Das Kinderverstehbuch

Inhaltsverzeichnis

Über Sandra Winkler

Sandra Winkler ist freie Journalistin und Buchautorin und lebt in Berlin. Ihre Texte sind u. a. in ›Welt am Sonntag‹, ›Nido‹, ›Barbara‹ und ›SZ-Magazin‹ erschienen. Wie alle Eltern wundert sie sich über ihre Kinder: Warum liebt die eine Tochter ihr Kuscheltier wie ein Familienmitglied? Und warum ekelt sich die andere vor Brokkoli, findet aber nässende Wunden toll? Mithilfe von Experten hat sie Antworten gefunden.

Über das Buch

Warum lieben Kinder es, Knöpfe zu drücken? Warum haben sie ganz plötzlich Angst vor Fremden? Warum verstecken sie sich so gern – und sind trotzdem so verdammt schlecht darin? Unsere kleinen Mitmenschen sind merkwürdige Wesen. Sie bewegen sich vor allem hüpfend vorwärts, tun selten, was man ihnen sagt, und wollen sich nur von Nudeln und Süßigkeiten ernähren. Sandra Winkler, Mutter zweier Töchter, geht der Sache auf den Grund: Anhand von Erkenntnissen aus Psychologie, Entwicklungspädiatrie und Neurologie erklärt sie, warum die Kleinen so ticken, wie sie ticken.

Impressum

2022 dtv Verlagsgesellschaft mbh & Co. KG, München

© 2020 Sandra Winkler

© 2020 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Idee: Heike Faller

Redaktion: Dr. Angelika Winnen

Umschlaggestaltung: buxdesign I Ruth Botzenhardt

Umschlagmotiv: mauritius images / Westend61 / Sandra Seckinger

 

 

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eBook-Herstellung: Fotosatz Amann, Memmingen (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43817-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-35187-4

ISBN (epub) 9783423438179

Die Maschine, die den Kindern im Labor vorgeführt wird, sieht hochwissenschaftlich aus: zwei Boxen mit Knöpfen, Schaltern, Lichtern. In einer liegt ein grüner Holzblock. Ein anwesender Forscher schließt die Deckel beider Boxen, lässt Lichter blinken, ein Signal ertönen. Und dann liegt plötzlich in der zweiten Box ebenfalls ein grüner Holzblock. Was die Kinder nicht wissen: Durch die Forscherhand ist er dorthin gelangt.

Nein, Kindern sollte man nichts vormachen. Aber hier, an der University of Bristol, geschah es im Namen der Wissenschaft. Den Jungs und Mädchen, alle zwischen drei und sechs Jahren, musste für einen Versuch weisgemacht werden, dass vor ihnen ein Gerät steht, das von jedem x-beliebigen Gegenstand mal eben schnell eine identische Kopie anfertigen kann. In diesem Glauben durften die Kinder dann das Gerät selber ausprobieren. Dafür hatten sie Spielzeuge mitgebracht. Viele auch ihr

Viele Kinder lieben ihren Teddy, Schnuffel, Puschel so innig, als wäre sein Herz nicht bloß aus Stoff und Füllmaterial. Sie schlafen mit ihm, tragen ihn herum, umsorgen ihn, sprechen mit ihm, weinen in ihn hinein und vertrauen ihm Geheimnisse an, von denen nicht einmal Mama und Papa etwas wissen dürfen. Als Erwachsener hat man da manchmal das Gefühl, diese Zuneigung gehe fast schon ein wenig zu weit: Wenn zum Beispiel der Stoffaffe plötzlich eine eigene Stimme im Familienrat bekommt (»Bono möchte jetzt auf den Spielplatz

Auch die Liebe meiner Tochter zu ihren Kuscheltieren finde ich beizeiten etwas – nun ja – befremdlich. Zu ihrem zweiten Geburtstag bekam sie einen Stoffhund. Viele Kinder besitzen dieses Modell, es stammt von einem großen schwedischen Möbelhaus. Wauwau avancierte schnell zum absoluten Liebling. Und weil wir gelesen hatten, dass Eltern fürs Kind am besten einen Ersatz parat haben sollten, falls der Liebling in die Waschmaschine muss oder verloren geht, kauften wir, als wir mal wieder im Möbelhaus waren, einen weiteren Hund – und noch einen und noch einen. Wir versteckten sie für den Fall der Fälle im Schrank. Wo sie meine Tochter irgendwann fand. Nun schläft sie mit einer ganzen Hundefamilie im Bett. Jeder und jede hat einen Namen (Wauwau, Wauwina, Wuffi, Wuffa, Bello, Bella), trägt ein aus Wollfäden selbst geflochtenes Halsband und wird mit Liebe und Dankbarkeit überschüttet. Denn: »Meine Hunde beschützen mich. Wenn sie da sind, ist alles gut«, erklärt meine Tochter. »Sie sehen zwar süß aus, werden aber zu Karate-Monstern, wenn ein Räuber kommt.« Und natürlich lebten sie. Das dürften sie nur nicht zeigen. Das fand ich ja ganz niedlich. Bis meine Tochter

Doch tatsächlich ist genau das ihre Aufgabe. Der erste Wissenschaftler, der sich ernsthaft mit Kuscheltieren beschäftigte, war der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott. Mitte des 20. Jahrhunderts prägte er den Begriff »Übergangsobjekte«. Bilden Mutter und Säugling nach der Geburt zunächst eine Einheit, kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem das Kind sich lösen muss. Kuscheltiere sind ein vom Kind gewählter vorübergehender Ersatz für die Bezugsperson, die dann nicht mehr immer verfügbar ist – weil sie vielleicht eine Mail verschicken muss oder nur mal allein auf die Toilette gehen möchte. Mama oder Papa können nicht immer Händchen halten, dann ist es gut, wenn der Stoffbär seine Pfote reicht. Mit seinem Kuscheltier hat das Kind eine Strategie gefunden, das Alleinsein erträglicher zu machen. Es hilft aber auch bei anderen Herausforderungen – zum Beispiel wenn man als Kind plötzlich in einem eigenen Bett schlafen soll oder in den

Zum Übergangsobjekt bauen Kinder zum ersten Mal in ihrem Leben eigenständig eine Beziehung auf – und das bereits im ersten Lebensjahr. Wer oder was geliebt wird, ist dann zunächst austauschbar und beliebig. Dann wird die Sache konkreter, wobei der Favorit in den ersten zwei, drei Lebensjahren noch wechseln kann. Zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr haben die meisten Kinder ihr ganz spezielles Kuscheltier. Es kann auch eine Puppe sein, ein Tuch – wie Linus von den Peanuts es hinter sich herzieht – oder ein Spielzeug. Es soll Kinder geben, die sich nachts an einen Kipplaster kuscheln oder ihren geliebten Eierlöffel bei sich tragen. Daumenlutschen oder imaginäre Freunde haben übrigens eine ähnliche Funktion.

Vielleicht überlegen Sie nun: »Hm, mein Kind hat nichts von alledem. Warum wohl?« Wahrscheinlich weil es einfach keinen besonderen Beschützer, Einschlafhelfer, Seelentröster, Unterstützer, Kummerkasten, Angstnehmer braucht. Alle Menschen haben unterschiedlich große Bedürfnisse nach Geborgenheit, nach Nähe und nach Beziehung. Und vielleicht ist Ihr Kind, obwohl so klein, recht autonom und selbstständig.

Meist sind Kuscheltiere etwa bis zum sechsten

Man tut, was man kann. Im Alter von ein bis zwei Jahren ist das noch nicht viel. Gemessen in gestapelten Bauklötzen, schafft es ein 15 bis 18 Monate altes Kind aus zwei, drei Klötzen einen Turm zu bauen. Mit 20 Monaten kann es vier Klötze aufeinandersetzen, mit 24 Monaten acht. Entwicklungsexperten haben da ziemlich genaue Vorstellungen.

Bevor Babys zu Hochstaplern werden, dauert es also. Und da Umschmeißen leichter ist als Aufbauen, spielen sie so lange Abrissbirne. Fragt man eine Einjährige, »Wollen wir etwas Schönes bauen?«, schreit sie zwar »Jaaa!« – aber eigentlich will sie gar nichts Schönes bauen, sondern etwas, das man schön umwerfen kann.

Als Eltern stapelt man trotzdem los. Der Turm steht, Baby-Godzilla kommt und schlägt zu. Die Klötze purzeln, es kracht. »Umdefalle!« Das Kind ist begeistert von

Für uns Erwachsene mag dieses kleine Spektakel auf unserem Fußboden nicht ganz so aufregend sein. Aber vielleicht können diejenigen die Begeisterung ihres Kindes nachempfinden, die zum Beispiel schon einmal eine Gebäudesprengung gesehen haben, bei der die Masse gejubelt hat wie bei einem Feuerwerk. Oder die, die – wie ich früher – stundenlang den ›Domino Day‹ im Fernsehen verfolgen mussten, weil sie nicht abschalten konnten, bis der letzte Stein gefallen war.

Das Kind denkt nach dem Turmfall also: Das war toll – noch mal! Mama oder Papa krabbeln bereits auf allen vieren durchs Zimmer, um die Klötze aufzusammeln und von vorn mit dem Bau zu beginnen. An die ständige Repetition im Dienste der Nachwuchsförderung hat man sich als Eltern ja irgendwann gewöhnt: immer wieder Dinge aufheben, immer wieder das entlaufene Kind zurückholen, immer wieder dasselbe sagen.

Beim Bauklötzestapeln hat das permanente Wiederholen folgenden positiven Nebeneffekt: Wer für sein Kind einen Turm aufbaut, baut auch eine Beziehung auf. Du stapelst, ich werfe um, du stapelst, ich werfe um – ist eine der ersten Formen des Zusammenspiels.

Eltern sollten ihre Kinder nicht drängeln. Nur weil ein Kind 15 Monate alt ist, muss es nicht zwei Bauklötze stapeln können. Bei manchen dauert es einfach länger, bis ein Turm zustande kommt. Wenn Eltern sich an etwas orientieren wollen, dann nicht an den Zeitangaben zu den einzelnen Entwicklungsschritten, sondern besser an ihrer Reihenfolge. Die ist nämlich immer gleich, weil sich bei allen Kindern das Gehirn auf eine ähnliche Weise entwickelt, und geht so: Um den ersten Geburtstag herum beginnen kindliche Bauarbeiten mit einer großen Vorliebe für das Ein- und Ausräumen von Behältern. Was steckt denn da drin? Wie kann man es

Sind Kinder schließlich imstande, ihre eigenen Türme zu errichten, geben sie sich nicht mit mittelhohen Exemplaren zufrieden. Sie wollen immer das Maximum. Mit einer unglaublichen Beharrlichkeit probieren sie aus, was geht. Sie wollen den Burj Khalifa unter den Bauklotzstapeln. Mindestens. Alles andere wäre doch Babykram.

Gerade Eltern von winzigen Babys meinen, den Menschen in ihrer Umgebung beweisen zu müssen, dass sie alles im Griff haben: sich, das neue Leben zwischen Windeleimern und Spucktüchern – und auch ihr Kind, das natürlich so unkompliziert und strahlefreundlich ist wie Florian Silbereisen bei den ›Festen der Volksmusik‹. Zum Glück all dieser Eltern sind die meisten Babys in den ersten Lebensmonaten mit ihrem Lächeln sehr freizügig. Bei jedem Duziduzidu der Nachbarin strahlen und glucksen sie, für einmal Guck-Guck vom Paketboten quieken sie vor Freude. Es sind Wonneproppen, von denen jeder bekommt, was er sich wünscht. Die Kleinen betreiben noch keinen Personenkult.

Doch von einem Tag auf den anderen ist plötzlich Schluss mit lustig. Sobald sich jemand, der nicht Mama, Papa, Bruder oder Schwester ist, dem Baby nähert, klebt es wie ein feucht gewordener Bonbon an einem

Eine schwierige Phase fürs Kind – und für die Eltern. Jeder Besuch von oder bei Freunden wird zum Spießrutenlauf. Schließlich mag niemand Babysirenen, die jedes Mal losgehen, sobald man ihnen zu nahe kommt. In Cafés sitzen Mütter, wenn sie mal austreten müssen, jetzt ungelenk mit dem Kind auf dem Schoß auf der Toilette. Es einfach einer Freundin in den Arm zu drücken: »Hier, halt mal!«, während man kurz Pipi macht, das war vielleicht gestern noch möglich, heute: undenkbar. Das ist blöd, aber nur halb so schlimm im Vergleich zu dem Moment, in dem das Kind zum ersten Mal eine Panikattacke bekommt, weil die eigene Oma es anlächelt. Dann hat man ein echtes Problem – und Erklärungsnot: »Oh nein, du bist nicht der Grund. Es liegt bestimmt an deiner Brille, an deinem Parfüm«, versucht man die gekränkte Großmutter zu beschwichtigen.

Tatsächlich fremdelt das Baby einfach. Und das macht jedes Kind irgendwann. Wirklich jedes. Die Abneigung Fremden gegenüber (oder Verwandten, die es nur selten sieht) ist ein ganz normaler Entwicklungsschritt, der fast immer in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres stattfindet, meistens, wenn das Kind acht oder neun

An denen hängt das Baby eh gerade besonders, nicht nur, weil es Angst vor »den anderen« hat. Durch sein neu erworbenes Gedächtnis erlebt es zugleich zum ersten Mal Trennungsangst. Tatsächlich können Kinder vorher Personen oder Dinge nicht bewusst vermissen. Wer oder was aus dem Blickfeld verschwindet, ist für sie bis zum Alter von etwa acht Monaten kurzerhand nicht mehr existent. Setzt man ihnen in Versuchen zum Beispiel einen Teddy vor die Nase und hält dann ein Stück Pappe davor, fangen sie nicht an, danach zu suchen. Das Gleiche gilt für Mama und Papa, wenn sie den Raum verlassen. Quasi: aus den Augen, aus dem Sinn. Und solange sich jemand anderes um Essen, Wickeln, Rumtragen, Streicheln kümmert, gibt es wenig Grund zur Klage. Das Urvertrauen des Kindes – jemand ist da und kümmert sich – nimmt keinen Schaden.

Aufgrund von größerer geistiger Reife beginnen die

Wie heftig das Fremdeln und Vermissen ausfällt, hängt zum einen vom Temperament des Kindes ab. Manche verziehen nur leicht die Mundwinkel, andere bekommen ständig hysterische Anfälle. Zum anderen scheint der Umstand, wie gesellig ein Baby seine ersten Lebensmonate verbracht hat, eine Rolle zu spielen. Werden Babys von Anfang an von verschiedenen Personen betreut, haben sie tatsächlich kaum Angst vor Fremden. Und auch Kinder, die in einer Großfamilie aufwachsen, fremdeln anscheinend weniger stark. Aber sie fremdeln.

Babys schätzen dabei das Gefahrenpotenzial ihrer Mitmenschen unterschiedlich ein: Männer machen ihnen mehr Angst als Frauen, Bärtige mehr als Rasierte und Erwachsene mehr als Kinder oder Kleinwüchsige. Für die Wahl des neuen Babysitters bedeutet das also: »Suche kleine Frau ohne Damenbart.« Diskriminierend, irgendwie. Aber aus evolutionspsychologischer Sicht gibt es durchaus Erklärungen für die gezielte Abneigung gegen große Männer. Eine ist die evolutionär begründete Angst vor Infantizid. Kindstötungen kommen bei fast allen Primaten vor. Übernimmt ein Männchen eine fremde Gruppe, bringt es häufig erst einmal die Kinder der Konkurrenten um. Warum sollte man fremde Gene verbreiten? Außerdem bekommen Weibchen, nachdem das zu stillende Kind weg ist, schneller wieder einen Eisprung und können von dem neuen Männchen begattet werden.

Fremdeln kann man dem Baby übrigens nicht

Als ich noch keine Kinder hatte, erzählte mir ein Vater, sein Sohn wolle andauernd gekitzelt werden. Andauernd! Und lange. Am liebsten endlos. Der Kleine bettelte: »Papa, bitte hör nicht auf. Auch wenn ich ›Stopp!‹ schreie. Hör nicht auf!« Damals kamen mir dieser Vater und sein Sohn sehr seltsam vor.

Heute haben meine Töchter das Codewort »Dornenkranz«. Ich weiß nicht, wo sie das Wort aufgeschnappt haben, sie wachsen in einem unreligiösen Umfeld auf. Aber sagen sie »Dornenkranz«, dann muss ihr Vater aufhören, sie mit dem Kitzelfinger zu bearbeiten. Ich bin kein Fan des Kitzelns. Ich bin also raus bei dem Spiel. Trotzdem bittet meine kleine Tochter, die Fünfjährige, mich manchmal: »Kannst du mich kitzeln?« »Aber warum nur?«, habe ich sie einmal gefragt. »Das fühlt sich so gut an, und Lachen macht Spaß. Wenn ich lachen muss, lachen alle mit«, meinte sie.