Titel

Johny Pitts

Afropäisch

Eine Reise durch das schwarze Europa

Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm

Suhrkamp

Widmung

 
 
 
 
 
 
Für meine Eltern Richie und Linda und meine Geschwister
Richard und Chantal

 
 
 
 
 
 
 
… Menschen, deren Existenz gewissermaßen von ethnischen, religiösen oder anderweitigen Grenzlinien durchzogen wird. Aufgrund dieser Situation, die ich mich nicht getrauen würde, »privilegiert« zu nennen, fällt ihnen die Rolle zu, Bande zu knüpfen, Missverständnisse auszuräumen, den einen gut zuzureden, andere zu mäßigen, zu schlichten. […] Und eben deshalb ist ihr Dilemma von so großer Tragweite: Wenn sich diese Menschen nicht zu ihren Zugehörigkeiten bekennen dürfen, wenn man unablässig von ihnen fordert, sich für eine Seite zu entscheiden […], dann müssen wir uns mit Recht Sorgen machen über den Zustand der Welt.

Amin Maalouf, Mörderische Identitäten

Einleitung

Als ich den Ausdruck »afropäisch« zum ersten Mal hörte, regte er mich dazu an, mich selbst als komplett und ohne Bindestrich zu begreifen. Hier war ein Raum, in dem das Schwarzsein an der Gestaltung einer allgemeinen europäischen Identität beteiligt war. Der Begriff eröffnete die Möglichkeit, in und mit mehr als einer Idee zu leben: Afrika und Europa oder, in einem weiteren Sinne, mit dem globalen Süden und dem Westen, ohne gemischt-dies, halb-jenes oder schwarz-anderes. Die Möglichkeit, dass schwarz zu sein in Europa nicht mehr unbedingt bedeutete, ein Immigrant zu sein.

Etiketten sind ausnahmslos problematisch und oft provokativ, aber im besten Fall können sie etwas sichtbar machen. Aus meinem eingeschränkten Blickwinkel – ich wuchs in einem Arbeiterviertel von Sheffield auf, das sowohl durch die externe Kraft der freien Marktwirtschaft verwüstet wurde als auch durch die interne, eigentlich schützende Kraft lokaler Isolation, die in Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern unterschiedlicher Viertel eine verheerende Gestalt annahm – erkannte ich allmählich eine Welt, die für mich zuvor unsichtbar oder wenigstens nicht plausibel gewesen war. In meiner kleinen Ecke von Großbritannien hatte ich das Gefühl gehabt, entweder zu stark gegen die eine Kultur reagieren oder mich zu stark mit der anderen identifizieren zu müssen.

Der Begriff »afropäisch« wurde in den frühen neunziger Jahren von David Byrne, dem ehemaligen Frontmann der New Yorker Band Talking Heads, und Marie Daulne, der belgisch-kongolesischen Frontfrau der Musikgruppe Zap Mama, geprägt und begegnete mir zunächst in den Bereichen Mode und Musik. Eine afropäische Ausstrahlung hatten neben vielen anderen Les Nubians, zwei in Frankreich bekannt gewordene Soul-Sisters aus dem Tschad, Neneh Cherry, deren Wurzeln in Schweden und Sierra Leone liegen, Joy Denalane, eine deutsche Soulsängerin mit südafrikanischen Wurzeln, und das Magazin Trace von Claude Grunitzky. Der Untertitel der Zeitschrift »Transcultural Styles and Ideas« entspricht der afropäischen Identität seines Schöpfers: Er hat mütterlicherseits einen polnischen Großvater, ist in Togo geboren, in Paris aufgewachsen und gründete das Magazin in London. Es war eine sehr attraktive Szene, die ich als afropäisch kennenlernte: schöne, begabte, erfolgreiche schwarze Europäer, die ihre kulturellen Einflüsse mühelos auf eine schlüssige und kreative Art zum Ausdruck brachten. Besonders attraktiv war diese Szene für mich, weil ich das Gefühl hatte, dass sich diese Ausprägung des in Europa existierenden Schwarzseins vermutlich selbst treu bleiben würde und dass sie sich heimatlicher anfühlte als die manchmal erdrückend dominanten afroamerikanischen Kunstformen und umfassender und nuancierter als die schwarze britische Szene, deren Selbstverständnis anfing, altmodisch zu wirken, und oft nur noch als Verkörperung der Windrush-Generation präsentiert wurde.1

Anfangs betrachtete ich den Begriff »afropäisch« als eine Art utopische Alternative zu der pessimistischen Stimmung, die in den letzten Jahren mit dem Bild der Schwarzen in Europa verbunden ist, als einen optimistischen Weg nach vorn. Ich wollte an einem Projekt arbeiten, das die Afropäer als bestimmende Akteure ihrer eigenen Geschichte miteinander verbindet und sie als solche Akteure präsentiert, und mit all diesen wunderbaren afropäischen Vorstellungen im Kopf stellte ich mir vor, dass dabei ein dekorativer Bildband mit Schnipseln von Feel-good-Texten als Erläuterung zu einer Serie schicker fotografischer Porträts herauskommen sollte. Das Buch sollte die »Erfolgsstorys« des schwarzen Europa bebildern: junge Männer und Frauen, deren Street-Style leicht und elegant ein selbstbewusstes schwarzes europäisches Gefühl artikuliert.

Ein Besuch im »Dschungel« von Calais brachte mich dazu, diesen Ansatz zu überdenken. Ich trank einen wohlriechenden arabischen Tee mit Milch bei Hishem, einem jungen Mann aus dem Sudan. Er lebte seit etwa zehn Monaten im Dschungel und betrieb dort eines von mehreren bemerkenswert gut organisierten Cafés. Er erzählte mir, dass er alles verloren hatte: Alle Mitglieder seiner Familie waren tot, ihn plagten leidvolle Erinnerungen an die Vergangenheit und furchterregende Visionen von der Zukunft. Er sei in einem Schwebezustand zwischen Afrika und Europa hängengeblieben – zwischen seiner Heimat (von der er in seinem mit Kissen ausgelegten Café wunderbarerweise ein kleines Stück wiederhergestellt hatte) und dem Unbekannten. Bevor ich seine knarrende Sperrholzbude wieder verließ, sagte er mir, ich solle über seine Geschichte und das Leben im Dschungel schreiben, eine Bitte, die mir großes Unbehagen verursachte. Hishem war intelligent, wortgewandt und gebildet: Wäre es nicht besser, wenn er selbst über den Dschungel schreiben würde? Vielleicht konnte ich Aufmerksamkeit für seine Geschichte wecken und sie auf meiner Website publizieren. Was aber wusste ich selbst darüber, wie es ist, mit ansehen zu müssen, wie die eigenen Freunde massakriert werden, vor einem Krieg zu fliehen und sich in einem Schiffscontainer zu verstecken oder in einem schlecht ausgerüsteten Boot über das Meer zu fahren und schließlich völlig mittellos in einer Siedlung windschiefer Hütten im nordfranzösischen Hinterland anzukommen. Was wusste ich persönlich mehr darüber, als er mir erzählt hatte?

Wir tauschten unsere Kontaktdaten aus, und ich verließ den Dschungel auf meinem Fahrrad. Ich registrierte, dass mir Beamte der Gendarmerie nationale, einer den französischen Streitkräften zugehörigen Polizeitruppe, durch die windgepeitschten Straßen von Calais folgten. Bei dem Versuch, die weißen Tore zum Hafen zu passieren, um mit der Fähre zurück nach England zu fahren, wurde ich noch vor der Passkontrolle gestoppt und durchsucht. Ich musste mich ausweisen, wurde gefragt, wohin ich wolle, woher ich käme und wie lange ich im Ausland gewesen sei und warum. Schließlich, nach weiteren Fragen und misstrauischen Blicken, durfte ich den offiziellen Bereich betreten, zu dem ich andere braunhäutige Menschen meines Alters aus der Entfernung voller Sehnsucht hatte hinüberschauen sehen. Ich war drin, sie waren draußen.

Im Gegensatz zu den Menschen, die ich im Dschungel kennenlernte, lebte ich nicht in einem Schwebezustand, sondern in einem Schwellenzustand. Ich war »drinnen«, weil ich einen Ausweis hatte, und ich hatte einen Ausweis, weil ich in England geboren und aufgewachsen war, eine mit Europa verknüpfte Geschichte besaß und wusste, wie es dort lief. Aber dennoch wurde ich innerhalb dieses geografischen Bereichs, dieser Idee von Europa, häufig daran erinnert, dass ich nicht ganz drinnen war. So hatte ich den Remembrance Day (den Gedenktag für die Gefallenen der Weltkriege in Großbritannien am 11. November) zu fürchten gelernt, weil er oft einen hässlichen Nationalismus zum Vorschein brachte, für dessen Aggressionen ich manchmal als Zielscheibe diente. Einmal an diesem Feiertag traktierte mich ein Mann mittleren Alters, das Gesicht rot vor Wut und Rassismus, wieder einmal mit dem alten Spruch, ich solle »dahin zurück, wo ich herkam«. Meine Hautfarbe hatte mehrere Tatsachen verborgen, unter anderem, dass mein Großvater im Zweiten Weltkrieg hinter den feindlichen Linien gekämpft und dafür einen Orden erhalten hatte. Meine Haut hatte mein Europäischsein verborgen; »europäisch« war immer noch ein Synonym für »weiß«.

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Wenn »afropäisch« ein Begriff war, mit dem man diesem Problem beikommen konnte, dann musste ich herausfinden, was sich hinter dem bloßen Markenzeichen »afropäisch« oder jenseits davon verbarg. Ja, es war ein größtenteils von Schwarzen ausgedachtes und geprägtes Markenzeichen, aber mehr auch nicht, eine angenehme Idee, die einem verkauft wurde und etwas mit Werbefirmen, Stilistinnen, Modefotografen und Ausstattung zu tun hatte. In Großbritannien war es diese Vision eines unternehmerischen Multikulturalismus, diese Fassade der Inklusion, mit der Tony Blairs New Labour versucht hatte, das Land international, weltoffen, fortschrittsorientiert und bereit für das Geschäft in der globalisierten Welt erscheinen zu lassen, ohne dabei politische Schritte für eine langfristige Änderung des britischen Umgangs mit den Immigranten in die Wege zu leiten. Fielen unter den Begriff »afropäisch« nur schöne, erfolgreiche (und oft hellhäutige) Schwarze?

»Afropäisch« als Ziel war eine Sache, aber als ich über eine Wechselbeziehung zwischen schwarzen und europäischen Kulturen schrieb, erkannte ich, dass diese utopische Vision einer schwarzen europäischen Erfahrung bedeutet hätte, die Realitäten bewusst auszuklammern, von denen eine Mehrheit der in Europa lebenden schwarzen Menschen betroffen sind: die Nichtbeachtung der verschiedenen Gruppen arbeitsloser schwarzer Männer, die ich auf den Bahnhöfen sah, der afrikanischen Toilettenfrauen und der Communitys von Entrechteten, die im Hinterland der Städte völlig unsichtbar um ihre Existenz rangen. Auch wäre es mir unredlich erschienen, meine eigene kulturell reichhaltige, aber ebenfalls nicht so glamouröse Erfahrung einer Jugend im multiethnischen Großbritannien außer Acht zu lassen oder nicht zu schildern, wie es mir als Mensch, der sich als schwarz identifiziert, bei meiner Reise durch Europa erging. Mir wurde klar, dass ich dem Leser mitteilen musste, wo ich herkam, damit er besser verstehen konnte, wohin ich wollte, nämlich in jene schlecht dokumentierten Regionen Europas, die zu dem von Fremdenverkehrsbüros und Taschenreiseführern geprägten vereinheitlichten Bild oft im Widerspruch stehen. Ich reiste außerdem in einer Zeit, in der ein »Gegenangriff gegen den Multikulturalismus« den Kontinent überrollte, der Menschen wie mich als eine Art gescheitertes befristetes Experiment betrachtete. Deshalb hatte ich das Gefühl, mich neu organisieren und meine eigene Pluralität behaupten zu müssen, mit dem größeren Ziel, zu vermitteln, dass der Multikulturalismus jenseits der reaktionären Presse als der sehr reale Multikulturalismus meiner eigenen Herkunft und der ebenso reale Multikulturalismus in den Straßen europäischer Städte funktionierte. »Afropäisch« musste also, um den Labour-Abgeordneten Jon Cruddas zu paraphrasieren, mehr sein als eine Besessenheit von der Suche nach dem authentischen Selbst und eher ein Beitrag zu einer Gemeinschaft mit allen notwendigen Kompromissen und Abstrichen. Der Begriff musste eine Brücke über den Zaun bauen, der bestimmte, ob man drinnen oder draußen war, und eine Art informelle kulturelle Koalition herstellen.

Ich las eine Menge wertvolle akademische Forschungsberichte und soziologische Abhandlungen, aber allzu viele Schriften verstaubten in den Universitätsbibliotheken, rannten offene Türen ein. Oder sie stammten von besserverdienenden, weißen Wissenschaftlern und nicht von den Menschen, über die geschrieben wurde, und waren in einem hochnäsigen akademischen Jargon verfasst. Offizielle Wissenschaft wird oft mit fremdem Wissen betrieben: Wer autorisiert und formt ihre Sprache? Wessen Wissen wird vermittelt? Wer hat Zugang dazu? Was ist mit dem schwarzen Europa jenseits des universitären Schreibtischs, das in den mehrdeutigen und unordentlichen gelebten Erfahrungen seiner Communitys steckt? Mit dem schwarzen Europa unten auf der Straße?

Ich hatte keine andere Wahl, als einen subjektiven Blick durch die Zwischenräume zu werfen und mich daran zu erinnern, dass ich nicht versuchen wollte, den Begriff »afropäisch«, der gut zu meinen eigenen Erfahrungen passte, irgendwie autoritativ in den Diskurs über racial politics einzuführen. Ich hatte den Eindruck, dass allzu viele »Big-Picture«-Bücher über das Thema race geschrieben wurden, während der alltägliche Dialog im Begriff war, zusammenzubrechen, während es der Interaktion in den sozialen Medien an Humor und gutem Willen fehlte und während Autoren und Blogger sich als unfehlbare Sprecher ihrer jeweiligen Gruppe präsentierten. Dieses Buch ist ein Versuch, die Reisereportage als Möglichkeit zu nutzen, sich vom Druck der Theorie zu befreien und die geheimen Freuden und Vorurteile anderer, aber auch meine eigenen, also das menschliche Selbst, ehrlich zu enthüllen. Ich will durch sie lernen, mit dem eigenen Schwarzsein und der eigenen Unvollkommenheit, wie sie auf dem Papier erscheinen, zufrieden zu sein. Und sie ist ein Versuch, mit dem Persönlichen zu beginnen, um zum Universellen zu gelangen.

In diesem Buch schildere ich viele Begegnungen mit Machern: Künstlern, Denkern, Modeschöpfern, Intellektuellen, Schriftstellern und Akademikern, aber viele der Geschichten, die ich gefunden habe, sind auch denkbar weit entfernt vom Glanz der Coffee-Table-Books. Sie handeln von Süchtigen, Obdachlosen, Dieben, Drogenhändlern und politischen Aktivisten. Und noch etwas ist mir wichtig. In dem Song »Thieves in the Night« rappt Mos Def über die Darstellung Schwarzer in den Medien: »We're either niggas or kings, we're either bitches or queens«. Mir scheint es, dass schwarze Menschen im Europa von heute entweder als überstilisierte Retro-Hipster-Dandys mit dick umrandeten Brillen und irgendeinem Kleidungsstück aus Kente-Stoff oder als gefährliche Kapuzenpullis tragende Ghetto-Kids dargestellt werden. Zwischen diesen Extremen des Schwarzseins liegt vermutlich die wichtigste Inklusion dieses Buchs: Zufallsbegegnungen mit normalen Frauen und Männern, mit Arbeitern, Straßenhändlern, Fremdenführerinnen, Studierenden, Rausschmeißern, Aktivistinnen, Musikerinnen, Jugendarbeitern und anderen Menschen, mit denen ich in Cafés, Gemeinschaftszentren und Hostels ins Gespräch kam und die alle ihre Alltagserfahrungen etwas unterhalb eines erhabenen Narrativs enthüllten: Schönheit in schwarzer Banalität. Da meine Reisen nicht von einer Akademie finanziert waren oder beurteilt wurden und ich die protzigeren Hotels in Europa weitestgehend mied (meiden musste), kam diese Arbeitsweise auch praktischen Erwägungen entgegen. Dieses Buch beruht auf einer durch ein unabhängiges schwarzes Budget finanzierten Reise. Es ist ein Bericht über die unabhängige Reise eines Schwarzen aus der Arbeiterklasse.

Das Bild, das ich am Ende hatte, war eine Art beflecktes Utopia. Ein Ort des Kampfes und der Hoffnung, der großen Dramen und der stillen Nuancen, der Schlussfolgerungen und der Mehrdeutigkeit, der Verbindungen und der Gegensätze. Aber stets gab es Humor und Menschlichkeit in meinen Begegnungen und Wechselbeziehungen. Um Robert Frost zu paraphrasieren: Mein Streit mit dem Kontinent ist der Streit eines Liebenden. Ich bin ausgiebig auf der ganzen Welt gereist, auch nach Westafrika, wo mein Schwarzsein seine Wurzeln hat, und nach Brooklyn, zum Treibhaus jener schwarzen Kultur, die mich unendlich inspiriert hat und wo mein Vater geboren wurde. Dennoch fühle ich mich nirgends so zuhause wie in Europa. Hier habe ich schreiben und lesen gelernt, und auch wenn ich nicht immer den richtigen Lesestoff hatte, spreche ich doch seine Sprachen und pflege einige seiner Bräuche. Und ich erfreue mich an der raffinierten und manchmal verblassten Schönheit seiner alten Architektur, an den gratis zugänglichen Museen und Galerien, die ihre Existenz freilich oft dem Blut und der Mühe verdanken, die schwarze Männer und Frauen ausbeuterischen Imperien opfern mussten. Oder wie es der Dichter und Politiker Aimé Césaire aus Martinique so wunderbar ausgedrückt hat:

Et je me dis Bordeaux et Nantes et Liverpool et New York et San Francisco
pas un bout de ce monde
qui ne porte mon empreinte digitale
et mon calcanéum sur le dos des gratte-ciel et ma
crasse dans le scintillement des gemmes!

Und ich sage mir, Bordeaux und Nantes und Liverpool und
New York und San Francisco,
Kein Zipfel der Welt,
der nicht meinen Fingerabdruck trüge
und mein Fersenbein auf dem Rücken der Wolkenkratzer
und meinen Unrat im Gefunkel der Gemmen!)2

 

Weil ich zur schwarzen Community Europas gehöre, ist das Europa, von dem ich spreche, auch ein Teil meines Erbes, und es war Zeit für mich, den Kontinent zu bereisen und zu feiern, als ob er mir gehörte. Ein Kontinent, der, um Césaires Protegé Frantz Fanon zu zitieren, »mich aus tausend Details, Anekdoten, Erzählungen gesponnen hatte«.3 Ein Europa, das, wie ich sehen sollte, von ägyptischen Nomaden, sudanesischen Gastronomen, schwedischen Muslimen, schwarzen französischen Aktivisten und belgisch-kongolesischen Malern bevölkert ist. Ein Kontinent mit kapverdischen Favelas, algerischen Flohmärkten, surinamischem Schamanismus, deutschem Reggae und maurischen Burgen. Ja, all das gehört auch zu Europa. Und all diese Bereiche müssen verstanden und einbezogen werden, wenn sich Europa voll funktionsfähiger Gesellschaften erfreuen möchte. Und auch wir schwarzen Europäer mussten Europa verstehen und die Teilnahme an seinen Gesellschaften einfordern, das Recht, unsere eigenen Geschichten zu dokumentieren und zu verbreiten.

Allerdings wird in meinem Buch, womöglich zur Enttäuschung mancher Leser, einiges ausgelassen, das eng mit der Erfahrung der Schwarzen in Europa zusammenhängt. Ein Beispiel ist die Rolle der Kirchen für den Zusammenhalt der Communitys. Als ein Mensch, der zwar ein positives Verhältnis zur Spiritualität hat, aber nicht religiös ist, kam ich zu dem Schluss, dass ein anderer, der eine engere Beziehung zu den von der Religion aufgeworfenen Fragen hat, ein Buch schreiben sollte, das sich allein diesem Thema widmet. Aus ähnlichen Gründen habe ich weniger über den Islam geschrieben, als möglich gewesen wäre; auch dieses Thema schien mir den Rahmen meines Reiseberichts zu sprengen.

Als ein schwarzer Nordengländer, der über das frustriert ist, was ich manchmal als die Brixtonisierung des schwarzen Großbritannien bezeichne, nämlich die Reduzierung der schwarzen britischen Erfahrung auf ein einziges, sauberes an London orientiertes Narrativ, finde ich es bedauerlich, dass ich aus Zeit- und Geldmangel meine Rundreise auf dem Kontinent fast gänzlich auf die größten Städte jedes Landes beschränken musste. So steht in meinem Buch zum Beispiel nichts über die britischen Städte Liverpool, Cardiff, Southampton oder Bristol (Bristol ist vermutlich die Stadt, aus der mein Nachname stammt, nämlich von einem gewissen Robert Pitts aus Bristol, der im heutigen South Carolina, in das ich meine schwarzen amerikanischen Wurzeln zurückverfolgen kann, Sklaven und Plantagen besaß) oder über vergleichbare Städte und Gebiete auf dem europäischen Festland, die viel mit der jahrhundertelangen Präsenz von Schwarzen in Europa zu tun haben. Großstädte sind dynamische Treffpunkte für Menschen jeden Hintergrunds, sie haben oft die ältesten und etabliertesten schwarzen Communitys, und sie passen zur Atmosphäre eines Buches, das sich vorwiegend mit dem schwarzen Europa der zweiten, dritten und heutigen Generation befasst und seinerseits darauf abzielt, eine verbindende Geschichte und Wissensbasis für neuere Ankömmlinge wie Hishem zu schaffen.

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Einige große Hauptstädte, insbesondere in Ost- und Südeuropa, wie Wien, Warschau, Rom und Madrid, fehlen ebenfalls oder nehmen viel weniger Raum ein, als ich mir gewünscht hätte. Auch hätte ich mich gern mit der Geschichte der Mauren in Montenegro befasst oder mit der Verbindung, die das damalige Jugoslawien durch die Bewegung der Blockfreien Staaten zu Afrika aufbaute, als es versuchte, durch seine Rolle als Gegengewicht gegen die Hegemonie der Ost- oder Westmächte, transnationale Freundschaften mit anderen Ländern zu stiften. Ich habe mein Bestes versucht, ein faires und ausgewogenes Bild des zeitgenössischen Lebens im schwarzen Europa zu zeichnen, durfte mich jedoch nicht von der, wie James Baldwin es nannte, »Last der Repräsentation« erdrücken lassen.4 Ich kann nur hoffen, dass die Leser das Werk eines schwarzen Autors zu würdigen wissen, das weitgehend unabhängig von offiziellen Organisationen, Gremien oder akademischen Institutionen entstanden ist. Außerdem möchte ich jeden, der über die von mir gelassenen Lücken unglücklich ist, ermutigen, zu der laufenden Debatte auf Afropean.com beizutragen. Wir haben dort Essays von Autorinnen und Autoren mit persönlichen afropäischen Erfahrungen publiziert, die unter anderem in der Slowakei, auf der Isle of Wight, in Barcelona, Genf und Wien sowie auf dem afrikanischen Kontinent aufgewachsen sind. Schließlich könnte man die Frage stellen, wo denn der europäische Teil in afropäisch sei. Dies ist eine ähnliche Frage wie die, warum es in Großbritannien einen Black History Month, aber keinen Monat der weißen Geschichte gibt, was wiederum der Frage gleicht, warum es in London eine Chinatown, aber keine Englandtown gibt. England und die Weißen sind so allgegenwärtig, dass sie unsichtbar sein können. Die weiße Geschichte wird nicht als weiße Geschichte vermittelt, weil sie einfach »die Geschichte« ist – sie dominiert das Fernsehen und die Lehrpläne, und wir sind überall mit ihr konfrontiert. Ich habe in einer europäischen Sprache geschrieben, bin durch die Straßen Europas gereist und habe mich unablässig mit der europäischen Geschichte auseinandergesetzt, obwohl ich weder Anthropologe noch Historiker bin, sondern Schriftsteller und Fotograf. Außerdem bin ich ein schwarzer Staatsbürger, der heute in Europa lebt, und meine Reise war ein Versuch, dem einen Sinn abzugewinnen. Deshalb habe ich mich mit meiner braunen Haut und meinem britischen Pass, der, während ich dies schreibe, immer noch eine Freifahrkarte für das europäische Festland darstellt, an einem kalten Oktobermorgen auf die Suche nach den Afropäern gemacht.

Prolog: Sheffield

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