Sharon Cameron

Das Mädchen, das ein Stück Welt rettete

Nach einer wahren Geschichte

Aus dem amerikanischen Englisch von Katharina Förs und Naemi Schuhmacher

Insel Verlag

Für Helena, Małgosia, Ed, Lori und Mia


IM GEDENKEN AN
Izaac, Lea, Chaim, Izydor und Ernestyna Diamant
und all die Juden und Polen von Przemyśl,
die ihr Leben an den Hass verloren haben

1

Przemyśl, Polen November 1942

Da ist jemand. Draußen, im Dunkeln.

Ich öffne die Augen.

Und das Dunkel ist genauso wie immer. Eine leere Seite. Ich rieche den Kohl, den Emilika zwei Stockwerke unter uns gekocht hat. Ich spüre den Seufzer neben mir – das ist der Atem meiner schlafenden Schwester. Aber das Dunkel hat sich auch verändert. Es trägt ein Echo in sich. Ein Geräusch, das meinen Ohren entgangen ist.

Da ist jemand.

Jetzt bin ich wach.

Ich schlage die Decke zurück, leise und lauschend, strecke meine Beine hinunter zum Boden. Eine Matratzenfeder knallt wie ein Schuss. Meine Schwester stöhnt auf, rührt sich aber nicht.

Wenn da jemand ist, dann jedenfalls nicht hier im Zimmer.

Ich schleiche barfuß und auf Zehenspitzen über die Dielen und lege einen Finger auf den Rand des kleinen Teppichs, den ich vors Fenster genagelt habe. Die Straßenlaternen blenden mich, harte Schneekristalle fallen glitzernd durch den Lichtkegel. Aber der Gehweg unter dem Haus ist verlassen, die Fenster gegenüber sind Reihen toter Augen, abgedunkelt mit Vorhängen und Kleidungsstücken und Teppichen. Genau wie meine. In Przemyśl ist Licht wie ein Werbeplakat für Süßigkeiten. Und es ist nicht klug, darauf hinzuweisen, wo Süßes zu holen ist.

Ich lasse den Teppich wieder fallen und gehe zur Tür. Bevor ich den Schlüssel umdrehe, drücke ich ein Ohr an das Holz. Der leere Flur draußen führt zu den anderen leeren Räumen der leeren Wohnung. Wie es sein sollte. Alles ist, wie es sein sollte.

Und dann zerreißt ein Geräusch die Stille. Lauter als ein Schuss. Eine Granate der Angst, die in mein Herz fällt. Und ich erkenne das Geräusch, das mir entgangen war.

Jemand klopft an meine Wohnungstür.

Sie wissen es. Sie wissen es. Sie wissen es.

Die Worte hämmern im Takt meines Herzschlags.

Wieder knallt eine Matratzenfeder, und ich spüre, wie Helena sich hinter mir nähert. Sagen tut sie nichts. Sie ist sechs Jahre alt und man braucht ihr nicht zu erklären, dass jetzt keine Zeit für Fragen ist.

Das Klopfen ertönt erneut, diesmal noch lauter, und durch den Türspalt flüstert jemand.

»Stefania?«

Das ist ein Trick. Die Gestapo will mich dazu bringen, ohne weitere Umstände zu öffnen. Damit sie die Tür nicht aufbrechen müssen. Damit sie irgendeinem netten deutschen Offizier und seiner gesetzestreuen Frau mit sauberem Haar und geflickten Strümpfen eine schöne, unbeschädigte Wohnung übergeben können.

Vielleicht werden sie uns deshalb auch erst draußen erschießen, wie Herrn Schwarzer.

Wieder wird geflüstert.

»Mach die Tür auf! Fusia!«

Unter diesem Namen kennt mich die Gestapo nicht.

Ich renne mit ausgestreckten Händen zur Tür, schon suchen meine Finger den kürzlich reparierten Riegel. Ich weiß, dass er es nicht ist. Er kann es gar nicht sein. Aber ich taste trotzdem herum und drehe den Schlüssel im Schloss, reiße dann die Tür auf. Helena ringt nach Luft. Oder vielleicht war ich es selbst. Denn die nackte Glühbirne, die im Hausflur hängt, hat mir gezeigt, dass er es nicht ist. Es ist keineswegs der, an den ich gedacht hatte.

»Max!«, flüstere ich.

2

1936

Vor Przemyśl war mein Leben voller Hühner. Und Pferde. Sauberer Luft und Bäume und ausgedehnter brauner Felder, die sich mit den Hügeln wölbten wie Flicken auf einer knitterigen Decke. Im Frühling und Herbst rannte ich auf gewundenen Straßen zur Schule und aß, wenn im Winter der Schnee zu hoch war, in unserer dampfigen Küche Roggensuppe mit Brot. Und jeden Sonntag, ob es stürmte oder schneite, fuhr ich zur Messe nach Bircza: Auf einem Heuwagen, dicht gedrängt mit meinen Geschwistern, inzwischen acht an der Zahl. Es war eine perfekte Kindheit.

Und ich fand es schrecklich. Der Schweinestall stank, ebenso wie das Plumpsklo, die Abfallgrube und die Feldarbeiter, die in der Sonne ackerten. Ich hasste die Dreckhaufen, die sich böswillig im Gras versteckten, damit ich mir die Schuhe schmutzig machte. Schrecklich, wie rot die Hände meiner Mutter waren, wenn sie die Wäsche geschrubbt oder dem Baby einer anderen Frau auf die Welt geholfen hatte. Und ich hasste das nervige und endlose Gackern unserer Hühner. Sie hörten einfach nie auf. Ich war mir sicher, dass sie niemals schliefen. Außer dem verrückten Hahn, der hartnäckig den aufgehenden Mond ankrähte anstatt die Sonne.

Die Hühner zu rupfen, machte mir nichts aus.

Mit elf Jahren versuchte ich zum ersten Mal abzuhauen. Mama nahm mich auf dem Postwagen mit in die Stadt, um zwei meiner erwachsenen Schwestern zu besuchen, die dort arbeiteten. Ein Geburtstagsgeschenk, wie sie sagte. Mein Geburtstag fiel in die Karwoche. Wir hatten alle um Ostern herum Geburtstag, alle neun, oder jedenfalls wurden alle Geburtstage dann gefeiert. Mama hatte nicht die Zeit, sich unsere richtigen Geburtstage zu merken. Oder unsere richtigen Namen. Ich wurde nie Stefania genannt. Ich war Stefi. Oder Stefusia. Oder Stefushka. Aber meistens einfach nur Fusia.

Wenn ich neun Kinder hätte, könnte ich mir ihre Namen auch nicht merken.

Mama bezahlte den Postwagenfahrer und nahm mich dann an die Hand. Ihre Haut war rau und kratzig. Mama passte meistens gut auf mich auf, ebenso mein Tata, als er noch lebte. Sie kümmerten sich gut um uns alle, aber ich wollte nicht an der Hand meiner Mutter gehen.

Jetzt vermisse ich ihre Hände manchmal.

Ich zerrte und wand mich auf dem Weg hinein nach Przemyśl, doch irgendwann vergaß ich, wie peinlich mir das Händchenhalten war. Wagen rumpelten über das Kopfsteinpflaster, Autohupen blökten wie Schafe. Ein Zug kreischte Rauch in den Himmel. Und das Gezeter der Bauersfrauen, die auf dem Markt lauthals ihre Waren feilboten, gefiel mir so viel besser als das der Hühner. Es war Musik in meinen Ohren. Eine Blaskappelle. Eine Symphonie.

Wir kauften an Marktständen und in Läden mit Schaufenstern ein. Ein Kleid für Mama, Schuhe für mich und ein Häubchen für Helena, das Baby. Ich zog rote Seidenbänder und die glänzende Silberverpackung von einer Schokoladentafel. Meine Schwestern luden uns in der Wohnung im dritten Stock, die sie sich teilten, zu einem eleganten Mittagessen ein; das bedeutete, dass das Fleisch nicht aus einem Metzgerladen kam, sondern aus einer Blechbüchse, und auf einer sauberen Tischdecke serviert wurde. Mama schnaufte schon bevor wir dort oben waren, ich hingegen wäre die Treppe am liebsten wieder hinuntergelaufen, um noch einmal hinaufzurennen.

Mama und meine Schwestern tranken Tee, während ich mir die Nase am Fensterglas plattdrückte und beobachte, was sich auf der Straße abspielte. Als wir gehen mussten, weinte ich. Bettelte. Stampfte mit den Füßen. Drohte und flehte, hierbleiben zu dürfen. Ich würde auf dem Boden schlafen. Oder unter der Treppe. Meine Schwestern würden nichts dagegen haben. Ich würde ihnen keine Mühe machen. Aber jetzt gerade machte ich große Mühe. Mamas raue Hände zerrten mich in den Postwagen.

Erst achtzehn Monate später durfte ich wieder in die Stadt. Als ich jetzt in den Lärm von Przemyśl eintauchte, war ich schon fast dreizehn. Älter. Klüger. Mein Kleid war zu eng für meinen Busen. Und ich wusste, wie ich mit Mama umgehen musste. Ich sprach im Flüsterton mit meinen Schwestern, denen ich einen Monat zuvor schon einen Brief geschickt hatte. Ich tupfte mir nach dem Mittagessen die Mundwinkel ab, schlug die Beine übereinander, trank den Tee und hörte zu, wie Mama erzählte. Als es fast Zeit war, in den Wagen zu steigen, offenbarte ich ihr, dass ich nicht mitfahren würde.

Mama bettelte. Sie flehte. Sie weinte sogar ein bisschen. Mit dem Fuß stampfte sie nicht auf. Ich erzählte ihr, dass Marysia eine Stelle für mich gefunden hatte. »Das stimmt, Mama«, sagte Marysia. »Frau Diamant sucht eine Aushilfe für ihr Geschäft. Gleich hier in der Nähe.« Und Angia hatte hinter dem Sofa ein Klappbett aufgestellt. »Mit zwei Decken, Mama. Und jeden Sonntag gehen wir zur Messe«, versprach Angia. Ich erklärte, dass ich einen Teil meines Lohnes an meine Schwestern abtreten würde, damit sie mich versorgen konnten. Und dass ich sogar noch einen größeren Teil nach Hause schicken würde, damit Mama einen weiteren Knecht anstellen konnte. Oder noch ein paar Hühner kaufen. »Wäre das nicht eine große Hilfe, Mama?« Marysia lächelte.

»Aber, Fusia, was ist mit deiner Ausbildung?«, zauderte meine Mutter.

Ich strich mein Kleid glatt. »Przemyśl wird für meine Ausbildung sorgen, Mama.«

Sie nahm den Postwagen ohne mich.

Die Zeit bis zu meinem ersten Arbeitstag im Laden der Diamants verging wie im Flug. Ich schlug Tauben in die Flucht, spähte in schmale Gassen zwischen den Gebäuden, betrachtete das Schaufenster eines Fotostudios und spielte mit einer streunenden Katze. Das Läuten der Kirchenglocken klang durch den Himmel, der von einem tiefen, vollkommenen Blau war.

Als ich schließlich die Tür zum Laden öffnete, klingelte eine kleinere Glocke, und eine Frau, die hinter einem Tresen saß, blickte auf. Es roch nach frischem Brot, Äpfeln, Packpapier und Schnur, und ich sah viele Reihen verpackter Pralinen hinter Glas. Die Frau musterte mich von oben bis unten, während ich auf den Zehen wippte. Ihr Po hing auf beiden Seiten des Stuhls über.

»So«, sagte sie. »Was hat mir die Sonne denn da geschickt? Du bist also das Podgórska-Mädchen. Wie heißt du, mein ketzele

»Stefania.« Der Klang meines richtigen Namens ließ mich angenehm erschaudern.

»Und ich bin Frau Diamant. Kannst du lesen, Stefania?«

»Ja, Frau Diamant.«

»Kannst du schreiben?«

Ich nickte. So aus der Welt war unser Bauernhof nun auch nicht.

»Gut. Sehr gut. Dann zähl doch bitte mal alle Waren durch, die ich in den Regalen habe.«

Ich verstaute meine Jacke und mein Käsebrot für mittags in einer Ecke hinter dem Tresen, und Frau Diamant reichte mir Papier, das auf ein Brett geklemmt war, an dessen einer Ecke ein Bleistiftstummel an einer Schnur hing. Meine Schuhe klackerten hörbar auf dem knarzenden Fußboden. Das klang irgendwie wichtig, und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Ich schrieb das Inventar in großen, klaren Lettern auf. Frau Diamant war mit Zahlenreihen in ihrem Buch beschäftigt und beobachtete mich gleichzeitig. Als ich gerade die Wasserflaschen zählte, starrten mich von der anderen Seite des Regals zwei braune Augen an.

»Singst du immer bei der Arbeit?«, fragte eine Stimme. Eine Jungenstimme. Eine tiefe Jungenstimme.

Ich presste mein Schreibbrett an die Brust und wurde rot. Ich hatte gesungen. Vor mich hin gesungen. Wie ein kleines Mädchen.

Ich war ein kleines Mädchen. Das wusste ich damals bloß noch nicht.

Die Augen zwischen den Wasserflaschen wurden schmaler, und dann waren sie verschwunden. Um gleich darauf oberhalb der Regale aufzutauchen und über sie hinwegzulinsen. Ein hochgewachsener Junge, noch dünn vom schnellen Wachstum, zwei dunkle Augenbrauen, die fast bis zu seiner schwarzen, lockigen Mähne reichten. Er grinste.

»Hör jetzt bloß nicht auf«, sagte er. »Du bist meine Morgenunterhaltung. Wie heißt du?«

»Stefania.«

Er legte den Kopf schief. »Aber so nennt dich keiner, oder?«

Womit er recht hatte.

»Also, wie wirst du genannt? Stefi?«

»Stefushka.«

Er wartete.

»Und Stefusia«, fügte ich hinzu. »Und Fusia. Aber mir wäre es lieber …«

»Stefi, Stefushka, Stefusia, Fusia.« Der Junge schüttelte den Kopf. »Zu spät. Ich bleibe bei Fusia. Sing mir noch ein Lied, Fusia. Vielleicht wird Mame noch Eintritt verlangen …«

»Izio!«, rief Frau Diamant von ihrem Stuhl aus. »Lass das Kind in Ruhe, bubbala. Sie hat heute ihren ersten Tag. Nemen dejn tukhes tsu schule

»Mame …«

»Ab in die Schule!«

Er zuckte die Achseln und rannte davon, um sich zwei anderen Jungen anzuschließen, die an der Ladentür auf ihn warteten. Einer war größer, der andere kleiner, aber sie hatten genauso dunkle Haare wie er. Und alle drei waren älter als ich.

Brüder, dachte ich. Mit Brüdern kannte ich mich aus. Gegen die musste man sich behaupten lernen.

Ich wandte mich wieder meiner Arbeit zu, setzte ein Häkchen auf das Papier und begann mit lauter Stimme einen Tango zu singen, den meine Mama jedes Mal abschaltete, wenn er im Radio lief. Was natürlich bedeutete, dass ich ihn mir anhörte, so oft ich konnte.

Deine Worte lassen mich aufsteigen in die Gewitterwolken

Dein Lachen ist ein kalter, nasser Zauber …

Ich spürte, wie Spannung sich im Raum ausbreitete.

Ich will deine windigen Worte nicht. Und nicht

Dein triefendes Lachen.

Ich will nur, dass du abhaust in die …

Das nächste Wort des Textes sprach ich nicht aus, sondern fügte stattdessen das Wort »Schule« ein. Lachen explodierte hinter mir, und ich verkniff mir das Lächeln, während die Jungs einander anstießen und dann zur Tür hinausrannten. Die Ladenglocke klingelte. Als ich verstohlen zu Frau Diamant hinüberblickte, schüttelte sie den Kopf, doch ihre Augen lachten, ebenso wie die ihres Sohnes.

Und das wurde unser Ritual. Jeden Morgen streckte Izydor Diamant, genannt Izio, den Kopf in den Laden und sagte: »Sing für mich, Fusia!«. Dann erfand ich irgendein freches Lied, das ihm signalisierte, er solle sich verziehen. Schon eine Woche später nannte mich jeder in der Mickiewicz-Straße Fusia.

Ich erfuhr auch die Namen der anderen Brüder. Henek, der jüngste, der keine Zeit für mich hatte, und Max, der ein wenig älter war als Izio und bereits eine Lehre begonnen hatte. Er redete nicht oft mit mir, sondern lächelte mich nur an. Es gab noch einen weiteren Bruder, Chaim, der in einer italienischen Stadt, deren Namen ich noch nie gehört hatte, Medizin studierte; außerdem eine Schwester, sie wohnte nicht weit weg, in Lwów; und Herrn Diamant, der das Haus hütete, weil er sich von irgendeinem Leiden erholte, das mit seinem Blut zu tun hatte. Ich erfuhr, dass ich samstags nicht arbeiten musste, weil die Diamants Juden waren, und dass Frau Diamant exzellente babka machte.

Ich fegte die Böden, verpackte Pakete und staubte die Regale ab. Frau Diamant sagte, ich würde schnell lernen. Schon bald schickte sie mich zu Botengängen auf den Markt, wo die eigentlichen Geschäfte gemacht wurden, und dort sah ich zum ersten Mal eine richtige Schlägerei. Zwei Jungen bearbeiteten einander mit Fäusten und stießen sich gegenseitig in den spätsommerlichen Straßendreck.

Das hier hatte nichts mit dem hitzigen Temperament meiner Brüder oder der Jungen in meiner Schule in Bircza zu tun. Es war einfach nur grausig.

Ein Polizist zertrat auf dem Gehweg seine Zigarette und sah zu, und schließlich schob sich ein Mann mit schmutzigen Hosen und einem Ölstreifen auf der Wange durch den Kreis der Zuschauer, packte die beiden Jungen am Kragen und trennte sie, wobei sie weiter zischten und spuckten wie Katzen. Er schüttelte den einen mit seiner rechten Hand, bis ich die Zähne klappern zu hören glaubte.

»Bist du verrückt geworden, Oskar?«, fragte der Mann. »Warum prügelst du dich auf der Straße wie ein Verbrecher?«

»Er hat mich geschlagen!«, stieß Oskar hervor.

»Ach, wirklich, er hat dich geschlagen, ja? Ohne Grund hat er dich geschlagen?« Der Mann sah den anderen Jungen an, und die Zuschauer wandten ihm ebenfalls den Blick zu.

Der andere Junge hob seine Mütze auf und wischte sich das Blut von der Nase. »Er hat mich einen dreckigen Juden genannt.«

Der Mann schüttelte den Kopf und packte Oskar dann erneut. »Was ist bloß los mit dir? Schau dir diesen Jungen an …« Oskar schielte. »Er hat Arme und Beine, und in seinen Adern fließt Blut. Was geht es dich an, ob seine Familie Moses folgt? Und jetzt reich dem Jungen die Hand. Na los! Sonst erzähle ich es deiner Mutter.«

Die Jungen gaben einander die Hand, obwohl es nicht aussah, als täten sie es gern, und als sie auseinandergingen und die Menge sich zerstreute, hörte ich hinter mir eine Frau murmeln: »Dreckiger Jude«.

Ich erhandelte für Frau Diamant Pflaumen zu einem günstigen Preis und rannte zurück zum Laden. Dort schlüpfte ich als Erstes in den Waschraum, wo ich mich vor den Spiegel stellte. Ich berührte mein Gesicht, die Haut an meinem Arm und mein braunes Haar. Menschen hassten diesen Jungen, weil er ein Jude war. Konnte es passieren, dass die Diamants mich hassten, weil ich katholisch war?

An diesem Nachmittag überredete ich Frau Diamant, sich von ihrem Stuhl zu erheben und Übungen zu machen, die ich mir bei Schülern abgeschaut hatte, die draußen vor der Turnhalle Sport trieben. Ein paar hübsch verpackte Pralinen fielen dabei aus den Regalen auf den Boden, und Frau Diamant konnte sich kaum halten vor Lachen und wischte sich den faltigen Hals.

»Manchmal, mein ketzele«, ich hatte inzwischen herausgefunden, dass das »Kätzchen« hieß – »ist der Sonnenschein, den du uns bringst, ganz schön heiß!« Dann reichte sie mir eine Praline. Auf ihrem weichen Gesicht zeigten sich Grübchen, während sie auch für sich eine auswickelte.

Und plötzlich wusste ich, dass Frau Diamant einsam gewesen war, bevor ich in ihren Laden kam, und dass sie jetzt nicht mehr einsam war. Dass ich auf dem Bauernhof einsam gewesen war, inmitten von Geschwistern, die ihr eigenes Leben führten, mit einer Mutter, die zu viele Sorgen hatte, und einem Stall voller Hühner. Und auch ich war jetzt nicht mehr einsam.

An diesem Sonntag dankte ich, als ich mit Angia die Messe besuchte, Gott für die Diamants. Schließlich kam Moses auch in meiner Bibel vor, und ich war sicher, dass Gott ihn geliebt hatte.

Meine Ausbildung hatte begonnen.

Izio brachte mir derbe jiddische Lieder bei, und ich beschloss, in den Laden keine mit Dosenschinken belegten Brote mitzubringen, obwohl Frau Diamant sagte, ihr mache das nichts aus. Als der Winter hereinbrach und es früh dunkel wurde, aß ich um die Ecke in der Wohnung der Diamants zu Abend, wo eine Horde fast erwachsener Jungs über Medizin sprach und Herr Diamant Fragen stellte wie »Was ist besser? Ein guter Krieg oder ein schlechter Frieden?« Dann lauschten wir ihren Argumenten, während Herr Diamant sich zurücklehnte und eine Zigarette nach der anderen rauchte. An solchen Abenden begleitete Izio mich durch den tiefen, kalten, vom Licht der Straßenlaternen vergoldeten Schnee nach Hause.

Frau Diamant machte jeden Morgen ihre Übungen mit mir. Sie musste ihre Kleider einnähen. Ich musste meine auslassen. Ich lernte, wie man einen Jungen so anlächelte, dass er statt einer Praline zwei kaufte, und noch netter zu lächeln, wenn er die zweite mir in die Hand legte. Sobald dann die Ladenglocke klingelte, schob ich die zweite Praline zurück in die Auslage, legte die Münzen in die Kasse und brachte Frau Diamant damit zum Schmunzeln. Ich drehte mir die Haare zu Locken ein, lieh mir den Lippenstift meiner Schwester und summte vor mich hin, während im Radio die Nachricht vom Einmarsch der Deutschen in der Tschechoslowakei verkündet wurde. Und als Angia nach Krakau zog und Marysia sich am anderen Ende der Stadt eine Wohnung nehmen wollte, schnalzte Frau Diamant nur mit der Zunge, um ihre Augen zeichneten sich Lachfältchen ab und sie sagte: »Dann wirst du eben bei uns wohnen, mein ketzele

In der Wohnung der Diamants war kein Zimmer frei, also schufen sie mir eines: Am Ende des Flurs stellten sie ein Feldbett und einen Tisch mit Öllampe auf, hängten einen Spiegel darüber und spannten von Wand zu Wand einen braunen Vorhang, damit ich meine Privatsphäre hatte. Ich hängte mein Bild von Christus und der Jungfrau Maria an eine Wand und meinen Rosenkranz an den Bettpfosten. Unter meinem Bett versteckte Frau Diamant einen Stapel Bliny, weil Herr Diamant an Jom Kippur fastete. Das Lampenlicht färbte meine Höhle rötlich.

Aber mein Unterschlupf hatte kein Fenster. Also stahl ich mich in heißen Nächten ins Wohnzimmer, wo das Fenster offen stand, um den kalten Zigarettenrauch hinauszulassen. Dann saß ich bei ausgeschaltetem Licht auf dem Fensterbrett, die nackten Füße an den Rahmen gestützt, und lauschte dem Kommen und Gehen der Züge am Bahnhof – saß zwischen der Wohnung, in der alles schlief, und der Stadt, die unter mir in der dunklen Tiefe lag.

Damals wusste ich noch nicht, dass mit der Dunkelheit die Angst kommt.

Manchmal besuchte mich Izio, lümmelte sich in einen Sessel oder legte sich, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, auf den Teppich. Er erzählte flüsternd von seinen neuen Kursen an der Universität, den Orten auf der Welt, an die er unbedingt reisen wollte (Palästina und die Türkei), und den Teilen der Welt, die ich unbedingt sehen wollte (Amerika). Außerdem fragte er mich nach meiner Meinung zu bestimmten Themen – ob ich zum Beispiel glaubte, dass Hitler in Polen einmarschieren würde. Doch Krieg war keineswegs das, was in jenen Nächten mein Denken beherrschte. Izio war achtzehn geworden. Er war jetzt erwachsen. Und seine geschwungenen Wimpern sahen aus wie Ruß an seinen Lidern.

Auch Max kam bisweilen ans Fenster in jenem letzten Sommer. Er war kleiner und stiller als sein Bruder, doch wenn er sprach, dann brachte er einen gewaltig zum Nachdenken über das Leben als solches. Oder er erzählte so schlechte Witze, dass mir vom Lachen die Rippen schmerzten. Izio schlang die Arme um seinen Oberkörper, um das Lachen zu dämpfen, damit die Mutter nicht aufwachte.

Mir gefiel es, wenn Max Izio zum Lachen brachte.

Doch nach einer Weile kam Max nicht mehr ans Fenster. So blieben nur Izio und ich, während der Rest der Welt schlief.

Wahrscheinlich wusste es Max schon vor uns.

Der Sommer verging, es wurde kühler, der letzte Herbst brach an. Gelbe Blätter wehten durchs Fenster herein und die Luft roch nach Kohlenrauch. Da nahm Izio im Dunkeln meine Hand. Wir versprachen einander, es keiner Menschenseele zu sagen. Und zwei Wochen später fielen die ersten deutschen Bomben auf Przemyśl.