Lily Brett

Alt sind nur die anderen

Aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz

Suhrkamp Verlag

Für David, in den ich mich, zwei oder vielleicht drei Tage nachdem ich ihn kennenlernte, verliebt habe.

Und für meine Herzensfreundin Audette Exel.

Nierenarterien und Speeddating

Sich jung zu fühlen fällt in New York leichter als an anderen Orten. Hier herrscht die Überzeugung, wenn nicht gar der Glaube, dass jeder jung ist. Üblicherweise wird man mit »junge Dame« angesprochen. »Was kann ich für die junge Dame tun?«, fragt mich der Mann in der Reinigung um die Ecke, wenn ich den Laden betrete. Oft ist das früh am Morgen, und ich würde am liebsten lachen. Ich bin nicht jung. Ich bin Ende sechzig.

Nicht, dass ich mich alt fühlen würde. Ich sollte es, aber ich tue es nicht. Teilweise fühle ich mich noch immer wie eine Zwanzigjährige. Obwohl ich mein halbes Erwachsenenleben und drei Viertel meines Einkommens auf meine Psychoanalyse verwendet habe, bin ich nach wie vor häufig entscheidungsscheu, zögerlich, besorgt oder voller Ängste. Es ist nicht so einfach, sich in New York alt zu fühlen.

Eine andere verbreitete Anrede lautet »Miss«. Guten Morgen, Miss. Entschuldigen Sie, Miss. Man wird »Miss« genannt, ganz gleich, ob man eine zehnjährige Zahnspangenträgerin ist oder achtzig und am Stock geht. Der Sprachgebrauch der New Yorker ist geprägt von ewiger Jugendlichkeit. Frauen jeden Alters können von ihrem »Boyfriend« sprechen. Man sollte meinen, dieser Begriff sei nur für Teenager angemessen. Aber nicht in New York. Da kann man selbst als Sechzigjährige, Siebzigjährige oder Achtzigjährige zu Dates gehen.

Mein Mann und ich saßen im Cupping Room Café, einem sehr alten und unspektakulären Restaurant in SoHo. Mir war nicht wohl. Mein Arzt hatte mir gesagt, ich müsse eine Ultraschalluntersuchung meiner Nierenarterien vornehmen lassen. Er hegte die Befürchtung, eine der Arterien habe sich verengt. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass ich Nierenarterien besitze. Ich versuche, nicht zu viel an meinen Körper zu denken und daran, wie viele Teile unseres Körpers harmonisch und symmetrisch arbeiten müssen, damit wir funktionsfähig sind. Die potenzielle Verengung meiner neu entdeckten Nierenarterien hatte mich sehr beunruhigt.

Als wir uns gesetzt hatten, sah ich mich um und merkte, dass etwas nicht stimmte. Die Gäste sahen anders aus als die übliche Kundschaft. Das waren sie auch nicht. Der Kellner sagte mir, es seien Teilnehmer eines Speeddating-Dinners. Ein Speeddating-Dinner! Ich war neugierig, ließ meinen Mann sitzen und näherte mich dem Zentrum des Geschehens. Jeder der Speeddating-Gäste verbrachte sechs Minuten mit einem Gast des anderen Geschlechts. Nach sechs Minuten musste man den Partner wechseln.

Ich war völlig gebannt. Alle Frauen hatten sich schick gemacht. Man konnte sehen, wie viel Mühe sie sich gegeben hatten. Die Männer nicht. Sie wussten, dass es nicht nötig war. Sie wussten, dass sie begehrenswert waren, solange sie noch schnaufen konnten. Ich beobachtete die Frauen, die sich bemühten, und war vom Beobachten so absorbiert, dass der Mann, der das Speeddating-Dinner veranstaltete, zu mir herkam und mich fragte, ob ich an einem Speeddating-Dinner interessiert sei. Es gebe, sagte er, Speeddating-Veranstaltungen für alle Altersgruppen. Und die Erfolgsquote sei ziemlich hoch, fügte er hinzu.

Es ist wirklich nicht einfach, sich alt vorzukommen oder sich über Nierenarterien Sorgen zu machen, wenn man gerade zu einem Speeddating-Dinner eingeladen wurde.

Früher war mehr Rock 'n' Roll

Ein unscheinbares Café in der 14th Street. Am Nebentisch spricht ein Mann um die dreißig in ernsthaftem Ton über Cher. Ich freue mich, dass Leute noch immer ernsthaft über Cher sprechen. Ende der sechziger Jahre, als ich Rockjournalistin war, habe ich sie mehrmals interviewt. Ihr Können und ihre Fähigkeiten machen mich fast ein bisschen stolz. »Cher ist dreiundneunzig«, sagt der Mann zu der jungen Frau, die wie gebannt an seinen Lippen hängt. Sie wirkt beeindruckt. »Cher ist dreiundneunzig und hat noch einen dichten Haarschopf«, sagt er. Ich funkle ihn zornig an. Er schenkt mir keine Beachtung. Cher und ich sind gleichaltrig. Weder sie noch ich sind dreiundneunzig.

Ich fühle mich stellvertretend gekränkt. Das Älterwerden ist unerquicklich genug, auch ohne in meinem Alter für eine Dreiundneunzigjährige gehalten zu werden. Neulich empfahl mir eine Freundin, nie mit Brille in den Spiegel zu sehen. Ich habe mir verkniffen, ihr zu sagen, dass ich ohne Brille nicht sehr viel sehen kann. Sie hat es sicher gut gemeint. Ich runzle inzwischen die Stirn, wenn ich in den Spiegel sehe. Aber das habe ich wahrscheinlich schon mein Lebtag getan.

Das Älterwerden macht mir mehr zu schaffen, als ich mir eingestehen mag. Im Supermarkt marschiere ich an den wachsenden Regalen mit Inkontinenzwindeln so schnell vorbei, als befürchtete ich, meine Blase könnte aus eigenen Stücken zu lecken beginnen, sollte ich stehen bleiben oder einer Packung Inkontinenzwindeln zu nahe kommen.

Ich verlasse das Café. Ich habe einen Routinetermin bei meinem Dermatologen. Ich versuche, alle Gedanken daran zu verscheuchen, dass Cher oder ich dreiundneunzig Jahre alt wären.

Bei meinem Dermatologen stehe ich fast nackt da, während er meinen Körper sorgfältig begutachtet. Er trägt eine Vergrößerungsbrille, die aussieht, als könnte der Arzt mit ihr durch mehrere Hautschichten direkt Leber oder Lunge betrachten.

Er beendet seine Untersuchung, tritt zurück und sagt: »Sie sind in bester Form.« Ich sehe ihn an. »Kein Mensch, der bei Trost ist, könnte mich ansehen und so etwas sagen«, sage ich. Das ist wahr. Alles an meinem Körper ist abgesackt und schlaffer als früher. Der Arzt lacht. Ich begreife, dass er als Dermatologe gesprochen hat. Er wollte nur sagen, dass er keine bösartigen Hautveränderungen entdeckt hat.

Da wir in New York sind, wohnt mein Dermatologe im selben Haus wie Keith Richards. Er hat mir erzählt, dass er Keith – er nennt ihn Keith, als handelte es sich um irgendeinen Keith Brown oder Keith Smith – ein Exemplar meines Romans »Lola Bensky« geschenkt hat. »Lola Bensky« basiert mehr oder weniger auf meinen Erfahrungen als sehr, sehr junge Rockjournalistin.

Mein Mann ist Maler. Er liebt die Rolling Stones. Er hört ihre Musik beim Malen in seinem Atelier. Die Lautstärke dreht er bis zum Gehtnichtmehr auf. Ich gebe mir größte Mühe, keinen Ton zu hören – mit Ausnahme der Stelle, an der Keith Richards auf dem Album »Some Girls« Folgendes singt: »After all is said and done / Gotta move while it's still fun.«

Diese Stelle geht mir nicht aus dem Kopf.