Die amerikanische Originalausgabe, die dieser Übersetzung zugrunde liegt, erschien erstmals 1985 unter dem Titel The Image and Other Stories bei Farrar, Straus and Giroux, New York.

Isaac Bashevis Singer

Ein Tag des Glücks

und andere Geschichten von der Liebe

Aus dem Amerikanischen von Ellen Otten

Suhrkamp

Der Ratgeber

In den Jahren, in denen ich als Ratgeber an einer jiddischen Zeitung in New York arbeitete, hörte ich viele phantastische Geschichten. Die Ratsuchenden waren in der Regel Leser, nicht Schriftsteller. Aber einmal war der Ratsuchende ein Dichter, der von Beruf Buchhalter war, den ich oft bei den Versammlungen des Vereins jiddischer Schriftsteller wie auch in der literarischen Cafeteria am East Broadway getroffen hatte. Er hieß Morris Pintschower – ein kleiner Mann mit gelblichen Haarbüscheln um die Glatze. Er hatte eingefallene Backen, ein spitzes Kinn, eine kurze Nase und bernsteinfarbene Augen. Morris Pintschower kleidete sich wie ein altmodischer Künstler aus Europa. Er trug einen breitrandigen Hut, einen flatternden Schlips und selbst im Sommer Gamaschen über seinen Schuhen. Pelerinen – lange Umhänge für Männer – waren schon viele Jahre aus der Mode gekommen, aber Morris Pintschower trug immer eine, wenn er zu unseren literarischen Versammlungen kam. Er hatte sie zu Anfang des Jahrhunderts aus Warschau mitgebracht. Als er mein Büro betrat, sagte er zu mir: »Sie sind erstaunt, was? Ich bin auch einer Ihrer Leser, und ich habe das Recht, Ihren Rat zu erbitten wie alle anderen. Oder nicht?«

»Setzen Sie sich. Was kann ich Ihnen sagen, das Sie nicht selbst wissen?«

»Ach, es ist nützlich, Dinge zu besprechen. Was ist schließlich die Psychoanalyse? Und warum sind Katholiken so begierig zu beichten? Und was ist die Literatur? Eine Anzahl großer Schriftsteller nannte ihre Werke Bekenntnisse: Rousseau, Tolstoi, Gorki. Ich liebe Strindbergs ›Beichte eines Toren‹. Es gibt in allen Bekenntnissen einen törichten Zug, meine ich. Sie haben gehört, was mir zugestoßen ist, nehme ich an.«

Morris Pintschower lächelte traurig und entblößte zwei Reihen gelblicher Zähne. Ich wußte von seinem Fall durch den Klatsch im Café Royal. Seine Frau, Tamara, eine Dichterin, die nie einen Verleger gefunden hatte, hatte Morris verlassen und lebte mit einem Mann namens Mark Lenschner zusammen, einem bekannten Schriftsteller und Kommunisten, dessen Frau drei Selbstmordversuche gemacht hatte, weil er sie dauernd betrogen hatte. Mark Lenschner war als Schnorrer und Zyniker bekannt. Tamara war klein, fett, mit einem hohen Busen. Ihr Haar war in Locken gedreht und karottenfarben getönt. Auf ihrer Oberlippe wuchs ein flaumiger weiblicher Bart. Sie erzählte kleine Anekdoten, über die niemand außer ihr lachte. Seit Jahren führte sie Krieg gegen die Redakteure jiddischer Zeitungen und Zeitschriften und verfluchte sie hinter ihrem Rücken mit den gemeinsten Worten. Was Mark Lenschner an ihr fand, konnte niemand verstehen. Einige Besucher der literarischen Cafeteria behaupteten, was er an ihr finde, sei der Notgroschen von ein paar tausend Dollar, die sie gespart hatte durch den Verkauf ihrer privat veröffentlichten Gedichte, die sie im Café Royal und in den Hotels in den Catskills feilgeboten hatte. Das Paar hatte keine Kinder. Ich hörte mich zu Morris sagen: »Ja, ich habe etwas über die Sache gehört.«

»Dann wissen Sie wahrscheinlich auch, daß Tamara jetzt ganz offen, vor aller Welt, mit Lenschner zusammenlebt«, sagte Morris.

»Ja, auch das habe ich gehört.«

»Es ist so weit gekommen, daß Humoristen Witze über mich in den Zeitungen veröffentlichen.«

»Idioten. Ich lese die Witzseite nie.«

»Mein lieber Freund, ich weiß sehr gut, was die Leute in einem wie mir sehen – einen Schlemihl, einen Hahnrei, einen Mann, dem man Hörner aufgesetzt hat. Sie wissen so gut wie ich: Wenn jemand eine Ungerechtigkeit begangen hat, dann lassen die Leute statt an dem Schuldigen an dem Opfer kein gutes Haar mehr. Es ist nicht das erstemal, daß Tamara mich gegen irgendeinen Scharlatan ausgewechselt hat. Ich habe gelitten und geschwiegen, nicht weil ich glaube, daß man auch noch die andere Wange hinhalten soll, sondern weil ich das Unglück habe, sie zu lieben. Die Liebe ist eine Krankheit – etwas Pathologisches, das nicht zu erklären ist. Wenn ein Mensch einen Tumor hat, so ist er nicht nur damit geschlagen – er muß ihn auch noch nähren. Jedenfalls ist es so, daß ich weder essen noch schlafen kann, seitdem Tamara mich verlassen hat. Ich mache schwere Fehler in meiner Arbeit, und ich fürchte, meine wenigen Klienten auch noch zu verlieren. Seit dieses Durcheinander begann, habe ich nicht eine einzige Zeile schreiben können. Was ich Ihnen sagen möchte, wird Sie vielleicht abstoßen, aber ich hoffe, daß Sie mehr Verständnis für menschliche Schwächen haben als die Kiebitze im Café Royal. Seit sie mich verlassen hat, brennt meine Liebe zu dieser verräterischen Frau mit einem Feuer, von dem ich fürchte, es könnte mich physisch verzehren. Ich habe ein gewisses Interesse für das Übersinnliche. Es sind Fälle bekannt, in denen Menschen sich spontan entzündet haben und verbrannt sind. Natürlich spotten Rationalisten über solche Ereignisse, weil sie nicht in ihre Klischees passen. Wenn Gefühle das Blut ins Gesicht treiben können, Verstopfung, Diarrhöe, Ekzeme und hohen Blutdruck erzeugen können, warum sollten sie dann nicht auch ein Feuer verursachen? Habe ich recht oder nicht?«

»Ich bin bereit, allem zuzustimmen«, sagte ich. »Aber womit kann ich Ihnen helfen?«

»Mein Freund, ich komme nicht zu Ihnen, um mich zu beschweren, sondern um Ihren Rat zu erbitten«, sagte Morris Pintschower. »Wenn Sie hören, was ich Sie fragen möchte, dann werden Sie davon überzeugt sein, daß ich den Verstand vollkommen verloren habe. Aber auch Geisteskrankheit ist menschlich. Die Geschichte geht folgendermaßen. Dieser Mark Lenschner, dieser Auswurf von einem Menschen, und seine Frau Nescha – eine Heilige von einer Frau – hatten eine Wohnung, für die er nie Miete zahlte, außer vielleicht für den Monat, in dem sie eingezogen waren. Fragen Sie mich nicht, wie er das anstellte. Der Besitzer des Hauses war so etwas wie ein Jiddischist und noch dazu ein Linker. Er spielte die Rolle eines Menschenfreundes und Mäzens. Es war ein elende Wohnung. Die Decke war undicht, und wenn es regnete, mußte Nescha Eimer und Schüsseln auf den Boden stellen. Aber was kümmerte das Lenschner. Er war selten da – zog immer mit irgendwelchen Flittchen herum. Solange der Hausbesitzer lebte, blieb es so. Als er gestorben war, prozessierten die Erben gegen Lenschner und verlangten die Miete, und jetzt sind sie dabei, ihn mitsamt seinem Gerümpel hinauszuwerfen. So bösartig er auch ist, er kann Nescha nicht einfach auf die Straße setzen lassen. Außerdem hat er noch seine Bücher und Manuskripte dort. Vor einigen Tagen bekam ich einen Anruf von Tamara. Ich war ganz erschlagen. Sie hat mich nie angerufen, seitdem sie mich verlassen hat. Ich will es kurz machen. Mark Lenschner, dieser Schuft, hat ihr vorgeschlagen, daß er, Lenschner, und Nescha und Tamara zu mir ziehen sollten. Ich habe eine große Wohnung, und er kam auf die Idee, daß wir vier alle zusammenleben sollten. Er möchte, daß wir uns versöhnen, hat er gesagt. Er würde auch gern endlich seine Memoiren oder weiß Gott was noch schreiben. Ich flehe Sie an, sehen Sie mich nicht so ironisch an. Ich weiß genau, daß Lenschner nicht zu trauen ist. Erst hat er mir meine Frau weggenommen, und jetzt versucht er, mir meine billige Wohnung wegzunehmen – ein gutes Geschäft. Andererseits, was habe ich zu verlieren? Da ich ohne Tamara nicht leben kann, kann ich so wenigstens mit ihr unter einem Dach wohnen. Wenn ein Mann unter dem Galgen steht mit der Schlinge um seinen Hals und man ihm die gute Botschaft bringt, daß die Hinrichtung verschoben sei, dann stellt er keine Fragen und auch keine Bedingungen. Nescha ist eine bescheidene Frau, sanft wie eine Taube. Sie wird tun, was er ihr sagt. Was ist Ihre Meinung?«

Eines von Morris' Augen schien zu weinen, das andere lachte.

Ich fragte: »Warum wollen Sie meine Meinung wissen? Sie werden meinem Rat doch nicht folgen.«

»Möglich. Trotzdem möchte ich ihn hören.«

»Meine Ansicht ist die: Eine Liebe dieser Art ist die schlimmste Form der Sklaverei. Ich glaube immer noch, daß der Mensch die freie Wahl hat.«

»Was? Ich wußte, Sie würden etwas Derartiges sagen. Wie auch immer, vielleicht hatte Spinoza recht, daß alles vorbestimmt ist. Vielleicht ist vor Billionen von Jahren die Entscheidung gefallen, daß Tamara, Nescha und Mark Lenschner und ich zusammenleben sollen, ganz gleich wie unsinnig und pervers die Sache anderen erscheinen mag. Vielleicht ist die freie Entscheidung genau das, was Spinoza darin sah, eine Illusion.«

»Wenn die freie Entscheidung eine Illusion ist und alles vorbestimmt ist, warum hat er dann eine ›Ethik‹ geschrieben?« fragte ich. »Was hat es für einen Sinn, die amor dei intellectualis, politische Freiheit und alles andere zu predigen, wenn wir nichts als Mechanismen sind? Dieser Spinoza war so voller Widersprüche, wie der Granatapfel Kerne hat.«

»Und was war Kant?« fragte Pintschower. »Und was Hegel? Und alle die anderen Philosophen? Sie haben recht. Da ich wußte, daß ich nicht auf Sie hören würde, hätte ich nicht Ihren Rat suchen sollen. Aber ein Mann in meinem Geisteszustand kann nicht der Logik entsprechend leben. Sie wissen bestimmt, daß Sehnsucht eine unerträgliche Qual ist. Es ist durchaus möglich, daß die Hölle aus Sehnsucht besteht. Die Bösen werden nicht auf einem Nagelbrett geröstet, sie sitzen auf bequemen Stühlen und werden mit Sehnsucht gefoltert.«

»Nach wem sollen sie sich denn sehnen?«

»Nach denen, die sie auf der Erde zurückgelassen haben – jeder nach seiner Tamara oder seinem Lenschner. Lassen Sie es sich gutgehen, und verzeihen Sie mir.« Morris Pintschower streckte mir eine weiche und feuchte Hand entgegen. Er lächelte, zwinkerte und sagte: »Ich danke Ihnen für Ihren Rat. Adieu.«

Ein Jahr ungefähr war vergangen, und ich hatte gehört, daß Mark Lenschner eine Einladung in die Sowjetunion erhalten hatte, dorthin gereist war und Nescha zurückgelassen hatte. Stalin war noch am Leben, aber in Interviews behauptete er jetzt, daß Kommunismus und Kapitalismus nebeneinander bestehen könnten. Man wußte schon, daß er die meisten der jiddischen Schriftsteller in Rußland liquidiert hatte, obwohl die kommunistische jiddische Zeitung in New York ihren Lesern versicherte, daß all diese Anklagen von den Feinden des Volkes, den Lakaien des Faschismus verbreitet würden. Die jiddischsprechenden Kommunisten sammelten noch immer Beiträge für die nicht existierende autonome jüdische Region in Birobidschan. Man hatte mir erzählt, daß die Schriftsteller in Moskau Lenschner einen großen Empfang bereitet hatten und daß er von dort nach Birobidschan weitergeflogen war. Das geschah während der Zeit, als die jüdischen Ärzte in der Sowjetunion angeklagt worden waren, mehrere russische Führer vergiftet zu haben. Ich war von New York weggezogen und hatte Morris Pintschower fast vergessen. Ich hatte in Israel, in Frankreich und in der Schweiz gelebt. Jemand in Tel Aviv oder in Paris hatte mir erzählt, daß Morris Pintschower gestorben sei, oder hatte vielleicht einen ähnlichen Namen erwähnt. Als ich nach einigen Jahren nach New York zurückkehrte, ging ich nicht mehr in das Büro meiner Zeitung am East Broadway, sondern schickte meine Manuskripte mit der Post. Ich hatte aufgehört, zu den Versammlungen der Jiddischisten und ihren Vorträgen zu gehen. Eines Tages erhielt ich einen Anruf von der Sekretärin des Redakteurs. Der Setzer hatte eine Seite von einem meiner Artikel verloren, und ich mußte zum East Broadway fahren und die fehlende Seite ersetzen. Um dorthin zu gelangen, mußte ich drei Busse benutzen. Der dritte fuhr vom Union Square zum East Broadway.

Ich fuhr durch eine Gegend, in der sich die Bevölkerung verändert hatte – Puertoricaner und Neger lebten jetzt dort statt der eingewanderten Juden. Alte Häuser waren abgerissen worden. Neue waren im Bau. Hier und da konnte man noch die Wände der früheren Wohnungen sehen, mit verblichenen Tapeten oder abblätternder Farbe. An einer dieser Wände hing ein Bild von Sir Moses Montefiore. Die Kugel der Abbrucharbeiter schien die Wände durch leichte Berührung niederzureißen. Krane hoben Balken für die Neubauten. An einer der Ruinen hatten sich vier Katzen versammelt und hielten stumme Beratung ab. Ich hatte das Gefühl, unter den Trümmern seien Dämonen beerdigt – Kobolde und Teufelchen, die sich in der Zeit der großen Einwanderung nach Amerika hineingeschmuggelt hatten und durch den Lärm von New York und an dem Mangel an Jüdischkeit eingegangen waren.

Nachdem ich mein Manuskript in der Setzerei ergänzt hatte, entschloß ich mich, nicht mit dem Bus zurückzufahren, sondern zum Union Square zu laufen und von dort die Untergrundbahn nach Hause zu nehmen. Ich ging die Second Avenue entlang. Die literarischen Cafeterias gab es noch, aber das Café Royal, das lange Zeit ein Treffpunkt für Schriftsteller und Schauspieler gewesen war, hatte geschlossen, und an seiner Stelle war jetzt eine chemische Reinigung etabliert. Ich blieb vor einem Schaufenster stehen, das einige längst vergessene jiddische Bücher mit verblichenen Einbänden zeigte sowie Schallplatten alter jiddischer Lieder. Nach einiger Zeit ging ich weiter die Avenue entlang. Und wer kam mir entgegen? Morris Pintschower – klein, gebeugt, eingeschrumpft und schäbig gekleidet. Das wenige Haar, das noch auf seinem Schädel wuchs, war weiß geworden. Eine Spur von Gelb war noch in den Brauen sichtbar. Er schlurfte beim Gehen und stützte sich auf einen Stock. So viele meiner Kollegen waren in Amerika gestorben oder in Europa umgekommen, daß ich nicht wußte, wer am Leben und wer gestorben war. Er streckte mir eine knöcherne Hand entgegen und sagte: »Ich hoffe, Sie erkennen mich.«

»Ja.«

»Wir haben uns viele Jahre nicht gesehen. Obwohl wir in derselben Stadt wohnen, haben wir uns entfremdet. Um die Wahrheit zu sagen, New York ist keine Stadt, sondern ein ganzes Land. Trotzdem, ich war mit Ihnen in Kontakt – geistig, meine ich. Ich lese Sie. Schließlich, was ist denn ein Schriftsteller? Nur seine Werke. Ich habe zwei Gedichtbände veröffentlicht – privat, natürlich. Ich bezweifle, daß Sie sie zu sehen bekommen haben.«

»Wenn Sie sie mir schicken, so werde ich sie lesen. Es gibt ja kaum noch jiddische Buchhandlungen.«

»Ja, wir sind in Schwierigkeiten, aber der schöpferische Instinkt bleibt bis zum letzten Atemzug erhalten. Ich hätte Ihnen meine Arbeit geschickt, aber ich hatte Ihre Adresse nicht. Wenn ich Bücher an Ihre Zeitung schicke, so verschwinden sie. Es scheint, daß es immer noch Leute gibt, die scharf darauf sind, ein jiddisches Buch zu stehlen. Das allein ist ein Wunder.«

»Ja, das ist wahr«, murmelte ich.

»Ich glaube, Sie erinnern sich nicht an meinen Namen. Ich bin Morris Pintschower.«

»Ich erinnere mich sehr gut an Sie. Ich habe oft über Sie nachgedacht«, sagte ich.

»Wirklich? Das ist gut zu wissen.«

Ich wollte ihn nach seiner Frau fragen, aber ich hatte ihren Namen vergessen. Außerdem hatte ich zu oft die gleiche Auskunft bekommen – »gestorben«. Als ob Morris Pintschower meine Gedanken gelesen hätte, sagte er: »Tamara ist nicht mehr am Leben. Sie ist vor zwei Jahren gestorben. Sie bekam Krebs und verließ mich. In der alten Heimat gab es etwas wie galoppierende Schwindsucht. Man könnte sagen, Tamara ist an galoppierender Krebskrankheit gestorben. Eines Tages wurde sie krank, und nach ein paar Wochen war alles vorbei. Sie verließ dieses Tal der Tränen wie eine Heilige. Vielleicht war es gar nicht Krebs. Wenn die Ärzte keine Diagnose stellen können, dann nennen sie es Krebs. Gott schickt mehr Krankheiten auf die Welt, als die Mediziner benennen können. Erst gestern las ich, daß Millionen von Viren in einem Kubikzentimeter Gewebe leben können. Und trotzdem bestehen sie aus vielen Molekülen. Der Mikrokosmos ist noch viel phantastischer als der Makrokosmos. Inmitten all dieser Wunder kommt der Engel des Todes und löscht alles aus. Darf ich fragen, wohin Sie gehen?«

»Union Square«, antwortete ich.

»Gehen Sie zu Fuß?«

»Ja, ich gehe zu Fuß.«

»Darf ich Sie begleiten?«

»Ja, mit Vergnügen.«

Wir gingen, und Morris hielt alle paar Schritte inne. Ich wollte ihn nach Lenschners Frau fragen, aber ich wußte, daß er es mir früher oder später erzählen würde. Er sprach zu mir und zu sich selbst: »Eine ganze Welt ist verschwunden, was? Als ich ein Junge war, hatte die jiddischistische Bewegung erst begonnen. Unsere Klassiker waren alle noch am Leben – Mendele, Scholem Alejchem, Perez. Ich erinnere mich recht gut an die Konferenz in Czernowitz. Was für ein Optimismus! Es war wie ein neuer Frühling. Als ich nach Amerika kam, gab es nicht ein jiddisches Theater, sondern zwanzig. Diese Gegend hier kochte wie ein Kessel mit Ideen und Idealen. Jetzt ist alles verändert, alles ist anders – die Menschen, die Häuser, Geschäfte und der Stil. Vor einiger Zeit lag ich in der Nacht wach, und mir fiel ein: Wenn es einen Gott gibt und er ewig existiert, was kann er alles in dieser Zeit erlebt haben? Was würde geschehen, wenn er sich entschließen würde, seine Memoiren zu schreiben? Wo würde er beginnen? Würde er eine Billion Jahre zurückgehen? Zehn Billionen? Hundert Billionen? Es ist gespenstisch, über solche Dinge nachzudenken – besonders in der Nacht, wenn man nicht schlafen kann. Ja, und wer würde sein Verleger sein? Er würde sein eigener Verleger sein müssen, genauso wie ich.«

Morris Pintschower lachte und entblößte zwei Reihen neuer falscher Zähne. Er sagte: »Vielleicht würden Sie gern die Avenue B. entlanggehen. Dort wohne ich.«

»Allein?«

»Nein, mit Nescha, Lenschners Witwe.«

»Aha.«

»Sie haben wahrscheinlich gehört, daß Lenschner ohne sie nach Rußland gegangen ist. Er versprach, sie in Stalins Paradies nachkommen zu lassen, aber was bedeutet einem Mann wie Lenschner ein Versprechen? Sie bekam eine Postkarte von ihm – nicht aus Birobidschan, sondern aus Moskau. Die Einladung war nur eine Falle gewesen, um ihn loszuwerden. Was sie gegen ihn hatten, weiß ich nicht. Er diente ihnen treulich. Er verteidigte all ihre Missetaten. Bis zum letzten Tag versicherte er allen in New York, daß die jiddischen Schriftsteller in Rußland eitel Freude erlebten – Bergelson, Markisch, Fefer, Charik, Kulbak. Er beschimpfte uns alle hier in Amerika, weil wir den großen Wohltäter, den Genossen Stalin, verdächtigten. Lenschner wußte wohl, daß er log, aber er hoffte, diese schamlosen Lügen würden seine Haut retten, falls die Genossen in Rußland ihn der Abweichung anklagen sollten. Wer weiß, was in den Gehirnen solcher Schufte vor sich geht? Da er wußte, was ihn dort erwartete, was mußte er dorthin gehen? Im griechischen Drama gibt es das: Der Held weiß, daß er in den Abgrund stürzen wird, aber das Schicksal zwingt ihn dazu, den Tod zu wählen, da er sich nicht helfen kann. Vielleicht erinnern Sie sich daran, daß ich einmal zu Ihnen gekommen bin, um Sie um Ihren Rat zu bitten. Ja, Tamara und Lenschner und Nescha zogen zu mir in meine Wohnung, und ein paar Wochen lang glaubte ich, glücklich zu sein. Ja, Sklaverei. Unsere Gefühle regieren uns. Sie fallen uns an wie Räuber und spotten all unseren Entschlüssen. Meine Nachbarn machten sich über mich lustig und klatschten über mich. War ich wirklich glücklich? Wir stürzen uns in das tiefste Leid und nennen es Vergnügen. Als Lenschner fortging, wurde ich sozusagen der König. Tamara kam, endlich ernüchtert, aus ihrer Verrücktheit zu sich. Wie lange kann man betrunken sein? Ich verzieh ihr. Hatte ich denn eine Wahl? Nichts ist so heftig wie die Heftigkeit der Liebe. Meine Theorie ist, daß der Mensch eine heimliche Liebschaft mit dem Engel des Todes unterhält.«

Wir blieben vor einem heruntergekommenen Haus stehen, und Morris sagte: »Hier wohne ich. In diesem Haus, im dritten Stock. Wir haben keinen Lift. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, die Treppen hinaufzusteigen. Jetzt, wo Tamara in der wahren Welt ist, ist Nescha mir alles geworden – Frau und Schwester und Mutter. Natürlich ist alles zwischen uns platonisch. Sie ist eine getreue Leserin von Ihnen.«

Wir betraten einen dunklen Eingang und stiegen die Treppen hinauf; auf jedem Absatz hielt Morris an und keuchte. Er deutete auf die linke Seite seiner Brust. »Die Pumpe will nicht mehr so recht funktionieren«, sagte er. »Sie hat das nun achtzig Jahre lang getan. Wie lange kann sie das noch? Genug ist genug.«

Im dritten Stock läutete Morris an seiner Wohnung, aber niemand kam. Er sagte: »Entweder ist sie nicht zu Hause oder sie hört nicht. Warten Sie. Ich habe einen Schlüssel.«

Wir betraten einen engen Korridor. Morris öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Es roch nach Staub, Medizin und etwas Ranzigem. Über einem zerrissenen Sofa, dessen Sprungfedern herausstachen, hing ein Porträt von Lenschner – jung, mit lockigem Haar, einem schwarzen Schnurrbart und leuchtenden Augen, die mit der Arroganz und der Selbstzufriedenheit jener blickten, die ein für allemal die Wahrheit gefunden haben. Morris Pintschower bemerkte: »Das ist er. Was Tamara in diesem Schwindler gesehen hat, werde ich nie verstehen. Aber sie hat ihn bis zu ihrem letzten Atemzug verteidigt. Was Nescha angeht, sie war eine echte Märtyrerin. Aber wo ist sie nun schon wieder hingelaufen? Wir sind nur zwei alte Leute, und sie kauft Lebensmittel ein, als ob wir zehn wären. Dreiviertel von allem wird fortgeworfen. Sie hat eine Art Kaufwahn. Wieviel können wir schon essen? Ein Stück Toast und ein Glas Tee genügt uns für den ganzen Tag. Dank Gott und der Sozialversicherung haben wir mehr als genug von allem. Setzen Sie sich. Was kann ich Ihnen anbieten?«

»Absolut nichts«, sagte ich.

»Nichts? Ein Mensch muß doch irgend etwas wollen.«

Lange Zeit saßen wir schweigend. Dann sagte Morris Pintschower: »Sie hatten recht damals. Ich hätte sie niemals aufnehmen sollen. Aber was würde ich jetzt ohne Nescha machen? Sie ist die einzige, die Tamara wirklich gekannt hat und Zeugin unserer großen Liebe war.«