Titel

Ralf Rothmann

Hotel der Schlaflosen

Erzählungen

Suhrkamp

Widmung

Fear is a man's best friend.
 
John Cale

Wir im Schilf

Gegen Ende der Probe verzogen sich die Wolken, und als mit dem Licht hinter den Kirchenfenstern auch die Violintöne heller zu werden schienen, riss die Saite über dem Steg. Ein schwarzer Draht, pendelte sie unter dem Wirbelkasten, und Emilia spielte das Glissando ohne E, wobei sie die Bruchstelle aus dem Lidwinkel betrachtete. Schräg war sie und schimmerte matt wie der Anschliff einer sehr feinen Kanüle.

Ihr wurde schwindelig, und noch während der Schlussakkord ihres Bruders ausklang, legte sie das Instrument auf den Flügel und bückte sich nach ihrer Handtasche. Außer den homöopathischen Tropfen und der Schachtel Aspirin gab es weiße und blaue Pillen darin, für den Tag, für die Nacht. Sie drückte eine aus der Folie, hielt sie mit den Zähnen und kramte zwischen Schminkzeug, Lufthansa-Erfrischungstüchern und der neuen Vogue nach ihrer Wasserflasche.

Stumm hatte sie in der Praxis in Zürich gewartet, bange wie die meisten. Man konnte über den See voller Jollen bis zur so genannten Goldküste blicken und weiter, hockte aber wie geduckt hinter den großen Pflanzen, die zwischen den Sesseln standen, eine Art Zierschilf, und blätterte in Illustrierten. Eine Frau, gut zehn Jahre jünger als sie, wurde vor allen anderen aufgerufen und kam schon nach wenigen Minuten wieder zurück, fahl im Gesicht, die Lippen blutleer. »So«, sagte sie zu ihrem Mann, der sich nur zögernd von seinem Smartphone löste, »jetzt kann ich mich eigentlich umbringen.« Und da erst hatte Emilia bemerkt, dass die Fenster der Röntgen- und Diagnosepraxis, alle Fenster in diesem fünften Stock, vergittert waren.

Als sie später auf die Straße trat, beide Ellenbeugen verpflastert, denn sie hatte zarte Venen und war wieder und wieder gestochen worden, fiel ihr ein frisch geklebtes Plakat vor dem Haus auf: Iggy Pop, Hallenstadion. Der Leim tränte über das blondierte Haar und das immer noch schmale, von Schmerz und Drogen zerfurchte Gesicht des alten Sängers, mit dem er neuerdings auch Reklame für Parfüms und Familienautos machte, und als sie die Ankündigung später am Airport noch einmal sah, klebte bereits ein »Ausverkauft« über dem Foto.

Leer die kleine Wasserflasche, die sie immer bei sich trug, und ihr Bruder nahm das Instrument vom Flügel und musterte die gerissene Saite. »War die nicht neu?«, fragte er. »Hast du noch die Quittung?« Auch er hatte im Mantel geprobt, einem dünnen Kaschmirmantel, und Emilia beugte sich über eine der leeren Bodenvasen neben dem Altar und öffnete resigniert den Mund. Mit einem hohen Ton fiel die Pille in das Innere.

Der Klavierstimmer, der ihnen auf der Empore zugehört hatte, die Hände wie Muscheln hinter den Ohren, kam langsam durch die Kirche und sah sie fragend an. Er trug eine teuer zerschrammte Lederjacke und schwere Stiefel, und David nickte, der Flügel war in Ordnung. Ein schöner Mann oder einer, der ihm gefiel, was man am Trinkgeld erkennen konnte; der Klang seiner Absätze in der hallenden Kirche, das Metrum von Jugend und gesunder Kraft, wurde lauter mit zunehmender Entfernung. Fast schon war er am Taufstein, auf dem sein Motorradhelm lag, als Emilia den Kopf hob und rief: »Sie haben nicht zufällig eine Zigarette?«

Natürlich rauchte er nicht, und David stieß etwas Luft durch die Nase und öffnete seine Tasche, weiches Kalbsleder aus Aix, ihr Geschenk zu seinem Sechzigsten. Er zog das Allegro con spirito in der G-Dur-Sonate hervor und tippte auf den letzten Takt. »Hier sind zwei Viertel, das habe ich gewusst. Da kannst du das Tempo nicht so schleppen, Emi. Lass uns das gleich noch einmal spielen, ja?«

Der Küster, ein älterer Afrikaner, kam aus der Sakristei und verteilte einen Armvoll Lilien in den Vasen, jene Sorte, die voll erblüht nach durchgeschmorten Kabeln riecht, und langsam schüttelte sie den Kopf; sie war es gewohnt, dass David ihr kaum zuhörte. Den Mund geöffnet, zeigte er auf ihren Geigenkasten, die samtrote Vertiefung, und fragte: »Wieso ›keine Ersatzsaiten‹? Wo sind die denn?«

In Zürich, in dem Behälter aus Plexiglas an der Wand, hatten schon etliche Scheren, Taschenmesser, Feuerzeuge und Flacons gelegen. An diesem Sonntag, Punkt Mitternacht, waren auch in der Schweiz die neuen Bestimmungen für die Flugsicherheit in Kraft getreten, und nachdem der Beamte in seinem Verzeichnis nachgesehen und mit einem Vorgesetzten telefoniert hatte, nahm er die vier Briefchen aus Wachspapier an sich. »Tut mir leid, Madame, aber die dürfen nicht mit an Bord.«

Und nach ihrer erstaunten Frage hatte er beide Hände vor seinem Hals geballt, eine imaginäre Schlinge zugezogen und gesagt, sie könnte die Drähte ja als Waffe benutzen. Das war ihm so ernst, wie er aussah, der eidgenössische Uniformierte, und den Widerspruch, dass er seiner seltsamen Verordnung gemäß dann auch die Saiten von ihrem Instrument nehmen müsste, einer Galimberti von 1925, ließ sie vorsichtshalber unerwähnt. Der Check-in begann in wenigen Minuten.

Es gab noch einen neuen Satz im Reisegepäck, natürlich, aber das hatte ihr Bruder vom Flughafen Tegel ins Hotel liefern lassen, weil nach der Matinee ein Lunch mit irgendwem von der Plattenfirma anstand. Seine Augenlider zuckten, und er blickte auf die Uhr, polierte das Glas mit der Manschette. Noch fast zwei Stunden Zeit hatten sie, die Straßen waren frei, die Unterkunft lag in der Nähe, und trotzdem stöhnte er: »Herrgott, Emi, muss das jetzt auch noch passieren! Kann nicht einmal etwas glattgehen bei uns?«

Sie lächelte müde. Seit über dreißig Jahren ging immer alles glatt, aber er brauchte diese Erregung, sie war der Pfeffer in seiner Routine. Er musste mindestens eine Dreiviertelstunde vor Abfahrt des Zuges am Bahnhof sein und stand oft schon vor dem Öffnen der Schalter auf den Flughäfen herum. Mit seiner Idee von Professionalität, zu der unbedingt Pünktlichkeit gehörte, rettete er sich vor den Leerstellen im Leben, dachte Emilia manchmal; nicht professionell zu sein war das Schlimmste, bei sich und bei anderen. Dass mit dem Pochen darauf schon die Stümperhaftigkeit beginnt, dass wahrhaftiges Tun keine Professionalität braucht – der Gedanke war irgendwo in seiner Jugend begraben, als er Skrjabin mit dem Ellbogen gespielt hatte.

Ihm noch nichts von der Diagnose erzählt zu haben, kam ihr einmal mehr richtig vor angesichts seiner Nerven, die schon bei einer gerissenen Saite schwach wurden. Das Hotel befand sich in der Gothaer Straße, kaum fünfzehn Minuten entfernt, und während der Küster ihm Rooibostee kochte, ging Emilia vor das Portal, massierte sich die Fingergelenke und wartete auf das Taxi. Ein milder Sonntag im frühen Oktober, ein Feiertag zudem; Wind fuhr in ihr frisch getöntes braunes Haar und ließ den offenen Trenchcoat flattern, Möwen kreischten über dem Kanal. Auf den Straßen kein Mensch.

Im Gegensatz zu ihrem Bruder hatte sie sich kaum je um Pünktlichkeit bemüht; dennoch war sie noch nie, nicht einmal bei Wetterkatastrophen oder Streiks, unpünktlich gewesen. Stets waren ihre Instinkte zuverlässiger als jede Uhr, und das hatte sie gelassen gemacht mit den Jahren – was nicht hieß, dass sie nicht gelegentlich Träume quälten, in denen sie grob verspätet auf die Bühne eilte und die falschen Noten aus der Tasche zog, während mehr und mehr Menschen den Saal verließen …

Das Taxi hielt, ein Mercedes ohne Stern, die rissigen Kunstledersitze im Fond waren kalt. Der Fahrer, ein grauhaariger Mann mit Schnäuzer, nickte ihr zu, und als sie die Tür schloss, bemerkte sie einen Geruch im Auto, der ihr bekannt vorkam, ohne dass sie ihn gleich einordnen konnte. Ein verblichener Wunderbaum pendelte unter dem Spiegel.

»Ich dachte schon, ich bin noch blau«, sagte der Mann und wies mit dem Daumen auf das Plakat an der Kirchentür, die Ankündigung der Matinee, Schubert, Bartók, Brahms. Er hatte einen leichten arabischen Akzent und jede Menge Gold im Mund. »Sie sehen aber besser aus als auf dem Foto!«

Unwillkürlich strich sie sich eine Strähne hinters Ohr. »Ach, danke! Aber darauf bin ich viel jünger!«

»Na und?« Er schob einen Gang ein. »Jünger ist blöder, oder? Also kann jünger nicht schöner sein. Wohin?«

Sie nannte ihm das Fahrtziel, und langsam bog er auf die Potsdamer Straße. Irgendetwas schleifte unter dem Bodenblech oder im Radkasten des alten Autos. In der Neuen Nationalgalerie, dem durchsonnten Glaskubus, wurde eine große Cy-Twombly-Ausstellung gezeigt, und wie stets erinnerten sie die zärtlichen Bilder an das Gekritzel auf den Schultafeln ihrer Kindheit. Aber die riesigen, mit breitem Pinsel und zerlaufender Farbe ausgeführten Rosenblüten, die sie einst so entzückt hatten, stimmten sie seltsam traurig an diesem Morgen, wie leere Versprechen. Der Fahrer machte eine Kopfbewegung. »Stört Sie eigentlich der kleine Stinker?«

Sie neigte sich vor. Auf der genoppten Matte unter dem Handschuhfach lag ein Hund, ein weiß und lohfarben gescheckter Terrier ohne Halsband. Die Schnauze zwischen den Vorderpfoten, blickte er scheinbar traurig zu ihr auf, wobei er eine innere Braue hob, doch als sie lächelte, schlug sein Schwanz gegen das Bodenblech. »Nanu! Wen haben wir denn da?«

Sie schnalzte lockend, und er sprang auf das Polster, bellte erfreut. Kurze Schlappohren und schwarze Augen hatte er, und während Emilia zwischen den Sitzen hindurchlangte und ihm die Kehle kraulte, atmete sie ihn tief ein, den vertrauten, leicht brackigen Geruch seines kurzen Fells. »Das ist ja ein Schöner! Ein Jack Russell, oder? Mein verstorbener Mann hatte auch so einen. Wie heißt er denn?«

Der Fahrer zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Hund, glaube ich. Er gehört meiner Tochter. Immer sonntags muss ich ihn nehmen, ob ich arbeite oder nicht. Dabei mag ich gar keine Hunde. Aber ich muss ihn nehmen, weil sie zur Schwiegermutter geht, und die hat Allergien. Ob ich welche habe, fragt keiner.«

Verspielt biss ihr der Terrier ins Handgelenk, knabberte am Armband ihrer Uhr, und sie hob ihn zu sich auf die Rückbank, wo er sich gähnend streckte, um dann den Kopf auf ihren Oberschenkel zu legen.

Kein Auto auf der breiten Straße, nur ein Radfahrer, ein Zeitungsbote, dem der Wind die leeren Taschen blähte. An der Ecke, in den Räumen des einst berüchtigten Bierhimmels, befand sich jetzt ein Handy-Laden, und der Fahrer bog in die Kurfürstenstraße und fuhr an den Schaufenstern der Einrichter vorbei, an Multi-Media-Regalen und funkelnden Küchenzeilen, vor denen schon die Huren standen. Die Bürgersteige waren übersät von zertretenen Kastanien, die Giebeltürme des ehemaligen Metropol kamen in Sicht, und sie unterkreuzten die Hochbahn in dem Moment, in dem ein Zug darüberfuhr, was das Tier zusammenzucken ließ. Beruhigend legte sie ihm eine Hand an die Rippen.

Wie viele Erinnerungen haben zwischen zwei Herzschlägen Platz? Nach wie vor gab es die kleine Buchhandlung in der Nollendorfstraße, immer noch mit den Merve-Bändchen im Fenster, und der Secondhandladen, in dem sie einmal einen Lederrock gekauft hatte, bot inzwischen gut erhaltene Kleider von Versace an, von Rena Lange und Chanel. Die Neubauten rings um den Winterfeldtplatz, Schräges aus Beton und Stahl, eilig hochgezogen nach der Wende, sahen schon wieder hinfällig aus, und während der Fahrer vor einem Zebrastreifen darauf wartete, dass eine Frau an Krücken die Straße überquerte, zählte Emilia die leeren Gläser auf dem Fenstersockel des Slumberland. Wie oft hatte sie selbst dort gesessen im Sommer, bei Sonnenaufgang, ein letztes Bier in der Hand, ein blumiges Versprechen im Ohr.

Der Fahrer wies mit dem Daumen hinaus. »Schauen Sie«, sagte er, und irritiert folgte sie seinem Blick. Nichts und niemand auf dem großen Platz, nicht einmal eine Taube, nur ein Marktwagen voller Bretter und Böcke. Der Himmel war blau, der Schatten einer Wolke strich über den Asphalt mit den vermoosten Rissen, und der Mann gab langsam Gas. »Wissen Sie, was man in meiner Heimat sagt, wenn die Wüste leer ist, ein Meer aus Sand? Die haben sich alle im Schilf versteckt!«

Sie schmunzelte. Die Stühle waren zwar hochgestellt, aber eine Espressomaschine dampfte schon im Café M, das sie noch als Mitropa kannte. Längs der Akazienstraße hatte man neue Bäume gepflanzt, und an der nächsten Kreuzung bat sie darum, kurz anzuhalten. Das Fenster herunterkurbelnd, betrachtete sie die Fassade des einst grauen, jetzt vanillefarbenen Hauses mit der dunkelgrün gestrichenen Tür. Im Parterre, in dem ehemaligen »Frischbiergeschäft« der Vermieterin, befand sich ein Sushi-Restaurant, aber im anderen Laden gab es immer noch die Fahrschule Zech. Im Erker der Beletage, wo der große Blüthner gestanden hatte, der Flügel ihrer Mutter, hingen blassbunte tibetanische Gebetsfahnen, und auf dem Balkon klirrte ein Windspiel.

»Hier haben Sie mal gewohnt«, sagte der Fahrer, und das klang nicht wie eine Frage.

»Ja«, sagte sie und schluckte; doch der plötzliche Schmerz in der Kehle blieb. Sie betastete die Stelle und kramte vergeblich zwischen den Münzen und dem Lippenstift im Mantel nach einem Kaugummi oder einem Bonbon. Ihre Handtasche lag in der Sakristei. »Hier bin ich aufgewachsen.«

Der Mann bog ab. Alle Häuser in der Belziger Straße waren fein herausgeputzt, nirgendwo mehr Risse oder gar Einschusslöcher aus dem letzten Krieg wie noch in ihrer Kindheit. Neben dem Fuhrhof der Post befand sich nach wie vor das Beerdigungsinstitut Grieneisen, in dem man damals makabre, in der ganzen Schule beliebte Werbegeschenke bekommen konnte, schwarze Aschenbecher mit dem Firmenlogo darauf, einem Sarg vor einem gotischen Kirchenfenster. Mit einem Feuerzeug aus derselben Serie hatte sie sich jahrelang die gerissenen Rosshaare vom Geigenbogen gebrannt.

Als er sich auf den Rücken drehte, kraulte sie dem Hund den Bauch, und wieder leckte er ihre Hand. »Hat er denn tatsächlich keinen Namen?«, fragte sie. »Wie rufen Sie ihn denn, wenn er mal wegläuft? Der von meinem Mann hieß Flex.«

Der Fahrer trat auf die Bremse. »Ich rufe ihn nicht«, murmelte er. »Ich möchte lieber wissen, wieso wir dauernd Rot haben. Es ist Sonntag früh, kein Mensch auf der Welt, und sie stellen alle Ampeln auf Stopp? Die reinste Schikane, wenn Sie mich fragen.«

Zwei Schwäne watschelten durch den Heinrich-Lassen-Park, in die Schatten der alten Kiefern dort. In dem Jugendstilhaus neben dem Hallenbad hatte sie Ende der siebziger Jahre mit Eva gewohnt, ihrer besten Freundin während des Studiums. Kunstrasen auf dem ächzenden Parkett, ein mit Kohle zu heizender Badeofen und Drogen in der Zuckerdose. Man ging frühestens um zweiundzwanzig Uhr aus dem Haus, in eine Pizzeria oder zu einer Modenschau von Claudia Skoda und dann in irgendwelche Clubs, wie man heute sagen würde. Evas Freundin Esther, eine Fotografin, war mit James Osterberg zusammen gewesen, Iggy Pop, und manchmal hockte der kleine Mann mit hochgezogenen Knien wie eingetopft in sein übergroßes Ego auf einem ihrer Küchenstühle und schniefte ihnen das Koks weg. Dabei quakte er wie ein Tümpelfrosch, der Michigan-Akzent.

Er roch übrigens auch so, fiel ihr ein, aber in dem Konzert im halbvollen Metropol, in dem er »The Idiot« vorstellte, bis heute ihr Lieblingsalbum, ging mit einem Mal ein verwandelter Mensch in weißem Hemd und gebügelter Hose über die Bühne, immer wieder stumm von einer Seite zu anderen, während sich irgendein Intro aus dem Off ins Symphonische steigerte. Im Licht der Scheinwerfer war er verblüffend schön mit seinen frisch gewaschenen, von seiner Freundin ungelenk geschnittenen Haaren und den schwarz umschminkten Augen, die über alle Anwesenden hinweg in irgendeine Ferne starrten, und eine Frau, die neben Emilia stand, Schweißperlen an den Schläfen, stieß heiser flehend »Fang an!« hervor. »Fang endlich an!«

Doch trank er zunächst einen Schluck aus einer Bierdose, drückte eine Schaumfontäne daraus hervor und schmiss sie zwischen die Boxen. Dann öffnete er seinen Reißverschluss, um sich das Hemd sorgsamer in die Hose zu stopfen, zog ihn langsam wieder zu. Schließlich spuckte er ins Publikum, griff mit zittrigen Fingern zum Mikrofon, und bei den ersten Takten, ja dem ersten Ton seiner Musik schon sprang, nein, schraubte er sich in die Höhe und wirbelte herum, als bräche ein wilder, alles Kleinliche und Dumme niederschreiender Dämon aus ihm hervor. »Calling Sister Midnight!«

Die Wucht der Akkorde und die Kontur seiner Stimme, einer völlig anderen als in ihrer Küche, voller Kraft und entschiedener Eleganz, strafften sie und ließen sie zittern, als würden alle Glieder, jede Zelle ihres Körpers plötzlich jubilieren. Tränen füllten ihre Augen, während sie sich den Bewegungen ringsum überließ, der wogenden Enge. Und momentlang war nichts klarer als die Unsterblichkeit.

»Ja, so ist es«, hatte Eva später im Café Central gesagt und ihr die zerlaufene Wimperntusche weggetupft. »So wird's immer sein, Baby: Wir verlieben uns in die wilden Maler, in die wahrhaftigen Sänger mit dem Heroin in den Adern, in die Dichter und die schönen Vagabunden, und wir heiraten Ärzte.«

Aber ihr zärtlicher Zynismus kam zu spät, konnte nichts mehr anrichten bei ihr. Kaum etwas war für Emilia wie vorher gewesen nach diesem knapp einstündigen Konzert, das ihrem damals diffusen und ängstlichen Leben eine neue Zuversicht und einen Schub an Mut für alles Weitere gegeben hatte, für ihre innere Freiheit.

Bunte Fahnen flatterten vor dem Hotel, einem Neubau mit blitzsauberer Aluminiumfassade. »Da wären wir«, sagte der Taxifahrer und sah sie aus dem Rückspiegel an, und als sie ihm einen Geldschein reichte und ihn bat, zu warten, nickte er und hatte einen Lidschlag lang die vertrauten braunen Augen, die er gar nicht haben konnte. Fingerschnippend scheuchte er den Hund hinaus, und der lief ein paar Schritte mit ihr mit, widmete sich dann aber den Geruchsspuren an den Laternen.

Das Zimmer lag im sechsten Stock. Es war ein Doppelzimmer, eine Suite sogar, und während sie die Saiten zwischen ihren Büchern und Befunden hervorkramte, wurde ihr wieder schwindelig. Sie öffnete die Wasserflasche auf dem Tisch, trank einen Schluck und sah in den Himmel, die jagenden Wolken. Gegenüber stand ein teuer restaurierter Altbau mit Mosaiken an den Balkonen und Töpfen voller Zierschilf auf der Dachterrasse – die gleichen hohen Gewächse mit den wedelartigen Spitzen wie vor Tagen in der Schweiz. Sie schwankten im Wind.

Die Güte in den Augen des Fahrers hatte etwas seltsam Strenges gehabt, fast schon kalt gewirkt; aber es war Güte gewesen. Und nun? Vögel umschwirrten die Pflanzen, pickten etwas aus den Rispen, von denen Staub aufflog wie Rauch, und man sollte nicht »plötzlich« oder »kurz entschlossen« sagen, weil Zeit von einem Herzschlag zum anderen nicht mehr von Belang war und der Entschluss sich – wie nach einer ausholenden Modulation der Wechsel der Tonart – von selbst ergab. Da sind wir.

Sie öffnete das Fenster und atmete tief. Im Vergleich zu den siebziger und frühen achtziger Jahren, als die Hinterhöfe gasig oder nach Schimmel rochen und die Kohlenmänner schwarz aus den Kellern mit den ausgetretenen Stufen kamen, war die Luft in Berlin, zumindest an diesem Sonntagmorgen, erstaunlich gut, fast so frisch wie am Zürichsee; man konnte sich sternklare Nächte vorstellen. Sie stieg auf einen Stuhl, auf das Brett und dachte an David, der jetzt unruhig auf der Kirchenbank saß, auf sein Handy starrte oder das Glas seiner Uhr mit der Manschette polierte. Lieber Bruder.

Noch nie war sie unpünktlich gewesen. Ein Hund bellte in der Toreinfahrt, der lohfarbene womöglich, und sie wunderte sich, wie leicht er war, dieser eine Schritt über alles hinaus. Sie sah ihren Schatten mit unglaublicher Geschwindigkeit die Wand hinabgleiten, ihren wild flatternden, jäh über den Kopf in die Höhe gerissenen Mantel, aus dem das Kleingeld fiel, und stand immer noch im Schilf.