Frida Skybäck

Der kleine Buchsalon am anderen Ende der Welt

Roman

Aus dem Schwedischen von Karoline Hippe und Nora Pröfrock

Insel Verlag

Für Tilda & Klara

1


Mittwoch, 29. Mai

Als Patricia Sloane den länglichen Briefkasten öffnet und die Tagespost herausholt, bemerkt sie den weißen Umschlag zunächst gar nicht. Sie klemmt sich den Stapel Briefe, Zeitungen und Werbebroschüren unter den Arm, klappt die kleine rote Fahne wieder herunter und geht zum Tor.

Obwohl noch Mai ist, liegt bereits eine drückende Hitze über Charlottesville. Die Wiese ist gelb und trocken und der Acker so ausgedörrt, dass sich rund um den Hof lange Risse im Erdboden gebildet haben.

Patricia legt die Hand auf den weißen Torpfosten. Ihr Arbeitstag im Sekretariat der Mackenzie Junior High war heute außergewöhnlich lang. Gleich am Morgen gab es einen Feueralarm, in der ersten Stunde, mitten im Sexualkundeunterricht der Achtklässler.

Patricia wusste sofort, dass es ein falscher Alarm war. Sie sah Dennis Rodd mit einem Feuerzeug in der Hand über den Korridor laufen. Doch aus Sicherheitsgründen mussten sie das Gebäude trotzdem räumen – und fünfhundert Jugendliche in Reih und Glied auf einem Fußballfeld versammeln zu müssen, kann man sich in etwa so vorstellen, wie eine aufgebrachte Bisonherde durch ein viel zu enges Gatter zu treiben.

Patricia massiert sich die schmerzende Schulter. Die Unterbrechung führte natürlich dazu, dass der Sexualkundeunterricht mit den Achtklässlern nicht zu Ende geführt werden konnte (genau wie alle anderen Unterrichtsstunden), worüber sich der Biologielehrer Mr. Alvarez furchtbar aufregte. Nun hätten die Schüler gerade einmal den ersten, rein informativen Teil seines Vortrags gehört, zeterte er, nicht aber den zweiten, in dem er auf die Konsequenzen eines – wie er es ausdrückte – »unverantwortlichen Umgangs mit dem Reproduktionssystem« eingehe, und er verlangte augenblicklich eine Stundenplanänderung, damit er die Unterrichtseinheit abschließen könne. Patricia hätte am liebsten erwidert, er solle mal über seinen eigenen unverantwortlichen Umgang mit Rasierwasser nachdenken. Doch dann konnte sie mit dem Mathematiklehrer der Klasse vereinbaren, dass Mr. Alvarez eine halbe Stunde von dessen Unterricht für seine Zwecke verwenden durfte.

Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zehn Uhr, und Patricia war mit ihren morgendlichen Aufgaben weit hinterher. Eine Dreiviertelstunde später, als gerade wieder Land in Sicht war, kam Rachel Morgan mit zwei Fingern in der Nase ins Sekretariat. Sie trug Sportkleidung, und oberhalb ihrer heruntergerutschten Kniestrümpfe waren Schürfwunden zu sehen.

»Slide-Tackling«, murmelte sie.

Unglücklicherweise war Patricia gerade so tief in einen ellenlangen Bericht des Direktors über den Materialverbrauch der Arbeitsgruppen vertieft, dass sie nur »Wie bitte?« antworten konnte, woraufhin das Mädchen die Finger aus der Nase nahm und das Blut nur so über die Fußmatte mit dem Willkommensschriftzug und dem Emblem der Schule spritzte.

Auf die Schnelle sah Patricia keine andere Lösung, als sich ihr Lieblingstuch vom Hals zu reißen und es Rachel ins Gesicht zu drücken, während sie nach der Schulkrankenschwester rief. Doch wie so oft war Mrs. Fletcher gerade auf einer Fortbildung, und am Ende musste Patricia sich gewaltsam Zugang zu deren Büro verschaffen. Als sie die arme Rachel eine ganze Weile später mit zwei Tampons in den Nasenlöchern wieder fortschickte, hatte es gerade zur Mittagspause geläutet.

»Wenn du wüsstest, was ich heute für einen Tag hatte«, sagt Patricia und begrüßt Barry, den großen Labrador der Familie, der ihr am Tor entgegenkommt. Barry schüttelt fröhlich den Kopf, und Patricia muss lachen. Ohne ihn wäre sie nie allein auf dem Hof in Mill Creek wohnen geblieben. Barry ist nicht nur ihr Wachhund, er leistet ihr auch Gesellschaft, wann immer sie die Einsamkeit überkommt.

Mit wedelndem Schwanz und kleinen, munteren Sprüngen begleitet er sie auf die Veranda, wo Patricia sich auf der blaugestrichenen Hollywoodschaukel niederlässt.

Von den Feldern her weht eine Brise und sorgt für angenehme Erfrischung, während Patricia die Post durchblättert und sie zu kleinen Stapeln sortiert. Alle Rechnungen auf einen, und die Reklame des nahe gelegenen Dorfladens auf die letzte Ausgabe von Ackerbau. Schließlich hält sie nur noch einen Brief in der Hand. Der Umschlag ist klein, die Adresse fein säuberlich mit schwarzer Tinte geschrieben, und der Poststempel stammt aus dem Ausland.

Mit forschendem Blick dreht Patricia das Kuvert um. Kein Absender. Sie bekommt nur selten handgeschriebene Briefe und denkt als Erstes, dass dieser hier eigentlich bei Tom und Eunice zwei Häuser weiter hätte landen sollen. Die beiden nehmen regelmäßig Austauschschüler bei sich auf, und in den letzten zehn Jahren haben Jugendliche aus Holland, Frankreich und Deutschland bei ihnen gewohnt, um das Leben an einer echten amerikanischen High School kennenzulernen. Patricia hat noch nie verstanden, warum Familien mit dem entsprechenden Kleingeld ihre Kinder ausgerechnet nach Mill Creek schicken, aber vermutlich können Bier-Pong und Flaschendrehen in einer englischsprachigen Umgebung durchaus lehrreich sein. Der Brief jedoch ist nicht an Tom und Eunice adressiert, sondern an sie.

Patricia versucht, den weißen Umschlag zu öffnen, doch er ist sorgfältig zugeklebt, und nach der Heimfahrt durch die Hitze hat sie Durst. Sie geht ins Haus, schenkt sich aus einer Karaffe im Kühlschrank ein Glas Eistee ein und nimmt bei der Gelegenheit ein Messer mit nach draußen, um den Briefumschlag aufzuschlitzen.

Drüben an der roten Scheune steht eine Tür offen und schlägt im Wind. Das Gebäude müsste mal wieder gestrichen werden – die Farbe ist ausgeblichen und blättert schon hier und da ab –, aber Patricia hat weder Zeit noch Geld, um sich darum zu kümmern.

Müde lässt sie den Blick über die Felder schweifen. Seit ihrer Kindheit hat sich an der Umgebung des Hofes nichts verändert. Die grünen Tabakpflanzen wehen im Wind, und dahinter, inmitten der leuchtenden Weizenhalme, glänzt der Getreidesilo des Nachbarn in der Sonne.

Patricia wedelt sich mit der Zeitung Luft zu. Ihre bescheidene Landwirtschaft konnte sich noch nie mit ihrem Nachbarn Henderson messen, und in den letzten Jahren hat sie den Betrieb Schritt für Schritt eingestellt. Der Großteil des Ackerlandes, das sie von ihren Eltern geerbt hat, ist inzwischen verkauft, sämtliche Kühe und Schweine versteigert, und selbst von den wenigen Gerätschaften, die in gebrauchtem Zustand noch etwas wert waren, hat sie sich getrennt. Ein Teil von ihr hätte die Tierhaltung gern fortgeführt, aber so ein Hof lässt sich allein nicht betreiben. Nun sind nur noch ein paar Hühner und ein kleiner Gemüsegarten übrig, in dem sie Kürbisse, Tomaten und Bohnen zieht, doch die Geräusche und der Geruch von Vieh fehlen ihr sehr.

Hin und wieder fragt sich Patricia, was wohl geschehen wäre, wenn sie den Hof verlassen hätte. Es war nie ihre Absicht, hierzubleiben, doch nachdem ihre jüngere Schwester Madeleine vor mehr als dreißig Jahren spurlos verschwunden war, konnte Patricia den Hof nicht einfach aufgeben.

Ihr Blick fällt auf die hölzerne Armlehne der Hollywoodschaukel, in die ein M und ein P eingeritzt sind, und sie muss seufzen. Als Kinder waren sie wie Pech und Schwefel. Sie verbrachten jede freie Minute zusammen, und als sie älter wurden, war Madeleine Patricias engste Vertraute. Nachdem Patricia von zu Hause ausgezogen war, rief sie ihre Schwester jeden Sonntag an. Sie konnten stundenlang miteinander telefonieren, auf dem Bett liegend, die Telefonschnur um den Finger gewickelt, und sich über die Ereignisse der vergangenen Woche austauschen. Jedes Mal, wenn Patricia von einem missglückten Date oder irgendeiner peinlichen Begebenheit am College berichtete, brach Madeleine in so lautes Gelächter aus, dass ihr Vater im Nebenzimmer an die Wand klopfte.

Deshalb war Patricias Freude nicht ungetrübt, als sie von dem Praktikumsplatz erfuhr, den Madeleine in einer Freikirche in einem kleinen schwedischen Ort bekommen hatte. Sie wusste zwar, dass dies eine Chance für ihre Schwester war, etwas von der Welt zu sehen und das Heimatland ihrer Mutter kennenzulernen, aber die Trennung fiel ihr dennoch schwer. Bald würde ein ganzer Ozean zwischen ihnen liegen.

Patricia schüttelt den Kopf. Die Erinnerung an die letzten gemeinsamen Minuten mit ihrer Schwester treibt ihr immer noch Tränen in die Augen. Patricia war damals diejenige, die sie zum Bahnhof nach Charlottesville fuhr. Madeleine war so glücklich. In ihren Augen funkelte die Vorfreude, und sie winkte fröhlich zum Abschied. Hätte Patricia gewusst, was geschehen würde, hätte sie Madeleine an der Abreise gehindert, doch so stand sie nur am Bahnsteig und winkte zurück.

Sanft fährt sie mit den Fingern über die Inschrift auf der Hollywoodschaukel. Es ist ein eigenartiges Gefühl, einen geliebten Menschen zu verlieren, und noch eigenartiger ist es, nicht zu wissen, was eigentlich mit ihm geschehen ist. Madeleine war gerade einmal ein paar Monate in dem kleinen Ort, als sie verschwand. Eines Tages packte sie einfach ihren Koffer und verließ die Kirche, ohne irgendwem zu sagen, wohin sie wollte, und seither ward sie nicht mehr gesehen.

Patricia schiebt die Gedanken beiseite und wendet sich wieder dem Brief zu. Ihre Lesebrille steckt noch in der Tasche, doch sie hat jetzt keine Lust, sie hervorzuholen. Mit zusammengekniffenen Augen mustert sie den Umschlag genauer. Auf der Briefmarke ist in Blaugrau die Silhouette einer Königin mit Krone abgebildet. Während ihre Finger um die Ecken des Kuverts spielen, entziffert sie halbherzig die Buchstaben. S v e r i g e.

Patricia fährt zusammen. Der Brief kommt aus Schweden?

Schnell führt sie das Messer seitlich in den Umschlag und schlitzt ihn auf. Mit pochendem Herzen greift sie hinein, doch zu ihrer großen Überraschung findet sie darin keinen Brief. Der Umschlag ist leer. Nein, nicht ganz, da ist irgendwas, das spürt sie, und als sie den Umschlag umdreht, fällt es heraus.

Patricia starrt auf die kleine Halskette in ihrer Hand. Ihr wird schlagartig schlecht, und sie weiß nicht, wohin mit sich. Eine innere Stimme sagt ihr, dass sie aufstehen und davonlaufen soll, doch sie rührt sich nicht vom Fleck.

Mit zitternden Fingern hält sie die zierliche Kette in die Sonne. Das Silber glänzt matt, und das kleine Medaillon in Form einer Note baumelt hin und her.

Patricia schließt die Hand um das Schmuckstück. Sie hat es seit dreißig Jahren nicht gesehen, doch sie erkennt es sofort wieder.

Langsam nimmt sie das Medaillon zwischen die Finger und betrachtet es genauer. Mit einem Mal scheint die Welt um sie herum aus den Fugen geraten zu sein. Diese Kette hat sie Madeleine zum achtzehnten Geburtstag geschenkt. Am Tag ihrer Abreise nach Schweden trug sie sie um den Hals.

Patricia schließt die Augen. Ihre Gedanken überschlagen sich, und sie versucht, sie zu sortieren. Ist das wirklich Madeleines Halskette? Und wenn ja: Wieso wird sie ihr nun zugeschickt? Heißt das vielleicht, irgendjemand weiß, was mit ihrer Schwester passiert ist?

Erst, als Barry sie anstupst, öffnet sie die Augen wieder. Sie steht auf und wankt in die Küche, wo es fast genauso warm ist wie draußen. Sie dreht den Wasserhahn auf und beugt sich vor, um sich das Gesicht zu waschen.

Das kalte Wasser rinnt Patricia den Hals hinunter, und sie holt tief Luft. Barry hat sich auf den Küchenläufer neben sie gesetzt. Erwartungsvoll sieht er sie an, so als warte er auf Futter.

Patricia greift nach einem Küchenhandtuch und tupft sich das Gesicht ab. Sie versucht, die Halskette aus der Hand zu legen, muss sie aber immer wieder anschauen. Wie benommen reibt sie sich den Nacken.

Ihr halbes Leben fragt sie sich nun schon, was ihrer kleinen Schwester wohl zugestoßen sein mag. Auf der Suche nach einer Erklärung für Madeleines Verschwinden hat sie sich die verschiedensten Szenarien ausgemalt, doch keins davon ließ sie jemals zur Ruhe kommen. Patricia hat stets im Schatten der Ungewissheit gelebt und die Fragen mit sich getragen. So eine Trauer lässt einen nicht los, spürt sie, dieses Gefühl ist immer zugegen, wie ein Hohlraum im Herzen.

Sie legt Barry die Hand auf den Kopf und streichelt das weiche Hundefell. Dann rückt ihre Gefühlswelt plötzlich auf Abstand. Wer immer ihr die Halskette geschickt hat, weiß etwas über Madeleines Verbleib, also muss sie versuchen, den Absender oder die Absenderin zu finden. Aber wie soll Patricia herausbekommen, von wem der Brief stammt?

Obwohl es eigentlich noch zu früh ist, füllt sie Trockenfutter in Barrys rostfreie Schale. Der Hund wedelt freudig mit dem Schwanz und stürzt sich auf seine Mahlzeit, als Patricia sie vor ihm abstellt.

Sie betrachtet ihn. Seit Jahren wünscht sie sich nichts sehnlicher als ein Zeichen ihrer Schwester, aber jetzt, da sie endlich eins bekommen hat, lässt sie das eigenartig kalt.

»Ich werde wohl nach Schweden müssen«, sagt sie mit tonloser Stimme zu Barry. »Ich werde wohl noch einmal dort hinreisen und einen neuen Versuch starten müssen, Madeleine zu finden.«

Barry schaut auf und sieht sie mit seinen treuen Augen an, und eine Sekunde lang hat sie das Gefühl, dass er sie genau versteht. Dann senkt er den Kopf und widmet sich wieder seinen Pellets mit Lebergeschmack.

2


Samstag, 8. Juni

Der Drehschalter ist locker, gibt aber immer noch ein Klicken von sich, als Evy das Radio um Punkt 07:54 Uhr einschaltet, genau zu Beginn des Land- und Seewetterberichts. Das Gerät hat gerade mal zehn Jahre auf dem Buckel, aber es macht schon Mucken, und Evy weiß, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis sie mit dem Bus in die Stadt fahren muss, um ein neues zu kaufen.

Einen kurzen Moment ist Funkstille, dann stellt sich der Meteorologe vor. Evy seufzt. Manchmal fragt sie sich, nach welchen Kriterien diese Wetterfrösche eigentlich ausgewählt werden. Ob die bei Radio Schweden absichtlich nervtötende Stimmen suchen? Vielleicht wollen sie ja, dass die Zuhörer während der Wettervorhersage einschlafen, vielleicht ist das so eine Art Experiment.

Mit schleppendem Ton geht der Meteorologe seinen Bericht durch. Er klingt, als wäre er eben erst aufgewacht und würde beim Ablesen des Textes darüber nachdenken, wie lange seine Frühstückseier kochen sollen. (Eigentlich mag ich es ja am liebsten, wenn das Eigelb noch flüssig ist, aber hartgekochte Eier lassen sich besser in Scheiben schneiden und aufs Brot legen. Die Sicht über die südliche Ostsee ist übrigens gut, Regen wird es keinen geben, am Vormittag weht ein mäßiger bis frischer Wind aus nordwestlicher Richtung, aber mit abnehmender Stärke, und der Wasserstand ist unverändert.)

Evy drückt die Spitze ihres Stiftes auf den Notizblock und schreibt so schnell sie kann. Ihr darf nichts entgehen, denn der nächste Seewetterbericht wird erst wieder um 12:55 Uhr gesendet.

Als sie fertig ist, trinkt sie einen Schluck Kaffee und lässt den Blick aus dem Fenster schweifen. Nur weil im Moment gute Wetterverhältnisse herrschen, heißt das noch lange nicht, dass weniger Unglücke passieren. Im Gegenteil, bei schönem Wetter zieht es nur umso mehr Menschen ans Meer, sodass das Risiko sogar eher steigt.

Sie will sich gerade zwei Scheiben Knäckebrot mit Butter, Leberwurst und Gurke fertig machen, als sie draußen ein Geräusch hört. Ein lautes Jammern durchdringt die Luft, und im selben Moment kratzt es an der Tür. Schnaufend steht Evy vom Tisch auf und humpelt los.

Auf der Treppe steht Saba und reckt sich in der Morgensonne. Es scheint ihr kein bisschen unangenehm zu sein, dass sie die ganze Nacht unterwegs war. Unbekümmert schwingt sie den Schwanz von Seite zu Seite, wie um zu sagen: »Die Königin ist heimgekehrt.«

Evy öffnet die Tür einen Spalt breit und starrt die Katze an, die nur unbeeindruckt zurückstarrt.

»Na dann, rein mit dir«, murmelt sie und lässt das Tier vorbeihuschen.

Saba springt auf den freien Stuhl am Küchentisch, und Evy serviert ihr auf dem zweiten Teller, der schon bereitsteht, etwas Leberwurst.

Die beiden essen schweigend, und Evy denkt, dass dies die beste Zeit des Tages ist. Ein paar Minuten sitzt sie einfach da, spürt das knusprige Knäckebrot und die fettige Leberwurst im Mund und hängt ihren Gedanken nach. Doch dann ist plötzlich erneut ein Geräusch zu hören. Nebenan fällt die Tür des Nachbarn ins Schloss, und Evy wirft erschrocken einen Blick auf die Uhr. Halb neun. Schon?

Schnell legt Evy den Deckel auf die Leberwurstdose. Normalerweise hat sie zu dieser Zeit bereits fertig gefrühstückt, aber heute hat alles etwas länger gedauert, wegen dieser vermaledeiten Arthrose. Wenn sich ihr Knie bemerkbar macht, kommt sie nicht so leicht vom Fleck wie sonst, und der stechende Schmerz bringt sie dazu, länger sitzen zu bleiben, als sie eigentlich sollte.

»Runter auf den Boden!«, zischt sie Saba zu und versucht gleichzeitig, die Küchengardine vor dem offenen Fenster zuzuziehen. Doch es ist schon zu spät. Yusuf steht bereits draußen und winkt.

»Guten Morgen«, sagt er fröhlich. Wie jeden Tag trägt er ein braunes Hemd, eine grüne Weste und eine khakifarbene Hose, die ihm knapp bis über die Knie reicht und ihn noch kleiner aussehen lässt, als er ohnehin schon ist.

Evy starrt ihn an.

»Sie versperren mir die Aussicht.«

»Entschuldigung«, murmelt Yusuf und macht schnell einen Schritt zur Seite. »Ich wollte eigentlich nur Bescheid sagen …«

Er gerät ins Stocken, und Evy verdreht die Augen.

»Ja, was wollten Sie sagen?«

»Dass … dass Saba heute Nacht auf meinem Balkon war. Mal wieder.«

Evy fasst sich an die Stirn. Sie und Yusuf wohnen nun schon seit über einem Jahrzehnt Tür an Tür, und trotz all ihrer subtilen Signale im Laufe der Jahre hat er immer noch nicht kapiert, dass sie keinerlei Interesse an seiner Gesellschaft hat. Es ist wirklich erstaunlich, wie vielen Einwohnern dieses Ortes es an grundlegender Sozialkompetenz zu mangeln scheint.

»Aha. Und was soll ich Ihrer Meinung nach dagegen tun? Die ganze Nacht aufbleiben und sie bewachen vielleicht?«

Yusuf schaut betreten zu Boden, während ihm sein frecher kleiner Dackel Melker um die Beine scharwenzelt.

»Nein, das geht natürlich nicht.«

Evy seufzt.

»Hören Sie einfach auf, sie zu füttern, dann löst sich das Problem von selbst.«

»Aber das habe ich doch nur einmal gemacht, als Sie im Krankenhaus waren«, protestiert Yusuf.

Saba ist mit ihrer Leberwurst fertig und schnurrt zufrieden, so als wüsste sie genau, was sie angerichtet hat. Evy beginnt, den Tisch abzuräumen.

»Ich habe jetzt keine Zeit, mich noch weiter zu unterhalten«, sagt sie bestimmt.

»Nein, nein«, antwortet Yusuf nickend. »Sie müssen ja Ihre Runde drehen.«

»Genau.«

Er zieht an Melkers Leine.

»Aber wenigstens ist heute schönes Wetter«, versucht er sie aufzumuntern.

»Das heißt überhaupt nichts.«

»Nein, natürlich nicht.«

Evy verschränkt die Arme vor der Brust und starrt ihn an, bis er endlich den Anstand hat, sich zurückzuziehen.

»Na, dann sehen wir uns später«, ruft er ihr noch zu.

»Nicht, wenn ich Sie zuerst sehe«, antwortet sie, aber der Dackel hat ihn bereits außer Hörweite gezogen.

»Ich glaube, heute ist mal wieder so ein Tag«, murmelt Evy und begegnet Sabas Blick. »Was hältst du von ein bisschen Schlagsahne zum Nachtisch?«

Wegen der Schmerzen im Knie dauert die Morgenrunde heute besonders lange, und als Evy endlich fertig ist, humpelt sie den Pfad zurück zur Hauptstraße. Saba folgt ihr. Sie begleitet Evy immer auf ihrer Runde, schleicht ihr in einigen Schritten Abstand hinterher und späht über die Wiesen, als wäre sie auf geheimer Mission.

Es ist jeden Morgen die gleiche Prozedur. Zuerst kontrolliert Evy, ob die Aufhängung des Rettungsrings ordnungsgemäß festgeschraubt und die Sicherheitsleine vor dem Sonnenlicht geschützt ist, anschließend sieht sie nach, ob sich der Rettungshaken an seiner Stange befindet und der Signalwimpel unversehrt ist.

Hin und wieder kommt es vor, dass irgendein dämlicher Teenager seine Kumpels beeindrucken will und den Rettungsring ins Wasser wirft, und dann muss sie den Ring wieder an Land ziehen, aufhängen und sich vergewissern, dass er nicht beschädigt wurde.

Die Verantwortung für die örtliche Rettungsausrüstung hat Evy von sich aus übernommen, nicht, dass ihr das hier irgendjemand danken würde. Seit Jahren versucht sie nun schon, den Stadtrat zur Anschaffung einer Rettungsinsel für die kleine Strandbucht zu bewegen, außerdem hat sie die Anbringung einer zusätzlichen Rettungsleiter an der Südseite des Anlegers vorgeschlagen, aber von alldem will der Stadtrat nichts wissen.

Evy ballt die Hand in der Tasche zur Faust. Beim bloßen Gedanken daran überkommt sie Wut. Alf, der Stadtratsvorsitzende, ist wirklich nicht der Hellste. Ihm zufolge ist die Strömung am Anleger eher schwach, eine Boje sei somit mehr als genug, dabei weiß doch jedes Kind, dass die Strömung von variierender Stärke ist und noch dazu aufs offene Meer hinausführt. Am liebsten würde Evy Alf mal die Südseite hinunterstoßen, um zu sehen, ob er es mithilfe einer Boje zurück an Land schafft, aber bisher fehlt ihr noch eine Idee, wie sie ihn runter zur Bucht locken könnte.

Es ist ein schöner Morgen, auch wenn Evy solcherlei Dingen normalerweise nicht besonders viel Bedeutung beimisst, und auf dem letzten Stück ihres Weges in den Ort hinein spürt sie die warmen Sonnenstrahlen im Gesicht.

In der Ferne sieht sie Monas Bed, Breakfast & Books. Die alte gelbe Kapitänsvilla mit ihrer verspielten Architektur, den Zierleisten an der Fassade und den zierlich gedrechselten Fensterrahmen prangt am Ende der Hauptstraße umgeben von einem dicht bewachsenen Garten. Evy kennt Mona, seit sie Anfang der Achtzigerjahre nach Ljusskär kam, und auch wenn sie furchtbar zerstreut ist und ständig dieselben Fragen stellt (»Wie geht es dir?« – »Es geht, ich habe Knieschmerzen.« – »Oje, und wie ist es mit deinem Knie?« Da capo!), gehört sie zu den wenigen Menschen, mit denen Evy gut zurechtkommt.

Evy wirft einen Blick über die Schulter, bevor sie die Straße überquert. Als Mona ihr damals erzählte, dass sie das alte Hotel ihrer Eltern umtaufen und »Monas Bed, Breakfast & Books« nennen wollte, war Evy aufrichtig beeindruckt. Sie sah bereits vor sich, wie Ljusskär zum Reiseziel literaturinteressierter Touristen würde und sie auf der großen Glasveranda progressive Diskussionsrunden und spannende Autorenlesungen stattfinden ließen.

Doch leider fiel Monas Vision sehr viel bescheidener aus. Sie wollte das Haus vor allem deshalb mit Büchern füllen, weil sie das gemütlich fand, und seither sind lediglich Besucher nach Ljusskär geströmt, die weder von Faulkner noch von Proust gehört haben.

Evy presst die Hand auf ihr schmerzendes Knie. Da sie mit Mona keinen Streit vom Zaun brechen will, hat sie das Thema mittlerweile fallenlassen, aber es besteht kein Zweifel, dass man aus diesem B, B & B noch viel mehr machen könnte. Beim Reinkommen hat man fast das Gefühl, im Wohnzimmer einer altersdementen Bibliothekarin gelandet zu sein. Wobei selbst eine senile alte Bibliotheksassistentin wohl noch irgendein Ordnungssystem hätte. Bei Mona hingegen liegen die Bücher überall kreuz und quer verteilt – zwischen den seltsamen Blumentöpfen an den Fenstern, auf kleinen Tischchen neben den zerschlissenen Sesseln und unter jeder Schüssel und jedem einzelnen Dekorationsgegenstand. Außerdem sind sämtliche Gardinen und Tischdecken aus unterschiedlichen Stoffstücken genäht, und auf allen freien Flächen stehen handgeblasene Flohmarktvasen, alte Blechdosen mit Deckel und merkwürdige Kerzenständer. Das Ganze wirkt gelinde gesagt chaotisch, und noch dazu serviert Mona dort ihre selbstgetrockneten Algen in kleinen Gefäßen in Tierform. Als würde irgendjemand mit Sinn für Literatur und einem gewissen Maß an Selbstrespekt Snacks aus rosafarbenen Flamingo-Schälchen essen!

Je länger Evy darüber nachdenkt, desto mehr gerät sie in Rage. In all den Jahren hat Mona nicht einen einzigen Literatursalon zustande gebracht. Einmal hätte sie fast Bjarne Neesgard zu Gast gehabt, aber sein Hallux valgus machte ihm so zu schaffen, dass er wieder absagen musste, auch wenn Mona ihm uneingeschränkte Fußpflege während seines Aufenthalts und einen Lebensvorrat an Zehenspreizern versprochen hatte.

Ein Lesezirkel hat zwar hin und wieder mal stattgefunden, aber auf den gibt Evy nicht viel. Anfangs war sie selbst ein paarmal dabei, doch sie war die banalen Diskussionen schnell leid. Oft ging es mehr um den Wein, der bei den Treffen getrunken werden sollte, als um das Buch, und viele Teilnehmerinnen nutzten die Gelegenheit ganz dreist dazu, ihren persönlichen Problemen Luft zu machen, anstatt sich auf die Handlung und die Entwicklung der Figuren zu konzentrieren. Wenn man selbst mehrere Stunden darauf verwendet hat, ein Werk aufs Gründlichste durchzuanalysieren, und darauf brennt, seine Ergebnisse mit den anderen zu teilen, ist es höchst enttäuschend, stattdessen einer weinseligen Versicherungsangestellten mit selbstgemachter Dauerwelle zuhören zu müssen, die sich darüber beklagt, dass eine Band namens ABBA auseinandergegangen ist.

Beim letzten Treffen, zu dem Evy sich aufraffen konnte, hat sie heimlich eine Stoppuhr benutzt, und genau wie sie befürchtet hatte, wurden gerade mal elf Prozent der Zeit auf die Besprechung des ausgewählten Buches verwandt. Als die Dauerwelle obendrein verkündete, sie wolle zum nächsten Mal Das Tal der Pferde lesen, beschloss Evy, aus dem Buchklub auszutreten.

Evy bekommt noch immer einen üblen Geschmack im Mund, wenn sie an all die Trivialliteratur denkt, die sie um ein Haar hätte lesen müssen. Nein, ein solches Opfer kann sie selbst für Mona nicht bringen.

Sie wechselt die Straßenseite und will in Richtung Hotel abbiegen, als ihr plötzlich jemand ins Auge fällt. Schnell macht sie einen Schritt hinter eine Hausecke. Obwohl gut dreißig Meter zwischen ihnen liegen, ist Evy nicht im geringsten Zweifel, wen sie da kommen sieht. Diese Figur auf den aberwitzig hohen Absätzen, die ein so enganliegendes Kleid trägt, dass sie aussieht, als hätte ihr jemand eine Ganzkörperbandage verpasst, ist Marianne.

Evy lehnt sich an die Wand und spürt, wie Saba, die sie inzwischen eingeholt hat, sich an ihre Beine schmiegt. Sie kann nicht verstehen, dass Marianne freiwillig auf solchen Schuhen herumläuft, und was sie in Ljusskär macht, ist auch eine gute Frage. Kann sie nicht einfach in Amerika bleiben, wo es ihr doch offenbar so gut gefällt?

Marianne scheint gerade auf dem Weg zu Mona zu sein, hält jedoch inne, als ein Piepsen aus ihrer Handtasche ertönt. Mit einer routinierten Geste zückt sie ein Handy und drückt es sich ans Ohr.

Evy rümpft die Nase. Gewisse Menschen sind offensichtlich so wichtig, dass sie jederzeit erreichbar sein müssen. Sie selbst würde sich nie so ein tragbares Telefon zulegen. Wenn irgendwer mit ihr reden will, tut es auch der Festnetzschluss.

Evy stößt ein Seufzen aus. Eigentlich wollte sie sich ein bisschen Algengebäck kaufen, aber solange Marianne um das Hotel herumstreunt, setzt sie dort keinen Fuß hinein. Seit diese Person ihr Elternhaus abreißen und diese hässliche Villa bauen ließ, die Evy den Meerblick versperrt, ist ihr Marianne zuwider. Sie ist arrogant und selbstgefällig, eine richtige Madame Je-sais-tout, wie Voltaire sagen würde. Sie hat einfach überhaupt keine Manieren.

Verärgert macht Evy kehrt. Es ist ihr ein Rätsel, wieso Ljusskär so eine magnetische Anziehungskraft auf die eigenartigsten Individuen ausübt. Ausgerechnet hier scheinen sich sämtliche Idioten der Welt zu versammeln, und Evy fürchtet, dass sie bald der einzige zurechnungsfähige Mensch in diesem bedauernswerten Ort sein wird.