Anthony Horowitz

Mord in Highgate

Roman

Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff

Insel Verlag

1

Szene Siebenundzwanzig

Normalerweise bin ich gern bei den Dreharbeiten. Ich finde es unglaublich spannend, wenn Dutzende hochbezahlte Profis zusammenkommen, um eine Idee zu verwirklichen, die in meinem Kopf begonnen hat. Und ich finde es herrlich, dass ich dabei sein darf und dazugehöre.

Aber diesmal war es anders. Ich hatte verschlafen und war hektisch zu Hause losgerannt. Ich konnte mein Handy nicht finden und spürte beginnende Kopfschmerzen. Schon als ich an diesem feuchten Oktobermorgen aus dem Wagen stieg, wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte und besser zu Hause im Bett geblieben wäre.

Es war ein großer Tag. Wir drehten eine der ersten Szenen in der siebten Staffel von Foyle's War, einer Serie über einen englischen Kriminalkommissar im Zweiten Weltkrieg, die schon sehr lange und erfolgreich im Fernsehen lief. Dabei sollte Honeysuckle Weeks auftreten, die eine tragende Säule der Serie und eine meiner Lieblingsschauspielerinnen geworden war. Ich hörte immer schon ihre Stimme, wenn ich ein Stück Dialog für sie schrieb. In der neuen Folge war sie verheiratet, gehörte nicht mehr zur Polizei und arbeitete für einen Atomwissenschaftler. Ich hatte beschlossen, dass sie einen großen Auftritt haben müsste, und war jetzt gekommen, um sie moralisch zu unterstützen. In der Serie heißt sie Samantha Stewart und was ich geschrieben hatte, war Folgendes:

27. Außenaufnahme/Straße in London (1947) Heller Nachmittag

SAM steigt aus dem Bus aus. Sie trägt eine Einkaufstasche. Sie hat gerade eine schlechte Nachricht erhalten und möchte darüber nachdenken. Sie ist überrascht, dass ADAM am Straßenrand auf sie wartet.

SAM

Adam! Was machst du denn hier?

ADAM

Ich warte auf dich.

Sie geben sich einen Kuss.

Weiter ADAM

Lass mich das tragen.

Er nimmt ihre Einkaufstasche, und sie gehen nach Hause.

Auf dem Papier sieht das nicht sehr kompliziert aus, aber ich wusste gleich, dass uns die Szene Probleme bereiten würde. Jill Green, meine Frau, produzierte die Serie, und schon die Worte »Straße in London« genügten, um sie laut stöhnen zu lassen. In London zu drehen ist immer sehr mühselig, sehr teuer und im Grunde unmöglich. Manchmal hat man das Gefühl, dass die Stadt alles tut, um zu verhindern, dass hier gedreht wird. Jumbojets donnern über den Himmel, überall rattern Presslufthämmer, und man muss jederzeit damit rechnen, dass die Alarmanlagen von Autos und Häusern losjaulen. Ständig rasen Krankenwagen oder Polizeiautos vorbei und lassen ihre Sirenen heulen. Und man kann noch so viele Halteverbotsschilder aufstellen: Irgendjemand lässt immer sein Auto im Weg stehen. Bei den meisten ist es Gedankenlosigkeit, aber es gibt auch Leute, die es absichtlich machen und hoffen, dass sie Geld kriegen, damit sie wegfahren. Die Leute glauben automatisch, dass Fernseh- und Filmproduzenten über unbeschränkte Mittel verfügen, aber das ist leider nicht wahr. Vielleicht kann Tom Cruise die Blackfriars Bridge oder den halben Piccadilly absperren lassen, ohne groß nachzudenken, aber für bescheidene englische Fernsehproduzenten gilt das leider nicht. Für die kann schon so eine kleine Szene, wie ich sie geschrieben hatte, ein großes Problem werden.

Als ich aus dem Auto stieg, fand ich mich in einer Zeitschleife wieder. Ich war mitten im Jahr 1947. Die Produktionsfirma hatte zwei Straßen mit viktorianischen Häusern gefunden und sie in eine perfekte Kulisse für eine Szene im Nachkriegslondon verwandelt. Antennen und Satellitenschüsseln waren hinter Efeu und Ziegeln aus Plastik versteckt worden. Moderne Türen und Fenster waren hinter Attrappen verschwunden, die schon vor Wochen gebaut worden waren. Straßenschilder und Laternenmasten waren getarnt und gelbe Fahrbahnmarkierungen abgedeckt worden. Einige Requisiten hatten wir selbst mitgebracht: eine grellrote Telefonzelle, das Schild einer Bushaltestelle und ein paar Trümmer, wie sie den Londonern auch noch Jahre nach den Luftangriffen des Zweiten Weltkriegs vertraut waren. Wenn man über die Frauen in Daunenjacken, die Scheinwerfer, Kamerawagen und endlosen Kabelschlangen hinwegsah, konnte man das alles für Realität halten.

Jede Menge Leute standen herum und warteten geduldig darauf, dass die Dreharbeiten begannen. Neben der Filmcrew hielten sich noch etwa dreißig kostümierte Komparsen mit 40er-Jahre-Frisuren bereit. Ich warf einen Blick auf die verschiedenen Fahrzeuge, die vom zweiten Regieassistenten gerade in Stellung gebracht wurden. Dazu gehörten ein Austin Princess, ein Morgan 4-4, ein Pferdefuhrwerk und der Star der Szene, ein Doppeldecker-Bus vom Typ AEC Regent II, aus dem Samantha Stewart aussteigen würde. Honeysuckle stand mit ihrem Serien-Ehemann auf der anderen Straßenseite, und als sie mich entdeckte, hob sie die Hand. Aber sie lächelte nicht. Und da wusste ich, dass die Dinge gar nicht gut liefen.

Ich suchte nach der Kamera und sah, dass Jill in ein intensives Gespräch mit dem Regisseur Stuart Orme und den Kameraleuten verwickelt war. Keiner von ihnen sah richtig glücklich aus, und schon stiegen Schuldgefühle in mir auf. Das Drehbuch für diese Episode mit dem Titel The Eternity Ring begann mit einem Atomtest in Neu-Mexiko. Diese Szene hatte Stuart in der frühen Morgendämmerung an einem verlassenen Strand gedreht, zwei Stunden, ehe die Flut kam. Von da ging es zur russischen Botschaft in London und über die Docks in Liverpool und Whitehall zum Hauptquartier von MI ‌6. Das war ganz schön anspruchsvoll, und mit Szene 27 war ich womöglich zu weit gegangen. Sam hätte ja nach Hause laufen oder einfach vor der Tür stehen können.

Jetzt entdeckte mich Stuart und kam herüber. Er war nur ein Jahr älter als ich, aber sein weißes Haar und seinen Bart fand ich immer ein bisschen einschüchternd. Aber wir hatten schon eine Episode zusammen gedreht, und ich war froh, dass er wieder dabei war. »Wir können die Szene nicht drehen«, sagte er.

»Was stimmt denn nicht?«, fragte ich und hatte sofort das irrationale Gefühl, dass es am Ende meine Schuld sein würde.

»Eine Menge. Wir mussten zwei Autos abschleppen lassen. Es hat geregnet.« Tatsächlich hatte es eben erst aufgehört. »Die Polizei wollte uns vor zehn Uhr nicht drehen lassen. Außerdem ist der Bus kaputt.«

Ich drehte mich um. Der AEC Regent II wurde gerade abgeschleppt. Ein anderer Bus war an seiner Stelle gekommen. »Das ist ein Routemaster«, sagte ich.

»Ich weiß, ich weiß.« Stuart sah ziemlich gestresst aus. Wir wussten beide, dass die ersten Routemaster erst Mitte der 50er Jahre gebaut worden waren. »Aber die Agentur hat anscheinend keinen anderen auftreiben können«, sagte er. »Machen Sie sich keine Sorgen. Wir können ihn mit CGI nachbearbeiten.«

Computer-generated Imagery. Computergrafik war teuer, aber häufig die beste Lösung. Man konnte das zerbombte London sehen oder an der St.-Pauls-Kathedrale vorbeifahren, wenn man in Wirklichkeit tausende Kilometer entfernt war.

»Sonst noch was?«

»Hören Sie, ich habe nur neunzig Minuten, um die Szene zu drehen. Um zwölf Uhr müssen wir hier wieder weg sein, und ich brauche vier Einstellungen. Das schaffe ich nicht. Wenn's Ihnen recht ist, streichen wir den Dialog. Wir zeigen Samantha, wie sie aus dem Bus steigt, und dann trifft sie Adam, wenn sie nach Hause kommt.«

In gewissem Sinne war ich sogar geschmeichelt. Der Autor ist der Einzige am Set, der nichts Spezielles zu tun hat, und deshalb gehe ich meist gar nicht hin. Ich stehe irgendwie immer im Weg rum, und wenn zur falschen Zeit plötzlich ein Handy losbimmelt, ist es garantiert meins. Aber jetzt kam der Regisseur zu mir und bat mich um Hilfe! Ich erkannte gleich, dass sein Vorschlag die Episode nicht groß verändern würde.

»In Ordnung«, sagte ich großzügig.

»Gut. Ich hatte gehofft, dass es Ihnen nichts ausmacht.« Damit drehte er sich um und ging. Mir wurde klar, dass er die Entscheidung schon getroffen hatte, bevor ich am Set erschien.

Auch ohne den Dialog war es eine extrem knappe Sache. Stuart konnte nur einen Probelauf machen, dann musste es klappen. Die Einstellung war nicht einfach: Um den Bus zu filmen, der aus einer Seitenstraße kam, war in der anderen Straße eine dreiundzwanzig Meter lange Schienenstrecke für die Kamera gelegt worden. Der Bus sollte um die Ecke biegen und anhalten, während die Kamera weiterfuhr und die Haltestelle in dem Augenblick erreichte, wenn zwei Komparsen und schließlich Samantha Stewart ausstiegen. Gleichzeitig würden andere Fahrzeuge in beiden Richtungen an der Haltestelle vorbeifahren, darunter auch das Pferdefuhrwerk. Auf dem Bürgersteig sollten Kinder spielen, und verschiedene Passanten sollten vorbeilaufen, eine Frau mit einem Kinderwagen, zwei Polizisten, ein Mann mit einem Fahrrad und so weiter. Der Auftritt musste sehr genau synchronisiert werden, wenn alles klappen sollte.

»Ruhe, bitte! Alle auf Position!«

Der Schauspieler, der Samanthas Ehemann spielte, wurde in seinen Wohnwagen geschickt. Er war seit dem frühen Morgen am Set, wurde jetzt aber gar nicht gebraucht. Der Fahrer des Routemasters wurde noch einmal gebrieft. Die Komparsen nahmen ihre Plätze ein. Ich stellte mich hinter die Kamera, um ja nicht im Weg zu sein. Der Regieassistent warf Stuart einen Blick zu – der nickte.

»Und bitte!«

Der Probelauf wurde zu einem Desaster.

Der Bus kam zu früh, die Kamera kam zu spät. Samantha ging in der Menge verloren. Genau im falschen Augenblick schob eine Wolke sich vor die Sonne. Das Pferd weigerte sich, seinen Karren zu ziehen. Ich sah, wie Stuart mit dem Aufnahmeleiter sprach und dann den Kopf schüttelte. Nein, sie konnten nicht drehen. Sie brauchten noch eine zweite Probe.

Es war inzwischen schon zehn nach elf. Das ist typisch für Dreharbeiten. Es gibt lange Zeiträume, in denen anscheinend gar nichts passiert, und dann kommt es zu kurzen Ausbrüchen hochkonzentrierter Aktivität, in denen tatsächlich gedreht wird. Aber die Uhr und die Kosten laufen die ganze Zeit. Ich persönlich finde den Stress fast unerträglich.

Als Stuart gesagt hatte, um zwölf Uhr müsse er fertig sein, war das ganz wörtlich zu nehmen. Am oberen Ende der Straße standen zwei echte Polizisten, die den Verkehr aufhielten. Um Punkt zwölf würden sie weggehen. Die Behörden und die Anlieger hatten uns die Dreherlaubnis auch nur für eine bestimmte Zeit gegeben. Der Aufnahmeleiter sah sehr besorgt aus. Und ich wünschte inzwischen sehr dringend, ich wäre zu Hause geblieben.

Der Regieassistent nahm sein Megafon und bellte die neuen Anweisungen: »Position einnehmen!«

Langsam und störrisch bewegten sich die Passagiere zurück in den Bus, und der Routemaster legte den Rückwärtsgang ein. Die Kinder wurden wieder auf ihre Plätze geführt. Das Pferd kriegte ein Stückchen Zucker. Die zweite Probe verlief glücklicherweise viel besser. Der Bus und die Kamera trafen sich genau wie geplant an der Ecke. Samantha stieg aus und ging weg. Das Pferd setzte sich auch in Bewegung, marschierte allerdings auf den Bürgersteig, was so nicht vorgesehen war. Zum Glück wurde niemand verletzt. Stuart und der Kameramann besprachen sich einen Moment und beschlossen dann, dass sie loslegen konnten. Jill warf einen Blick auf die Uhr. Es war jetzt genau halb zwölf.

Weil es eine große Szene mit hohen Kosten war, hatten wir Fotografen für Standfotos da. Außerdem waren ein paar Journalisten gekommen, die Honeysuckle interviewen wollten. Der Sender hatte zwei Funktionäre geschickt, die das Geschehen genauso aufmerksam beobachteten wie das Sicherheitspersonal, die Brandschutzmänner und die Sanitäter mit ihrem Krankenwagen. Außerdem war natürlich die ganze Armee von Ersten, Zweiten und Dritten Regie-, Kamera- und Tonassistenten, Beleuchtern, Kabelträgern, Maskenbildnerinnen, Requisiteuren, Fahrern und so weiter versammelt und wartete darauf, dass die Szene endlich abgedreht wurde, für die wir jetzt gerade noch dreißig Minuten Zeit hatten.

Es gab noch letzte Kontrollen, Pannen, Verzögerungen und eine gespannte Stille, die sich endlos hinzog. Meine Handflächen waren schweißnass. Dann endlich begann die vertraute Litanei, die jede Aufnahme begleitet:

»Ruhe bitte! Ton ab!«

»Ton läuft!«

»Kamera?«

»Kamera läuft!«

»Szene siebenundzwanzig. Aufnahme eins.«

Das Scheppern der Klappe.

»Und bitte!«

Die Kamera glitt von uns weg. Der Bus fuhr los. Die Kinder spielten. Das Pferd setzte sich brav in Bewegung und zog seinen Karren.

Und dann erschien mitten auf der Szene ein Taxi! Kein altmodisches schwarzes, das man noch irgendwie hätte einbauen können, sondern ein brandneues, weiß-gelb gestrichenes Taxi mit einer schreiend roten Reklame für eine neue App und der Aufschrift: SPAREN SIE £ 5 BEI DER NÄCHSTEN FAHRT! Und um die Sache abzurunden, hatte der Fahrer sein Fenster heruntergekurbelt und ließ Justin Timberlake in voller Lautstärke über die Straße plärren. Mitten auf dem Set blieb es stehen!

»Cut!« Stuart Orme war für gewöhnlich ein gelassener, freundlicher Mann. Aber diesmal war sein Gesicht wie ein wütender Donnerschlag, als er vom Monitor aufsah. Es war natürlich alles unmöglich. Die Polizei hätte den Verkehr umleiten müssen. An allen Straßenecken standen unsere Leute, um Passanten zurückzuhalten. Es war völlig undenkbar, dass irgendein Fahrzeug einfach so eindringen konnte.

Mir wurde ganz übel, denn ich hatte schon eine Ahnung, was jetzt gleich passieren würde.

Und leider hatte ich recht.

Die Tür des Taxis öffnete sich, und ein Mann stieg aus. Es störte ihn offenbar überhaupt nicht, dass er von einem Haufen Leute umgeben war, von denen etliche in historischen Kostümen herumliefen. Er zeigte vielmehr ein unbekümmertes Selbstvertrauen, das sich nur auf die eigenen Interessen konzentriert und die Probleme anderer komplett ignoriert. Er war weder groß noch besonders kräftig, machte aber den Eindruck, dass er sich in jedem Fall durchsetzen würde. Sein graubraunes Haar war sehr kurz geschnitten. Seine dunkelbraunen Augen schauten unschuldig aus einem blassen, nicht besonders gesunden Gesicht. Der Mann kam nicht viel in die Sonne. Er trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine schmale Krawatte. Es schien, als hätte er diese Kleidung absichtlich gewählt, weil sie nichts über ihn aussagte. Seine Schuhe waren blank poliert. Schon als er auf uns zukam, suchte er mit den Augen nach mir, und ich fragte mich: Woher weiß der Kerl, dass ich hier bin?

Ich wollte mich gerade hinter den Monitor ducken, da hatte er mich entdeckt. »Tony!«, rief er jovial – und laut genug, dass jeder es hörte.

Wütend drehte Stuart sich zu mir um. »Kennen Sie diesen Mann?«, fragte er.

»Ja«, gab ich zu. »Sein Name ist Daniel Hawthorne. Er ist Detektiv.«

Die Kameraleute starrten mich ungläubig an. Die beiden Frauen von ITV zischelten ärgerlich, während Jill eilig zu ihnen hinüberging. Alle anderen waren erstarrt, als ob sie Figuren auf einer Historisches London-Postkarte wären. Sogar das Pferd schaute böse.

Sie haben die Einstellung dann gerade noch so geschafft, ehe die Zeit ablief. Sie hatten genug Material, um eine halbwegs brauchbare Szene zusammenzustoppeln. Wenn man sie auf dem Bildschirm sieht, erkennt man die Telefonzelle, das Pferdefuhrwerk, die beiden Polizisten und Samantha, die sich von der Haltestelle entfernt. Die übrigen Komparsen hat die Kamera leider nicht mehr erwischt: weder die Frau mit dem Kinderwagen noch den Mann mit dem Fahrrad. Samantha trägt eine Einkaufstasche, aber das sieht man nicht.

Bald darauf war dann das Geld alle, und irgendeine digitale Nachbehandlung für den verfluchten Bus kam auch nicht mehr in Frage.

2

Ein Mord in Highgate

Ich ließ Hawthorne in meinem Büro zurück, das heißt in dem Wohnwagen, den man in einer Seitenstraße für mich geparkt hatte, während ich mich auf den Weg zum Catering Truck machte, um Kaffee für uns zu holen. Als ich zurückkam, saß er an meinem Schreibtisch und blätterte im Drehbuch. Das ärgerte mich ziemlich. Ich hatte ihn bestimmt nicht dazu eingeladen, meine Arbeit zu lesen. Wenigstens rauchte er nicht. Ich kenne kaum jemand, der heute noch raucht, aber Hawthorne qualmte jeden Tag ein Päckchen weg. Deshalb trafen wir uns meistens in Straßencafés, wo wir im Freien sitzen konnten.

»Ich habe Sie gar nicht erwartet«, sagte ich, als ich die Treppe hinaufkletterte.

»Besonders begeistert scheinen Sie nicht zu sein.«

»Um ehrlich zu sein, ich bin ziemlich beschäftigt … aber das haben Sie vielleicht gar nicht gemerkt, als Sie mitten in die Dreharbeiten geplatzt sind.«

»Ich wollte Sie sehen.« Er wartete, bis ich mich ihm gegenübergesetzt hatte. »Wie läuft's mit dem Buch?«

»Das ist fertig.«

»Den Titel mag ich immer noch nicht.«

»Das ist nicht Ihre Entscheidung.«

»Schon gut! Schon gut!« Er sah mich an, als hätte ich ihn ohne Grund beleidigt. Hawthorne hat dunkelbraune Augen, und es war wirklich erstaunlich, dass sie so klar und so vollkommen unschuldig waren. »Ich sehe schon, Sie haben schlechte Laune. Aber es ist nicht meine Schuld, dass Sie heute verschlafen haben.«

Natürlich ging ich ihm prompt in die Falle. »Wer hat Ihnen gesagt, dass ich verschlafen hätte.«

»Und Ihr Handy haben Sie immer noch nicht gefunden.«

»Hawthorne …!«

»Auf der Straße haben Sie's nicht verloren«, fuhr er fort. »Ich glaube, Sie werden es irgendwo in Ihrer Wohnung finden. Und dann habe ich noch einen Tipp für Sie: Wenn Michael Kitchen Ihr Drehbuch nicht mag, dann lassen Sie Ihre Wut nicht an mir aus, sondern suchen Sie sich einen neuen Schauspieler.«

Ich starrte ihn verblüfft an. Wie kam er auf solche Ideen? Michael Kitchen war der Star von Foyle's War, und es stimmte zwar, dass wir über die letzte Episode der Serie viel diskutiert hatten, aber darüber hatte ich wohlweislich mit niemand außer Jill gesprochen, und die wusste es ohnehin. Und über meinen Nachtschlaf oder die Tatsache, dass ich heute Morgen mein Smartphone nicht hatte finden können, hatte ich erst recht mit niemand geredet.

»Was machen Sie denn hier draußen?«, fragte ich.

»Es hat einen Mord gegeben«, sagte er. Er zog das Wort in die Länge, als ob es ein Kaugummi wäre: Mooord! Er schien es regelrecht zu genießen.

»Und?«

Er blinzelte erstaunt. War das nicht offensichtlich? »Ich dachte, Sie würden gern darüber schreiben.«

Wenn Sie zufällig Ein perfider Plan gelesen haben, dann wissen Sie, dass ich Detective Inspector Daniel Hawthorne als Berater bei einer Fernsehserie kennengelernt habe. Er hatte für Scotland Yard gearbeitet, aber seine Karriere hatte ein jähes Ende genommen, als ein Verdächtiger, der beschuldigt wurde, Kinderpornografie hergestellt und verbreitet zu haben, eine steile Treppe hinunterfiel. Seither musste Hawthorne seinen Lebensunterhalt in der freien Wirtschaft verdienen. Natürlich hätte er bei einem Sicherheitsdienst arbeiten können, wie so viele andere Ex-Polizisten, aber stattdessen hatte er sich darauf spezialisiert, Film- und Fernsehgesellschaften zu beraten, die möglichst glaubwürdige Krimis anbieten wollten, und so hatten wir uns kennengelernt. Wie ich bald feststellen sollte, war aber auch Scotland Yard an seinem Talent nach wie vor interessiert.

Er wurde gerufen, wenn die Polizei auf einen dieser zähen Fälle stieß, denen man schon von weitem ansah, dass sie schwer oder gar nicht zu lösen sein würden. Die meisten Morde sind brutal und vollkommen hirnlos. Ein Mann und seine Frau streiten sich, haben vielleicht auch zu viel getrunken. Dann haut der eine dem anderen eins über den Schädel – mit einer Flasche oder mit einem Hammer, und peng! Mit den Fingerabdrücken, den Blutspritzern und dem sonstigen forensischen Material kann die Polizei den Fall in vierundzwanzig Stunden lösen und auch noch alle Beweise beschaffen. Seit es so viele Überwachungskameras gibt, kann man kaum noch von einem Tatort flüchten, ohne zumindest einen lustigen Schnappschuss von sich zu hinterlassen.

Sehr viel seltener sind die echten Morde, bei denen die Täter sich vorher schon überlegen, wie sie das Verbrechen ausführen wollen. Erstaunlicherweise findet die Polizei diese Fälle viel kniffliger und weiß nicht, wie sie damit umgehen soll. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass sie sich in so hohem Maße auf die Forensik und technische Mittel verlassen. Ich erinnere mich an einen Hinweis, den ich in der Serie Agatha Christie's Poirot versteckt hatte: Ein Handschuh mit dem gestickten Monogramm H wird am Tatort gefunden. Moderne Detektive können sehr schnell herausfinden, wo und wann dieser Handschuh hergestellt und was für Material dabei benutzt wurde, welche Größe er hat und was in den letzten Wochen damit berührt worden ist. Aber sie werden nicht unbedingt darauf kommen, dass es sich bei dem H um den russischen Buchstaben N handelt und dass der Handschuh ganz bewusst am Tatort zurückgelassen wurde, um jemand mit dem Anfangsbuchstaben N die Schuld zuzuschieben. Für solche Erkenntnisse brauchte man jemand wie Hawthorne.

Das Problem war, dass er nicht besonders gut bezahlt wurde, und deshalb hatte er mich gefragt, ob ich nicht ein Buch über ihn schreiben wolle. Die Geschäftsidee war ganz einfach: Mein Name würde auf dem Umschlag stehen, aber das Honorar musste ich mit ihm teilen, und zwar fifty-fifty. Ich wusste gleich, dass das eine blöde Idee war. Ich erfinde Geschichten, ich renne ihnen nicht durch die halbe Stadt nach. Außerdem kontrolliere ich die Handlung gern selbst und hatte überhaupt kein Interesse daran, als Romanfigur aufzutreten. Schon gar nicht als ewiger Begleiter, Stichwortgeber und Assistent eines mürrischen Detektivs.

Aber irgendwie war es Hawthorne gelungen, mich rumzukriegen, und obwohl es mich beinahe umgebracht hätte, war das erste Buch fertig und musste nur noch gedruckt werden. Ich hatte mich von meiner Agentin und meiner Verlegerin sogar zu einem Drei-Buch-Vertrag überreden lassen. Als freier Schriftsteller weiß man so ein bisschen Planung durchaus zu schätzen, und es schadet auch nicht, wenn man weiß, was man als Nächstes zu schreiben hat. Alles andere kann einen ziemlich verunsichern.

Hawthorne wusste das, und so hatte ich schon den ganzen Sommer erwartet, dass plötzlich das Telefon klingeln würde. Und zugleich gehofft, dass es still bleiben würde. Hawthorne war ohne Zweifel brillant. Er hatte den ersten Fall gelöst, als ob es ein Kinderspiel wäre, obwohl er sehr kompliziert war und ich bis zuletzt alle Hinweise glatt übersehen hatte. Im persönlichen Umgang fand ich Hawthorne aber sehr anstrengend. Er war undurchsichtig, geheimniskrämerisch und verschwiegen und erzählte mir kaum etwas über sich selbst, obwohl ich doch sein Biograf werden sollte. Einige seiner Verhaltensweisen fand ich ziemlich empörend: Er rauchte, er fluchte die ganze Zeit und er nannte mich »Tony«. Wenn ich mir einen Helden aus dem richtigen Leben hätte suchen müssen, wäre er das bestimmt nicht gewesen.

Und jetzt war er schon wieder da. Nachdem ich gerade erst seit ein paar Wochen fertig war mit Ein perfider Plan. Ich hatte ihm das Manuskript nicht gezeigt, und er wusste nicht, was ich über ihn geschrieben hatte. Von mir aus hätte das auch so bleiben können, aber wenn das Buch erschien, würde er es wohl erfahren.

»Wer ist denn ermordet worden?«, fragte ich schließlich.

»Sein Name ist Richard Pryce«, sagte Hawthorne. Dann machte er eine Pause, als ob ich wissen müsste, von wem er redete. Ich wusste es aber nicht.

»Das ist ein Rechtsanwalt«, erklärte Hawthorne. »Ein Scheidungsanwalt. Kam in letzter Zeit oft in den Zeitungen vor und im Fernsehen. Einige seiner Kunden sind ziemlich berühmt. Prominente … und so.«

Während er redete, wurde mir bewusst, dass ich den Namen doch kannte. Es war im Radio von ihm die Rede gewesen, als ich zum Set gefahren wurde, aber ich war noch nicht richtig wach gewesen und hatte nicht zugehört. Richard Pryce wohnte in Highgate, da komme ich oft mit dem Hund vorbei. Nach Auskunft der Polizei war er in seinem eigenen Haus erschlagen worden. Mit einer Weinflasche. Ach ja, er hatte auch einen Spitznamen. Die »Magnolie aus Stahl«? Nein. Das war Fiona Shackleton, die Paul McCartney vertreten hatte bei seiner bitteren Trennung von Heather Mills. Pryce wurde der »Stumpfe Rasierer« genannt. Keine Ahnung, wieso.

»Wer hat ihn denn umgebracht?«, fragte ich.

Hawthorne sah mich betrübt an. »Wenn ich das wüsste, Sportsfreund, dann säße ich jetzt nicht hier.«

Mit einem hatte er recht. Ich war übermüdet. »Und die Polizei will, dass Sie den Fall untersuchen?«

»So ist es. Heute Morgen haben sie angerufen. Und ich habe gleich an Sie gedacht.«

»Das ist sehr nett von Ihnen. Aber was macht den Fall so besonders?«

Statt einer Antwort zog Hawthorne einen Packen Fotos aus seiner Jackentasche, und ich wappnete mich. Bei meinen Recherchen habe ich schon viele Tatortfotos gesehen und bin heute noch betroffen, wie schockierend sie sind. Es ist nicht nur die Gewalt, sondern auch die Kunstlosigkeit, die Tatsache, dass alles ohne Mitgefühl dargestellt wird. Das Fehlen von Farbe trägt dazu bei. Blut sieht noch scheußlicher aus, wenn es pechschwarz ist. Die Leichen, die man im Fernsehen sieht, sind einfach nur Schauspieler, die auf der Seite liegen. Mit echten Leichen haben sie gar nichts zu tun.

Das erste Bild war allerdings völlig normal. Es war ein inszeniertes Porträt von Richard Pryce, als er noch lebte. Es zeigte einen gutaussehenden, liebenswürdigen Mann mit einer Adlernase, einer hohen Stirn und grauen, gewellten Haaren, die bis in den Nacken reichten. Er trug einen Pullover und ein halbes Lächeln, als ob er sehr zufrieden mit sich wäre. Eine Vorahnung, dass er irgendwann zum Gegenstand einer Mordermittlung werden könnte, schien er jedenfalls nicht zu haben. Seine linke Hand lag auf seinem rechten Arm, und ich bemerkte ein goldenes Band an seinem Ringfinger. Er war also verheiratet.

Auf den nächsten Fotos war er schon tot. Jetzt lag er mit ausgestreckten Händen auf einem Parkettboden, und sein Körper war so verkrümmt, wie man es nur bei Leichen sieht. Rings um seinen Kopf sah man Glasscherben und große Mengen einer Flüssigkeit, die fast zu dünn für Blut schien. Wie sich später herausstellte, war es mit Blut gemischter Wein. Es waren Fotos von links, von rechts und von oben, und nichts blieb der Fantasie überlassen. Ich sah mir die restlichen Bilder an: ein aufgerissener Kehlkopf und Hals, starre Augen, zu Klauen verkrümmte Finger. Der Tod aus der Nähe. Ich fragte mich, wie Hawthorne die Bilder so schnell gekriegt hatte, und kam zu dem Ergebnis, dass sie ihm wahrscheinlich per E-Mail geschickt worden waren und er sie zu Hause ausgedruckt hatte.

»Richard Pryce wurde mit einer vollen Weinflasche an der Stirn und am Vorderschädel getroffen«, erklärte Hawthorne, und mir fiel auf, dass er automatisch in einen amtlichen Ton verfallen war. »Er hat schwere Prellungen und eine spinnwebartige Fraktur des Stirnbeins erlitten, aber das hat ihn nicht umgebracht. Die Flasche ist zerbrochen, und dadurch wurde der Aufprall gemindert. Pryce fiel zu Boden, aber der Täter behielt den Flaschenhals in der Faust. Er benutzte die zackigen Scherben als Waffe und stach damit auf die Kehle des Opfers ein.« Hawthorne zeigte auf die Nahaufnahmen. »Man kann das hier und hier sehen. Der zweite Stoß zertrennte die Schlüsselbeinvene und punktierte die Pleurahöhle.«

»Er ist verblutet«, sagte ich.

»Nein.« Hawthorne schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich hatte er dazu keine Zeit. Ich vermute vielmehr, dass er eine Luftembolie am Herzen erlitt, die ihn tötete.«

Irgendwelches Mitleid in seiner Stimme war nicht erkennbar. Er stellte einfach nur Fakten fest.

Ich griff nach meinem Kaffee, aber der hatte dieselbe Farbe wie das Blut auf den Fotos, und ich stellte ihn wieder hin, ohne getrunken zu haben. »Pryce war ein reicher Mann, der in einem teuren Haus wohnte«, sagte ich. »Da hätte jeder einbrechen können. Ich weiß nicht recht, was daran so Besonderes sein soll.«

»Nun, da gibt es so einiges«, sagte Hawthorne vergnügt. »Pryce hat gerade an einem großen Fall gearbeitet. Ein Streitwert von zehn Millionen, von denen die in Frage stehende Dame aber wohl nicht viel gesehen hat. Akira Anno. Klingelt da was bei Ihnen?«

Ich kannte sie tatsächlich, obwohl ich ihren Namen aus einsichtigen Gründen geändert habe. Akira Anno war eine Lyrikerin und Romanschriftstellerin und hielt ständig irgendwo Vorträge. Sie war zweimal auf der Shortlist für den Man Booker Prize, hatte den Costa Book Award, den T. ‌S. Eliot Preis, den Women's Prize for Fiction und erst vor kurzem einen PEN/Nabokov Award für ihren Beitrag zur internationalen Literatur erhalten. Bei dieser Gelegenheit waren insbesondere »ihre einzigartige Stimme und ihre zarte Prosa« gerühmt worden. Sie schrieb für die Sunday Times und andere seriöse Blätter – meist über Probleme des Feminismus und der Sexualpolitik. Sie war auch häufig im Radio. Ich hatte sie in Moral Maze und Loose Ends gehört.

»Akira Anno? Die hat doch Pryce erst kürzlich ein volles Glas Wein über den Kopf geschüttet«, sagte ich. Die Geschichte war durch die gesamte Klatschpresse und die sozialen Netzwerke gegangen, und ich konnte mich gut daran erinnern.

»Sie hat noch einiges mehr getan, Sportsfreund. Sie hat gedroht, ihm die Flasche über den Kopf zu hauen. Mitten in einem gutbesuchten Restaurant. Jede Menge Leute haben das gehört.«

»Dann hat sie ihn getötet!«

Hawthorne zuckte die Achseln, und ich wusste, was er meinte. Im richtigen Leben wäre es offensichtlich gewesen. Aber in der Welt, in der Hawthorne lebte – und in die er mich eingeladen hatte –, konnte eine solche Drohung genau das Gegenteil bedeuten.

»Hat sie ein Alibi?«, fragte ich.

»Sie ist gegenwärtig nicht zu Hause. Niemand scheint zu wissen, wo sie ist.« Hawthorne zog eine Zigarette heraus und drehte sie in den Fingern, ehe er sie ansteckte. Ich schob ihm meinen Styroporbecher hin, der immer noch halb voll Kaffee war, damit er ihn als Aschenbecher benutzte.

»Sie haben also eine Verdächtige«, sagte ich. »Sonst noch was?«

»Das wollte ich Ihnen gerade erzählen! Sein Haus wird zurzeit renoviert, und in der Eingangshalle standen offenbar jede Menge Farbtöpfe. Er hat natürlich kein gewöhnliches Zeug wie Dulux bestellt, oder so. Er musste diese Schickimicki-Farben von Farrow & Ball haben. Achtzig Pfund der Topf und Namen wie Vert de Terre, Efeu und Arsen.« Hawthorne nannte die Namen mit Abscheu.

»Das Arsen haben Sie aber erfunden«, sagte ich.

»Nein. Ich habe das Efeu erfunden. Die beiden anderen stehen so im Katalog. Die Farbe, die er sich ausgesucht hatte, hieß Green Smoke. Und jetzt kommt's, Tony. Als der Täter ihn niedergeschlagen hatte und Mr Pryce blutend auf seinem eleganten Parkettboden aus amerikanischer Eiche lag, griff der Mörder nach einem Pinsel und malte eine Botschaft an die Wand: eine dreistellige Zahl.«

»Was für eine Zahl?«

Hawthorne schob ein weiteres Foto über den Tisch. »Eins Acht Zwei«, sagte er.

»Ich nehme an, Sie wissen nicht, was das bedeutet?«, fragte ich.

»Das könnte sehr vieles bedeuten. In Nord-London gibt es einen 182er Bus. Aber ich glaube nicht, dass Mr Pryce viel Zeit für den öffentlichen Nahverkehr hatte. Es ist der Name eines Restaurants in Wembley. Es ist eine Abkürzung, die man in einer SMS benutzen kann, und es gibt auch ein viersitziges Flugzeug –«

»Schon gut«, sagte ich. »Sind Sie sicher, dass es der Mörder war?«

»Na ja, vielleicht sind es die Maler gewesen, aber das bezweifle ich irgendwie.«

»Sonst noch was?«

Hawthorne sah mich herausfordernd an. Seine Hand mit der Zigarette stoppte auf dem halben Weg zum Mund. »Ist das nicht genug?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

Das stimmte. Ich betrachtete den Mord an Richard Pryce bereits aus der Perspektive eines Schriftstellers, und es war mir eigentlich ganz egal, wer ihn umgebracht hatte. Akira Anno war jedenfalls die Hauptverdächtige, und obwohl ich es nie geschafft hatte, eins ihrer Bücher zu lesen, war das interessant, denn ich kannte sie. Andererseits musste auch mein neuer Krimi mindestens achtzigtausend Wörter haben, und ich fragte mich natürlich, ob der Fall so viel hergeben würde. Akira hatte ihn mit einer Flasche bedroht, und Pryce war durch Schläge und Stiche mit einer Flasche ermordet worden. Also hatte sie es getan. Und damit war die Geschichte schon wieder zu Ende.

Außerdem störte es mich, dass ein Scheidungsanwalt das Opfer war. Ich habe nichts gegen Anwälte, aber ich mag auch nichts mit ihnen zu tun haben. Ich gehe ihnen aus dem Weg, wenn es geht. Ich weiß nichts über Gesetze. Und ich habe nie verstanden, warum selbst die einfachsten Dinge – wie ein Eintrag ins Handelsregister – Monate dauern und tausende Pfund kosten kann, wenn sich ein Rechtsanwalt damit beschäftigt. Sogar mein Testament aufzusetzen war eine traumatische Erfahrung für mich, und als die Rechtsanwälte mich aus ihren Klauen ließen, hatte ich sehr viel weniger, was ich meinen Kindern werde vererben können. Über die ermordete Diana Cowper, die Mutter eines berühmten Schauspielers, hatte ich gern geschrieben, aber konnte mich dieser Richard Pryce, der vom Unglück anderer Leute lebte, auf ähnliche Art motivieren?

»Ja, es gibt noch etwas«, knurrte Hawthorne. Er hatte mich scharf beobachtet, so als könnte er meine Gedanken lesen – was er übrigens, wie er bei anderer Gelegenheit schon bewiesen hatte, tatsächlich konnte.

»Und das wäre?«

»Die Flasche«, sagte er. »Es war ein 1982er Château Lafite Rothschild, Pauillac.« Jedes der exotischen Worte klang aus seinem Mund wie eine Beleidigung. »Verstehen Sie was von Wein?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Aber soviel ich weiß, kostet die Flasche mindestens zweitausend Pfund.«

»Richard Pryce hatte also einen exquisiten Geschmack.«

Hawthorne schüttelte den Kopf. »Er war Abstinenzler. Er trank überhaupt keinen Alkohol.«

Ich überlegte. Eine öffentliche Drohung von einer bekannten feministischen Schriftstellerin. Eine rätselhafte Botschaft in grüner Farbe. Eine unglaublich teure Weinflasche. Das konnte ich mir im Klappentext alles vorstellen. Aber trotzdem …

»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich bin zurzeit ziemlich beschäftigt.«

Hawthorne sah sehr enttäuscht aus. »Was'n los, Sportsfreund? Ich dachte, Sie freuen sich!«

»Geben Sie mir Bedenkzeit?«

»Also, ich fahre jetzt hin …«

Ich ließ das einen Augenblick in der Luft hängen. Ich wollte Zeit gewinnen. Dann sagte ich: »Diese Sachen, die Sie da gerade gesagt haben – über Michael Kitchen, mein Telefon und so weiter. Woher wussten Sie das?«

Er durchschaute sofort, was ich wollte. »Ach, das war nichts.«

»Nur rein interessehalber.« Ich spitzte die Lippen. »Wenn es noch ein Buch geben soll …«

»Also gut, Sportsfreund. Das war ziemlich einfach.«

Ich rührte mich nicht, und er wusste, dass er noch etwas nachlegen musste. »Sie haben sich ein bisschen übereilt angezogen. Der zweite Knopf von Ihrem Hemd steckt im dritten Knopfloch, eigentlich ein echter Klassiker. Als Sie sich rasiert haben, sind ein paar Borsten stehengeblieben. Direkt unter dem linken Nasenloch. Ich kann sie von hier aus sehen, und sie sind kein schöner Anblick, wenn ich ganz ehrlich bin. Außerdem haben Sie Zahnpasta auf Ihrer Jacke. Sie sind also aufgestanden, haben sich hastig angezogen und sind dann erst ins Bad gerannt. Scheint so, als hätte Ihr Wecker Sie nicht geweckt.«

»Ich hab keinen Wecker.«

»Aber Sie haben ein Smartphone und das hätte Sie auch geweckt, aber aus irgendeinem Grund haben Sie es nicht benutzt.«

»Das heißt doch nicht automatisch, dass es verschwunden ist.«

»Nun ja, ich habe Sie zweimal angerufen, um meinen Besuch anzukündigen, aber Sie haben nicht abgenommen. Es hat übrigens auch niemand sonst abgenommen, und die Mailbox sprang auch nicht sofort an. Das bedeutet vermutlich, dass es noch eingeschaltet ist. Wahrscheinlich haben Sie es auf stumm geschaltet, und es liegt irgendwo zu Hause bei Ihnen rum. Das erklärt wahrscheinlich auch Ihre Panik: Wenn Sie gewusst hätten, ob das mit dem Fahrer klappt, wären Sie viel entspannter gewesen.«

»Woher wissen Sie, dass ich abgeholt worden bin?«, fragte ich. »Ich fahre auch gern mit der U-Bahn.«

»Na klar!«, sagte er. »Aber Sie sind doch der Autor von Foyle's War. Natürlich lassen die Sie von einem Fahrer abholen. Außerdem hat es bis vor einer Stunde noch heftig geregnet, und Sie sind knochentrocken. Schauen Sie sich mal Ihre Schuhe an! Sie sind heute keine zehn Schritte gegangen.«

»Und was ist mit Michael Kitchen? Haben Sie mit ihm geredet?«

»Das war nicht nötig.« Er tippte mit dem Finger auf das Drehbuch, das er gelesen hatte, als ich hereinkam. »Ich hab gerade mal da reingeschaut. Wie es scheint, sind etliche Szenen geändert worden, in denen er auftritt. Sieht so aus, als wäre er nicht so glücklich mit seiner Rolle.«

»Er ist absolut glücklich. Ich gebe dem Text nur den letzten Schliff«, knurrte ich.

Hawthorne warf einen Blick auf den Papierkorb, in dem sich zerknülltes Schmierpapier häufte. »Ganze Menge Feinschliff«, sagte er sachlich.

Es gab keinen Grund, noch länger hier herumzusitzen. Und nach seinem katastrophalen Auftritt bei den Dreharbeiten wollte ich auch nicht, dass uns die Leute zusammen sahen.

»Okay«, sagte ich. »Wir gehen da hinten durch die Seitenstraße.«