreich, zunächst einmal die Herausforderungen, denen Flüchtlinge ausgesetzt sind, darzustellen5.

Wir müssen als Erstes die schweren Belastungen im Herkunftsland, die ja in der Regel den Ausschlag für die Flucht geben, würdigen.

Ein Bericht, der für viele andere steht6:

»Der 43 Jahre alte Nassor Alharaki war in seinem Heimatland Syrien ein angesehener Tierarzt. Von seiner Arbeit konnte er seine Frau und seine fünf Kinder gut ernähren. Doch der Krieg, der in Syrien tobt, wird immer härter, immer rücksichtsloser. Als sein Haus von Bomben zerstört wurde, verlor er in den Trümmern drei seiner fünf Kinder. Seine Frau und die beiden jüngsten Söhne (5 und 11) überlebten.«

Halten wir kurz inne, um uns die in diesem lapidaren Bericht enthaltene vielfache Traumatisierung vor Augen zu halten: Verlust des eigenen Hauses, Tod von drei Kindern, Verlust des Heimatlands.

»Er beschloss, mit seiner Frau und den beiden Kindern nach Europa zu fliehen, gelangte ans Mittelmeer und setzte sich in ein Boot mit 700 weiteren Flüchtlingen. ›Wir waren 13 Tage auf dem Wasser. Es war eine schreckliche Zeit‹, sagt er. Als sie endlich in Italien von Bord gingen, freuten sie sich, in Sicherheit zu sein.«

Nach der Traumatisierung in Syrien folgt die unendlich aufreibende Flucht; die ständige Lebensbedrohung, die hygienischen Verhältnisse auf dem Boot, die physische Nähe zu den anderen Flüchtenden, die völlig offene Zukunftsperspektive. Reporter der »Zeit« haben sich unerkannt einem Fluchtboot angeschlossen und einen erschütternden Bericht über ihre Erfahrungen geschrieben.7

Kehren wir aber zum Bericht über Alharaki zurück. Seine Familie erreichte Deutschland und verbrachte sieben Monate in einem Aufnahmezentrum, bis ihr Asylantrag genehmigt wurde und sie sich eine Wohnung suchen konnte. Der Bericht schweigt sich allerdings über die Zustände und das Befinden im Aufnahmezentrum aus.

»Deutsch konnte Alharaki nicht, als er hierher kam, doch er übt fleißig, da er in Deutschland langfristig wieder als Tierarzt arbeiten möchte, erzählt er. Er ist glücklich darüber, dass ihn die Deutschen so herzlich aufgenommen haben und ist froh, in Sicherheit zu sein. Seine Kinder gehen zur Schule und haben sehr schnell die Sprache gelernt. Er hat sein Glück in Deutschland gefunden – und möchte nicht zurück nach Syrien.«

Der Neubeginn nach der Trennungstraumatisierung scheint im Fall von Alharaki und seiner Familie zu gelingen; dazu gehören als wesentliche Voraussetzungen die herzliche Aufnahme, die eine Zeitlang zu Recht »Willkommenskultur« geheißen hat, die Sicherheit in einem nicht von Krieg bedrohten Land und schließlich die Neugier, das Gastland und seine Sprache kennenzulernen.

Erstaunlich ist, dass in diesem und in vielen anderen Berichten von Verlust und Neubeginn, ganz wenig aber von Trauer die Rede ist. Offenbar steht die Zeit zu trauern nicht oder noch nicht zur Verfügung. Trauerarbeit aber ist dringend geboten, um die traumatischen Erfahrungen in Worte zu fassen und auch nur ansatzweise verarbeiten zu können. Für viele Flüchtlinge gilt, dass der Krieg oder die Ausnahmezustände im Heimatland selbst, aber auch die Umstände der Flucht und schließlich feindselige Haltungen im Gastland kumulativ traumatisierend wirken können. Die Menschen, die geflohen sind, hoffen auf eine andere, eine bessere Zukunft. Sich trennen bedeutet auch, sich zu entwickeln, Zukunft für sich dort zu schaffen, wo sonst keine mehr erkennbar war. Trennungen sind Krisen, und deren Ausgang ist immer ungewiss, sie kann in die Depression, aber auch in eine neue Zuversicht übergehen.

Die Grenzen der Psychotherapie und die unabdingbaren Anderen

Soziale Hilfen

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Situation des Flüchtlings in der Anfangsphase nach der Ankunft, nach den ersten Wochen und Monaten im Aufnahmezentrum. Er wird an einen Psychiater oder Psychotherapeuten verwiesen, wenn er Glück hat. Aber der kann vielleicht die brennendsten Fragen gar nicht beantworten. Ihm sind u. U. die rechtlichen Regelungen des Gastlandes nicht bekannt, er weiß zu wenig Bescheid, was die finanzielle Unterstützung betrifft, er kennt die dringend notwendigen Schritte für das Wohnen und die Arbeitssuche nicht. Seine Empathie läuft unter Umständen ins Leere, wenn sie nicht an die drängendsten Anforderungen der Existenzabsicherung anknüpft.