Umwelt, Demokratie, Bildung – 25 Porträts von engagierten Young Rebels aus aller Welt ermutigen, selbst aktiv zu werden.

Sie kämpfen für die Umwelt, Minderheiten und Gleichberechtigung und engagieren sich gegen die Waffenlobby, Diskriminierung und Korruption. 25 Jugendliche im Kampf für eine bessere Welt. Greta Thunberg ist 16, als sie mit ihrem Schulstreik für die Umwelt weltweite Klimaproteste auslöst. Der 14-jährige Netiwit Chotiphatphaisal gründet eine Zeitung, um sich in Thailand für Demokratie, Redefreiheit und eine Bildungsreform einzusetzen. Malala Yousafzai bloggt von der Unterdrückung der Frauen in Pakistan als sie 11 ist. Und Felix Finkbeiner entwickelt in der 4. Klasse seine Idee, dass Kinder in jedem Land eine Million Bäume pflanzen sollten. Jugendliche auf der ganzen Welt zeigen soziales Engagement und bewirken wegweisende Veränderungen. Ihre Entschlossenheit inspiriert uns alle.

 

BENJAMIN KNÖDLER UND CHRISTINE KNÖDLER

 

YOUNG REBELS

 

25 JUGENDLICHE, DIE DIE WELT VERÄNDERN!

 

ILLUSTRIERT VON FELICITAS HORSTSCHÄFER

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Für Magdalena und Matteo und für Hattie

 

B. K. | C. K.

 

 

INHALT

 

VORWORT

LOUIS BRAILLE | FRANKREICH | Erfinder der Blindenschrift

GRETA THUNBERG | SCHWEDEN | Klima-Aktivistin

EMMA GONZÁLES | USA | Aktivistin für strengere Waffengesetze

CLAUDETTE COLVIN | USA | Bürgerrechts-Aktivistin

KELVIN DOE | SIERRA LEONE | Erfinder, Ingenieur und DJ

AMIKA GEORGE | GROSSBRITANNIEN | Frauenrechts-Aktivistin

XIUHTEZCATL MARTINEZ | USA | Umwelt-Aktivist

MALALA YOUSAFZAI | PAKISTAN | Bildungs-Aktivistin

BOYAN SLAT | NIEDERLANDE | Umwelt-Aktivist und Erfinder

ELYSE FOX | USA | Aktivistin für psychische Gesundheit

NETIWIT CHOTIPHATPHAISAL | THAILAND | Aktivist für Demokratie und Verleger

MIKAILA ULMER | USA | Umwelt-Aktivistin und Unternehmerin

LEGALLY BLACK | GROSSBRITANNIEN | Aktivist*innen für eine bessere Sichtbarkeit von »People Of Color«

GAVIN GRIMM | USA | Transgender-Aktivist

UMAZI MUSIMBI MVURYA | KENIA | Friedens-Aktivistin

FELIX FINKBEINER | DEUTSCHLAND | Klima-Aktivist

KAROLÍNA FARSKÁ | SLOWAKEI | Aktivistin gegen Korruption

SOLLI RAPHAEL | AUSTRALIEN | Poetry-Slammer für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz

RAYOUF ALHUMEDHI | SAUDI-ARABIEN | setzte ein Emoji mit Hidschab durch

HAILEY FORT | USA | setzt sich für Obdachlose ein

JOSHUA WONG | HONGKONG | Aktivist für Demokratie

JULIA BLUHM | USA | Body-Image-Aktivistin

JAKOB SPRINGFELD | DEUTSCHLAND | Aktivist für Klimaschutz und gegen Rechts

PUSSY RIOT | RUSSLAND | Feministische, regierungs- und kirchenkritische Punkrock-Band

BARNEY MOKGATLE, TSIETSI MASHININI, SELBY SEMELA | SÜDAFRIKA | Anti-Apartheid-Aktivisten

GLOSSAR

QUELLENVERZEICHNIS

 

 

VORWORT

 

Eigentlich ist die Welt so schön. Eigentlich und für viele von uns. Aber nicht überall, nicht für alle und nicht zu allen Zeiten. Auch ihr wisst sicher von den Schattenseiten, von Umweltzerstörung, Rassismus, Armut, Angst, Gewalt und dem Gegenteil von Freiheit. Das alles gibt es – doch zum Glück gibt es auch Kinder und Jugendliche in aller Welt, die sich damit nicht abfinden, sondern etwas tun. Ihr Mut ermutigt, ihre Hoffnung macht Hoffnung, ihr Handeln ist zukunftsweisend.

 

Das war der Ausgangspunkt, als wir im Sommer 2019 gefragt wurden, ob wir ein Buch schreiben wollten:

 

»YOUNG REBELS – 25 Jugendliche, die die Welt verändern!«

 

Und ob wir wollten! Was es bereits gab, war eine Liste mit knapp 30 Namen. Einige davon sind heute weltberühmt, andere kannten wir noch nicht, manche fielen aus, weil es zu wenig nachvollziehbare Quellen und überprüfbare Fakten gab, wieder andere kamen hinzu: Wir haben selbst weitergesucht und noch mehr Kinder und Jugendliche gefunden, deren Engagement überaus beeindruckend ist.

 

Bei ihnen allen wollten wir herausfinden, was sie antreibt und was sie überhaupt dazu gebracht hat, sich einzumischen – und zwar oft gegen alle vermeintliche Vernunft und gegen die Verantwortungslosigkeit vieler Erwachsener. Direkt sprechen konnten wir leider nur mit wenigen, dafür waren die meisten zu weit weg und die Zeit zu knapp. Um uns ein Bild machen zu können, haben wir Interviews, Artikel und Bücher gelesen, uns Videos ihrer Reden angeschaut und im Netz und in den Sozialen Medien recherchiert: Mal lag der Protest im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft, mal war es der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht und aus ganz normalen Kindern und Jugendlichen »Young Rebels« gemacht hat. Oder es war die eigene Betroffenheit, denn nicht immer suchten sie sich freiwillig aus, wofür sie eintraten.

 

Das, was die 25 Kinder und Jugendlichen, die jetzt in diesem Buch versammelt sind, eint, ist, dass sie die Missstände, die ihnen begegneten, anpackten – unabhängig davon, ob das im Großen oder im Kleinen geschah, ob am Ende eine globale Bewegung oder die konkrete Verbesserung der Situation vor Ort herauskam. Oft ging es ihnen nicht darum, das politische System oder das Wirtschaftssystem in ihrem jeweiligen Land zu verändern, sondern darum, Wandel in Gang zu setzen: für mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit, mehr Gleichheit, mehr Frieden, für mehr Umweltschutz, mehr Demokratie, mehr Menschlichkeit.

 

Die Jüngste war vier Jahre, als sie anfing, etwas zu verändern, die Älteste 26 – jung waren sie alle, allein geblieben sind sie nicht. Schließlich erzählen die Geschichten der »Young Rebels« immer auch von Menschen, die sich vom Enthusiasmus und den Überzeugungen anstecken ließen: Mitschüler*innen, Freund*innen, die Familie – oder Unbekannte, die dann zu Mitstreiter*innen wurden.

 

Diese Geschichten haben wir aufgeschrieben. Das hat uns verändert. Die »Young Rebels« sind für uns zu einer Art moralischem Kompass geworden. Sie lehren Toleranz und Solidarität, sie machen vor, was es heißt, zusammenzuhalten und sich nicht beirren zu lassen. Sie sind für uns Vorbilder geworden.

 

Aus dieser Erfahrung heraus und aus der Perspektive zweier Generationen, nämlich der von Mutter und Sohn, ist nun ein Buch geworden. Das zeigt, wie die Welt ist und wie sie sein kann.

 

Und so geht unser Dank an die »Young Rebels« von gestern, von heute und von morgen. Ihnen ist

 

»YOUNG REBELS – 25 Jugendliche, die die Welt verändern!«

 

gewidmet – und natürlich den Leser*innen. Möge es euch mit Ideen anstecken, Widerspruchsgeist wecken und euch ermutigen, weiter zu fragen, zu denken und womöglich zu handeln.

Denn wir alle können dazu beitragen, dass die Welt ein schönerer Ort ist.

 

Berlin und München, Januar 2020

Benjamin Knödler & Christine Knödler

 

 

 

LOUIS BRAILLE

ERFINDER DER BLINDENSCHRIFT

 

»Wir brauchen weder Mitleid, noch müssen wir daran erinnert werden, dass wir verwundbar sind. Wir müssen als Gleiche behandelt werden –und Kommunikation ist der Weg, wie das erreicht werden kann.1«

 

 

Wenn man nicht darauf achtet, fallen einem die kleinen, von der Oberfläche abgehobenen Punkte gar nicht auf. Doch für blinde Menschen oder Menschen mit Sehbehinderung ist die Blindenschrift auf Arzneimittelpackungen, Knöpfen von Fahrstühlen oder an Treppengeländern bei Bahnstationen wichtig, um sich im Alltag zurechtzufinden – auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule, zum Arzt oder zu einem Abend mit Freund*innen. Die Schrift baut Barrieren ab, und dass es sie heute gibt, ist dem Einsatz und der Hartnäckigkeit eines Schülers zu verdanken. Seine Geschichte beginnt im Jahr 1812, und sie beginnt mit einem Unfall.

 

Eigentlich durfte Louis Braille nicht allein in die Werkstatt seines Vaters im Örtchen Coupvray, östlich von Paris. Das Verbot seiner Eltern war eine Vorsichtsmaßnahme, denn Louisʼ Vater war Sattler, stellte unter anderem Pferdesattel her und arbeitete viel mit Leder. Deshalb hatte er in seiner Werkstatt viele spitze und scharfe Gegenstände. Der kleine Louis spielte damit, rutschte ab – und rammte sich eine Ahle, eines dieser spitzen Werkzeuge, ins Auge. Drei Jahre war er damals, und obwohl sein Auge von einem Arzt versorgt wurde, konnte es nicht mehr gerettet werden. Schlimmer noch: Die Entzündung des verletzten Auges griff auch auf sein unverletztes Auge über. Mit fünf Jahren war Louis komplett erblindet.

 

Von da an hätte sein Leben ein Leben voller Einschränkungen sein können, voller Grenzen, an die ein blinder Junge im 19. Jahrhundert stieß. Denn die Gesellschaft war zu dieser Zeit nicht offen gegenüber Menschen mit Behinderung. Wer blind war, hatte es schwer. Erblindete Menschen lebten oft in Armut und mussten sich als Bettler*innen durchschlagen, von einer Ausbildung oder einem Studium ganz zu schweigen. Doch Louisʼ Eltern wollten nicht, dass ihr Sohn an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurde. Sie behandelten ihn einfach ganz normal. Natürlich, fanden sie, sollte er seiner Mutter zu Hause und seinem Vater in der Werkstatt zur Hand gehen. Und wer sagte, dass er sich nicht auch draußen allein bewegen konnte? Von seinem Vater bekam er einen Blindenstock, mit dem er herumspazierte: Überall dort, wo die Gegebenheiten oder die Gesellschaft einen blinden Menschen hätte behindern können, lernte Louis, Hindernisse zu überwinden. Das galt auch für die Schule. Seine Eltern schickten ihn auf die Dorfschule. Sein Vater hämmerte die Buchstaben des Alphabets mit Nägeln in Holzstücke, sodass Louis lernen konnte, sie zu ertasten.

 

Louis war ein sehr guter Schüler. Und so durfte er nach der Grundschule eine Blindenschule in Paris besuchen. Der Leiter der Schule hatte ein eigenes System entwickelt: Er prägte die Buchstaben in besonders dickes Papier, sodass die blinden Kinder und Jugendlichen die Worte ertasten konnten. Doch das war für die Schüler*innen nicht optimal. Die Buchstaben zu ertasten war schwierig, vor allem waren die Bücher viel zu schwer und unhandlich. Der Unterricht beruhte deshalb vor allem auf Zuhören. Selbst zu lesen und zu lernen war kaum drin.

 

Das muss doch besser gehen, dachte Louis, und tatsächlich fand er schon bald eine Möglichkeit, die es blinden Menschen erleichterte, zu lesen und zu schreiben.

Mit elf Jahren wurde er auf die sogenannte »Nachtschrift« aufmerksam. Die hatte ein Hauptmann der französischen Armee entwickelt. Sie bestand aus zwölf Punkten, die sich etwas vom Papier abhoben. Die Schrift war erfunden worden, damit Soldaten Botschaften in der Dunkelheit weitergeben konnten, ohne sich durch Licht oder Flüstern zu erkennen zu geben. Wäre das nicht auch für blinde Menschen sinnvoll?

In der Theorie mochte das stimmen, in der Praxis gab es ein Problem: Zwölf Punkte zu ertasten und sich einen Reim darauf zu machen war ganz schön kompliziert. Die anderen Schüler*innen befassten sich darum nicht weiter damit – bei Louis hingegen bewirkte es genau das Gegenteil. Er vertiefte sich in das Thema und begann, die »Nachtschrift« weiterzuentwickeln.

Tagsüber besuchte der Musterschüler den Unterricht, nachts arbeitete er an seiner Blindenschrift. Mitunter schlief er kaum mehr als zwei Stunden.

 

1825 hatte Louis es geschafft. Der 16-Jährige hatte eine Schrift entwickelt, die seinen Vorstellungen entsprach. Insgesamt brauchte es nicht mehr als sechs Punkte, jeweils drei übereinander in zwei Reihen, so wie die Sechs bei einem Würfel. Je nach Anordnung – also je nachdem, welche Punkte zu ertasten waren und welche nicht – standen sie für einen Buchstaben oder eine Ziffer und ließen sich mit den Fingerspitzen gut erfassen.

 

Was für ein Durchbruch! Die von Louis entwickelte Schrift eröffnete völlig neue Möglichkeiten für blinde Menschen. Auf einmal war alles auch für sie lesbar. Außerdem konnten sie nun viel leichter schreiben. Die Mitschüler*innen von Louis waren begeistert. Trotzdem dauerte es noch, bis die Schrift sich durchsetzte.

An der Schule war sie zunächst verboten. Der neue Direktor der Schule, an der Louis nach seinem Abschluss selbst als Lehrer unterrichtete, wollte keine unterschiedlichen Schriften für Sehende und für Blinde.

 

Doch Louis ließ sich nicht entmutigen. Als Lehrer entwickelte er seine Schrift weiter und erfand ein System, das es blinden Menschen sogar ermöglichte, Noten zu lesen. Louis selbst war ein begeisterter und begabter Musiker. Er spielte Cello, später wurde er professioneller Organist. Er lebte das weiter, was ihm seine Eltern mitgegeben hatten: Dass er erblindet war, sollte ihn nicht daran hindern, sein Leben so zu leben, wie er es wollte.

 

Am Ende setzte sich die Schrift, die ein Schüler erfunden hatte, durch. Louis erlebte den internationalen Siegeszug allerdings nicht mehr. Er starb 1852 zwei Tage nach seinem 43. Geburtstag an Tuberkulose.

Doch seine Schrift lebte fort. 1878 wurde sie offiziell als internationale Blindenschrift anerkannt. Weitere Erfindungen folgten, wie etwa eine Punktschreibmaschine Anfang des 20. Jahrhunderts. Heute kann man sogar ein spezielles Gerät an Computer anschließen, das Texte im Internet für blinde Menschen lesbar macht.

 

1952, 100 Jahre nach Louisʼ Tod, wurde sein Lebenswerk besonders geehrt. Er erhielt seine letzte Ruhestätte im Panthéon in Paris – dort, wo Frankreichs große Persönlichkeiten begraben sind. Bei seinem letzten Geleit folgte dem Sarg eine Prozession blinder Menschen.

 

Die Hartnäckigkeit und die Willenskraft eines Schülers sind der Grund dafür, dass blinde Menschen heute Bücher und Zeitungen lesen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Als Gleiche – so wie Louis es sich erhofft hatte.

 

»Wir Blinden«, bekannte die taubblinde Autorin Helen Keller 1952, »verdanken Louis Braille ebenso viel wie die gesamte Menschheit Gutenberg.«2

 

Und der hat immerhin den Buchdruck erfunden.

 

LOUIS BRAILLE (1809 – 1852) war drei Jahre alt, als er sich in der Werkstatt seines Vaters am Auge verletzte. Mit fünf Jahren war er komplett erblindet. Weil die Blindenschrift, die er in der Schule lernte, nicht wirklich anwendbar war, entwickelte er schon zu Schulzeiten eine eigene Schrift, die nach ihm benannt wurde. Bis heute ermöglicht sie vielen blinden Menschen das Lesen.

 

 

 

GRETA THUNBERG

KLIMA-AKTIVISTIN

 

»Das ist die größte Krise, in der sich die Menschheit je befunden hat. Zuerst müssen wir dies erkennen und dann so schnell wie möglich etwas tun und versuchen, das zu retten, was noch zu retten ist.3«

 

 

Vielleicht gehört es zu einem Leben wie dem von Greta Thunberg dazu, dass irgendwann der Tag kommt, an dem man weiß: Jetzt ist es genug. Jetzt reicht es. Jetzt muss sich etwas ändern. Jetzt.

Für Greta ist dieser Tag der 20. August 2018. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt. Sie hat ein weißes Schild gebastelt und gerade mal drei Worte darauf geschrieben: »Skolstrejk för klimatet«. »Schulstreik für das Klima«.

Es ist dieser extrem heiße, dürre Sommer. Greta nimmt ihr Schild und stellt sich vor das schwedische Parlament in Stockholm, statt wie sonst zur Schule zu gehen. Es sind noch drei Wochen, bis am 9. September in Schweden gewählt wird. Bis dahin protestiert sie jeden Tag, danach einmal in der Woche – dies wird der Beginn der »Fridays for Future«. Denn es muss sich etwas ändern. Jetzt.

 

In der Schule hatte Greta zum ersten Mal vom Klimawandel gehört. Da war sie acht Jahre alt. Sie erfuhr, dass das Verhalten der Menschen dazu führt, dass die Erde sich erwärmt, die Polkappen schmelzen und der Meeresspiegel steigt. Das war lebensgefährlich. Trotzdem unternahm niemand etwas dagegen, jedenfalls nicht so richtig.

Greta verstand das nicht. Sie begann, sich zu informieren. Sie las Artikel um Artikel, Buch um Buch, sie studierte Statistiken, schaute sich Filme an, recherchierte im Internet. Sie erfuhr, dass es Überschwemmungen geben würde, schwere Unwetter, unbändige Stürme, Waldbrände und Dürren. Es würde Hungersnöte geben. Irgendwann würde kein Mensch mehr auf der Erde leben können.

Irgendwann war gar nicht mehr so weit weg.

Diese Erkenntnis machte Greta depressiv. Sie fürchtete um die Zukunft des Planeten und um ihre eigene Zukunft. Greta stellte das Reden ein, verließ kaum noch das Haus und aß immer weniger.

 

In der Schule war sie schon immer die Außenseiterin, eine, die die anderen nicht verstehen und auch nicht richtig leiden konnten. Im Klassenzimmer saß sie allein in der letzten Reihe. Sie fühlte sich, als sei sie unsichtbar.

Nun fingen ihre Mitschüler*innen an, sie regelrecht zu mobben. Greta wurde immer einsamer, es ging ihr zunehmend schlechter. Ihre Eltern, die Opernsängerin Malena Ernman und der Schauspieler Svante Thunberg, machten sich große Sorgen. Die beiden rannten mit ihr von Arzt zu Arzt, um endlich herauszufinden, was los war mit ihrer älteren Tochter. Die Diagnose lautete schließlich: Asperger Syndrom, eine Form des Autismus. Im Februar 2019 sagte Greta in einem Interview:

 

»Ohne Asperger wäre das hier nicht möglich.«4

 

Mit »Das hier« meinte sie, dass sie nicht länger wegschaute, sich nicht länger vertrösten ließ. Mit »Das hier« meinte sie, dass sie selbst aktiv wurde und sich durch nichts und niemanden davon abhalten ließ. Mit kleinen Schritten fing Greta an. Weil sie inzwischen wusste, wie schlecht es der Umwelt geht, und weil sie dieses Wissen nicht einfach ausknipsen konnte wie eine Lampe, schaltete sie zu Hause das Licht aus, wann immer es ging, um Strom zu sparen. Sie begann, sich vegan zu ernähren, ging nicht mehr sinnlos shoppen, sondern fragte sich genau, was sie brauchte. Greta tauschte sich mit Klimaforscher*innen aus und wurde selbst zur Expertin. Sie weigerte sich, ein Flugzeug zu benutzen. Sie brachte ihre Eltern und ihre jüngere Schwester dazu, sich ihrer nachhaltigen Lebensweise anzuschließen. Was sie im Kleinen, in ihrer Familie, geschafft hatte, wollte Greta auch im Großen verändern. Sonst, sagte sie, könne sie nachts nicht mehr schlafen.

 

Darum stellte Greta sich Freitag für Freitag mit ihrem Schild vor das schwedische Parlament in Stockholm. Unerschütterlich. Ungerührt. So sah es zumindest aus. Ganz sicher war sie wild entschlossen:

 

»Da niemand sonst etwas tut, habe ich das Gefühl, das hier tun zu müssen.«5

 

Es hatte etwas von Notwehr. So begann ihr Kampf gegen Klimaausbeutung und Ignoranz für eine Zukunft mit Zukunft.

 

Erst stand Greta allein auf dem Platz im Herzen Stockholms, dann stellten sich andere Schüler*innen zu ihr und streikten mit. Mit ihrer Konsequenz und Kompromisslosigkeit inspirierte und aktivierte Greta eine ganze Generation weltweit. Ihre Generation. Wo auch immer Jugendliche nach der Initialzündung für ihre Proteste gefragt wurden, fiel Gretas Name. In Australien, Belgien, Deutschland, Kanada, der Schweiz, sogar in Ländern wie Polen und Russland, in denen Klimakrise und Umweltschutz in der Öffentlichkeit bislang kaum eine Rolle gespielt hatten, wurde Greta zur Symbolfigur der »Fridays for Future«-Bewegung. Inzwischen demonstrierten weltweit Millionen Menschen.

 

Zugleich legte Greta sich mit den Mächtigen der Welt an. Die Erwachsenen, fand sie, haben versagt. Sie sind verantwortungslos und feige. Sie sind nicht vernünftig, sondern maßlos. Auch den Politiker*innen, auch denen, die an den Schalthebeln sitzen, geht es vor allem um die eigenen Vorteile, darum, ihren Luxus zu erhalten, ihren Reichtum zu vermehren, ihre Macht. Ganz egal, wohin das führt.

Im Dezember 2018 reiste Greta zur 24. UN-Klimakonferenz nach Katowice in Polen. Sie sprach mit UN-Generalsekretär António Guterres. Sie hielt eine Rede. Sie las den Erwachsenen die Leviten:

 

»Mein Name ist Greta Thunberg. Ich bin 15 Jahre alt und komme aus Schweden. Ich spreche im Auftrag von »Climate Justice Now«. Viele Menschen glauben, dass Schweden nur ein kleines Land ist und es nicht wichtig sei, was wir tun. Ich aber habe gelernt, dass man niemals zu klein ist, um einen großen Unterschied machen zu können. Wenn ein paar Kinder es schaffen, Schlagzeilen auf der ganzen Welt zu bekommen, indem sie einfach nicht zur Schule gehen, dann stellen Sie sich mal vor, was wir alles erreichen könnten, wenn wir es wirklich wollten. Aber um das zu tun, müssen wir Klartext reden, egal, wie unangenehm das auch ist.«6

 

Und Klartext reden – das wird Greta weiterhin. Denn wie kann es sein, dass zum 24. Mal ein Weltklimagipfel stattfindet und sich so gut wie nichts verbessert hat? In Windeseile verbreitete sich ihre Rede über YouTube und andere Netzwerke. Greta formulierte klare Ziele: Die Klimakrise sollte als existenzielle Bedrohung anerkannt und entschieden dagegen vorgegangen werden.

Von der Regierung ihres Landes forderte sie, das »Pariser Klimaabkommen« einzuhalten. Dieses Übereinkommen hatten 197 Vertragsparteien am 12. Dezember 2015 unterschrieben. Sie hatten sich damit zu mehr Klimaschutz verpflichtet. Zum Beispiel sollte die globale Erwärmung auf zwei Grad begrenzt werden, indem jedes Land seine Treibhausgas-Emissionen senkt. Grob gesprochen heißt das, dass alle in Eigenverantwortung dafür sorgen, deutlich weniger Dreck und Abgase in die Luft zu pusten. Schon zum Zeitpunkt der Unterzeichnung 2015 war klar, dass das Ziel zu niedrig gesteckt war. Zwei Grad waren zu wenig. 1,5 Grad wären deutlich besser für den Planeten Erde.

Trotzdem. Wenn man versucht nachzuvollziehen, wie kompliziert es war, die Mitgliedstaaten überhaupt zu dieser Übereinkunft zu bewegen, wenn man weiterhin sieht, dass die USA und Brasilien inzwischen von ihrer Zusage zurückgetreten sind, wird schnell klar, dass das »Pariser Klimaabkommen« bei allen Mängeln eben doch ein Erfolg war. Es war ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung – aber natürlich nur, wenn die einzelnen Staaten sich an ihre Zusagen hielten.

Genau das passierte nicht.

 

Greta forderte deshalb, dass wohlhabendere Länder wie Schweden, die eigenen Treibhausgas-Emissionen um 15 Prozent senken. Von den Industrienationen forderte sie, innerhalb der nächsten zehn bis zwölf Jahre ihre Emissionen auf null Prozent zu senken. Ihrer Meinung nach waren das nicht nur Fragen des Umweltschutzes, sondern genauso um Gerechtigkeit. Es konnte doch nicht angehen, fand Greta, dass die Armen arm bleiben und die Reichen immer reicher werden. Es konnte nicht angehen, dass Menschen weiterhin weltweit für den Wohlstand weniger bezahlen. Es konnte nicht angehen, dass wirtschaftlicher Erfolg immer gewinnt und mehr zählt als alles andere. Aber es ging an. Es ging weiter wie gehabt.

 

Darum reiste Greta im Januar 2019 in die Schweiz, um beim Weltwirtschaftsforum in Davos zu sprechen. Auch dort setzte sie sich mit ihrem Protestschild in den Schnee. Auf der Fahrt paukte sie Mathe und Vokabeln.

Die Erkenntnisse der Wissenschaft, die Warnungen des Weltklimarates sprach sie laut aus, in Davos genauso wie vor dem Umweltausschuss des Europaparlaments in Straßburg oder vor dem Britischen Parlament in London.

 

Weil Greta auf keinen Fall fliegen wollte, reiste sie, wo auch immer sie auftrat und sich einmischte, mit dem Zug an, mit dem Elektroauto – oder mit einer Rennyacht, so wie im Sommer 2019 zum Klimagipfel der Vereinten Nationen in New York. Das rief ihre Kritiker*innen auf den Plan, denn irgendwer musste die Yacht schließlich zurückbringen, und der Dokumentar-Filmer, der die abenteuerliche Reise aufgenommen hatte, hatte auch keine Zeit für umständliche Rückfahrten – und stieg in ein Flugzeug. Am Ende, so hieß es, wäre es weitaus umweltschonender gewesen, wenn Greta und ihr Vater einfach geflogen wären: nur zwei Menschen statt einer Handvoll. War das alles also nur eine aufwendige Inszenierung gewesen? Ein PR-Gag? Und wie war das mit Klimaschutz zu vereinbaren?

 

Das Netz, das so wichtig war für Greta, für die Verbreitung ihrer Ideen und ihres Kampfes, wurde nun Forum übler Beschimpfungen und Beleidigungen. Sie sei ja nur ein Kind, nur ein Mädchen. Sie solle gefälligst zur Schule gehen, die Klappe halten und die Politik den Erwachsenen überlassen. Und überhaupt: Sie würde doch nur die Pferde scheu machen und Panik verbreiten. Das waren die harmloseren Attacken.

 

Trotzdem gab Greta nicht auf. Auch dann nicht, als der amerikanische Präsident Donald Trump sie in New York links liegen ließ und der russische Staatspräsident Wladimir Putin sich über sie lustig machte. Die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Angela Merkel, fand zwar freundliche Worte – an der deutschen Umweltpolitik aber änderte sich viel zu wenig.

 

Greta nahm weiterhin an Protestveranstaltungen auf der ganzen Welt teil. Mit jugendlichen Mitstreiter*innen tauschte sie sich aus, sie machten sich gegenseitig Mut. Wenn sie es schaffte, reiste sie zu Demonstrationen und marschierte mit. Nachdem sie die Regelschulzeit mit Bestnoten abgeschlossen hatte, hängte sie ihre weitere Schulbildung vorerst an den Nagel. Der Kampf für die Umwelt war ihr wichtiger. Erst 2020 will sie aufs Gymnasium gehen.

Für diesen Einsatz wurde sie vielfach geehrt. Das amerikanische »Time Magazine« nahm Greta in die Liste der 25 einflussreichsten Teenager 2018 und in die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten 2019 auf. Anlässlich des Weltfrauentages 2019 wurde sie in Schweden zur »Frau des Jahres« gewählt. Am 17. April 2019 nahm sie an der Generalaudienz von Papst Franziskus in Rom teil – mit dabei war wieder ihr inzwischen weltberühmtes Protestschild. Greta wurde mit nationalen und internationalen Umweltpreisen ausgezeichnet. Die Preisgelder gab sie an Organisationen weiter, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzen. 2019 wurde sie mit dem »Alternativen Nobelpreis« ausgezeichnet und für den »Friedensnobelpreis« vorgeschlagen.

 

Heute belagern Menschen aller Generationen aus aller Welt den Platz vor dem Parlament in Stockholm, wenn Greta streikt. Sie wird abgeschirmt wie eine Profi-Politikerin. Heute vergeht kaum ein Tag, an dem nicht über sie berichtet wird. Mal ist sie dann das kleine Mädchen mit den streng geflochtenen Zöpfen, mal wird ihr Pippi-Langstrumpf-Power attestiert. Es schlägt ihr aber auch blanker Hass entgegen. Wie im Oktober 2019 in Rom: Da wurde eine Puppe, mit Zöpfen und gelbem Regencape unverkennbar Greta, an einer Brücke aufgeknüpft. Wieder andere schreiben ihr etwas zwischen Heiliger, Heilsbringerin und Weltenretterin zu.

 

Denn auch das gehört zu unserer Zeit: dass der Hype um eine Person so groß wird, dass das eigentliche Anliegen aus dem Blick gerät. Greta Thunberg hat es im Sommer 2018 auf ein kleines weißes Schild geschrieben: »Skolstrejk för klimatet«. »Schulstreik für das Klima«.

Aus dem unsichtbaren Mädchen aus der letzten Reihe ist eine prominente Klima-Aktivistin geworden, die hoch konzentriert ihr Ziel verfolgt und das Wort ergreift, wo auch immer sie kann: für ihre gute Sache, die die Sache aller sein sollte. Für das Klima.

 

GRETA THUNBERG wurde am 3. Januar 2003 in Stockholm geboren. Am 20. August 2018, einem Freitag, startete sie vor dem schwedischen Parlament in Stockholm ihren Protest: »Schulstreik für das Klima«. Es wurde der Beginn der »Fridays for Future«-Demonstrationen. Inzwischen machen Millionen Schüler*innen mit. Unter dem Hashtag #fridaysforfuture gehen sie weltweit für den Klimaschutz auf die Straße.