Julia Leeb

Menschlichkeit
in Zeiten der Angst

Reportagen über die Kriegsgebiete
und Revolutionen unserer Welt

Mit zahlreichen Fotos

Suhrkamp

Für meine Familie

In der Falle

Libyen, 14. März 2011

Meine Finger graben sich in den steinigen Boden der Wüste. Es ist ein windiger Tag und es ist Krieg. Gerade schlug eine Rakete neben mir ein. Es verstreichen einige Sekunden. Erst dann realisiere ich, dass ich nicht getroffen wurde.

Ich kann nicht mehr aufhören zu zittern. Das kleine Erdbeben hat sich auf meinen Körper übertragen. Dann zischt es wieder. Wo wird das nächste Geschoss einkrachen? Wird mein Körper zerschmettert? Werden wir überleben? Wie lange dauert es zu verbluten? Die Sekunden enden nicht.

Als ich vor ein paar Stunden das Hotel verließ, hatte mich ein ungutes Gefühl erfasst. Auch die Fahrt in die Wüste war flankiert von warnenden Symbolen. Der Sandsturm, liegengebliebene Autos, fliehende Familien mit Matratzen auf dem Autodach.

Wir waren zu viert unterwegs. Mit mir im Auto saßen der deutsche Publizist Jürgen Todenhöfer, die Zufallsbekanntschaft Youssef und Abdul Latif, unsere weise und großzügige Kontaktperson vor Ort.

In den letzten Tagen hat sich hier viel verändert. Ein bekannter Al-Jazeera-Journalist wurde erschossen. Es sollen Gaddafis Männer gewesen sein. Der Aufstand in Libyen ist über Nacht in einen Krieg gemündet. Youssef scheint sich dessen nicht wirklich bewusst zu sein. Erst vor ein paar Stunden habe ich ihn kennengelernt. Als wir ihn nach einem Schleichweg in die Stadt Brega fragten, stieg er spontan zu uns in den Wagen und kontaktierte Verwandte in der vermeintlich befreiten Stadt. Auf dem Weg dorthin hielten wir an und sprachen mit Rebellen. Zwei Autos mit fröhlichen Familien fuhren an uns vorbei. Lächelnd zeigten sie uns das Victory-Zeichen. Zurück im Wagen begann Youssef, mich während der Fahrt pausenlos zu fotografieren. So lange, bis sein Akku fast ausging. Was sich später als verhängnisvoll herausstellen sollte. Im Auto herrschte gute Stimmung. Abdul Latif hatte uns Datteln mitgebracht, auf die er wegen seiner Diabetes verzichten sollte. Er erzählte, dass die Beduinen den Kern im Mund behalten, um den Durst zu bekämpfen. Nachdem ich kurz eingenickt war, schaute ich auf mein Handy und bemerkte, dass die Verbindung gekappt worden war. Plötzlich sahen wir sechs ausgebrannte Autos. Sie standen am Straßenrand und teilweise in der Wüste. Warum wir ausgestiegen sind, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass es uns fürs Erste das Leben gerettet hat. Zumindest einigen von uns.

Ich nahm meine Kamera, um zu dokumentieren, was passiert war. Das ist meine Arbeit.

img_47075_01_013_Leeb_Menschlichkeit_vt_u229f

Ausgebrannte Autos auf dem Weg nach Brega

Doch irgendetwas stimmte nicht. Es war unheimlich. Weit und breit kein Baum, keine Felsen, kein Haus. Nur die ausgebrannten Autowracks in diesem endlosen Meer aus Stein und Sand. Ich fühlte mich wie auf einem Präsentierteller und hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass man uns ins Visier genommen hatte. Auf einer weit entfernten Anhöhe wartete jemand darauf, abdrücken zu können und uns mit einer Boden-Boden-Rakete auszulöschen. Unter einem der Fahrzeuge sah ich eine Flamme lodern. Auf den Sitzen nur ein Häufchen Asche. Schlagartig verstand ich, dass einige dieser Wracks die Autos der vorbeigefahrenen Familien sein mussten.

Dann geht alles ganz schnell. Ich will weg und laufe zur Straße, doch wie aus dem Nichts zischt ein Streifen an mir vorbei. Dann ein lauter Knall. Eine riesige Feuersäule ragt in den Himmel. Instinktiv gehe ich hinter einem der Wrackskelette in Deckung. Bloß weg hier. Plötzlich eröffnet jemand das Granatfeuer.

Die Einschläge wirbeln Sand, Staub und Rauch um mich herum durch die Luft. Ich renne an dem rotglühenden Feuerball vorbei und suche unser Auto. Alles ist flach. Weit und breit keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Wird meine Kamera mit einer Waffe verwechselt? Um zu zeigen, dass ich Zivilist bin, erhebe ich meine Hände. Ich laufe um mein Leben, aber es kommt mir vor, als seien meine Beine aus Blei, als bewege ich mich in Zeitlupe. Nach etwa einem Kilometer springe ich hinter eine kleine Düne, wo schon Youssef liegt. »Abdul mout«, sagte er. Tot. Ich hoffe so sehr, dass es nicht das bedeutet, was ich befürchte. »Abdul mout«. Er wiederholt es immer und immer wieder. Bis die erste von vier Granaten in der Ferne einschlägt.

img_47075_01_013_Leeb_Menschlichkeit_vt_u2290

Granateinschläge, von der Düne aus gesehen

Seitdem ist es still. Der Tod hält uns umklammert. Wie bin ich hier hineingeraten? Natürlich, ich empfinde meine Arbeit als sinnvoll, und ja, ich habe den naiven Anspruch, durch Bilder die Welt verändern zu können. Doch jetzt bin ich unter schwerem Artilleriebeschuss mitten in einem Krieg, der nicht der meine ist. Ich bin ausgeliefert und werde wie ein Kaninchen gejagt. Seit über drei Stunden versucht jemand, mich mit modernster Technik zu ermorden. Die Chance, hier lebend rauszukommen, ist gering. Wenn von uns genauso viel übrig bleibt wie von den Insassen der anderen Autos, dann wird nie jemand erfahren, was passiert ist. Ich denke an meine Eltern. Sie wissen nicht, dass ich in Libyen bin. Sie werden nichts verstehen und nach mir suchen. Vergeblich.

Der Beginn eines Lebens an den Brennpunkten unserer Welt

Den Stuhl rücke ich ein bisschen mehr nach links, dann nach rechts und setze mich wieder. Sie beobachtet mich immer noch. Die Frau, Mitte dreißig, mit der eleganten Press-Lockenfrisur. Ein bisschen vergilbt sieht sie aus, immerhin schaut sie schon viele Jahrzehnte aus diesem Holzrahmen heraus. Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie auf dem Schwarz-Weiß-Foto verewigt, habe ich auf der Rückseite erfahren. Während sie auf diesem Stuhl saß mit dem Pelzmantel um die Schultern, lagen die beiden Weltkriege noch in der Zukunft, war der Laptop, an dem ich gerade arbeite, noch nicht erfunden. Sie blickt mich aus einer vergangenen Zeit an. Und ich mustere sie, halb bewundernd, halb mitleidig.

Ich scheue mich davor, ihr Foto umzudrehen. Schließlich bin ich nur Gast in diesem Haus, das vielleicht mal ihres war. Eine Freundin hat mich zu sich nach Klagenfurt auf den Familiensitz eingeladen, damit ich in diesem wunderschönen Biedermeierzimmer in Ruhe schreiben kann. Stattdessen starre ich das Foto an und denke darüber nach, warum der Mensch, unabhängig von Ort und Zeit, den tiefen Wunsch verspürt, Momente festzuhalten, Bilder zu schaffen. Zu Lebzeiten meiner Beobachterin konnte man nicht das ganze Dasein dokumentieren wie heute. Kameras waren rar, das Entwickeln der Bilder war kostspielig. Viel mehr als dieses eine Foto wird es von der Frau nicht geben. Den nachfolgenden Generationen wird sie als junge, gepflegte Dame in Erinnerung bleiben. Von all den anderen Momenten ihres Lebens, ihren Taten, Reisen, Geburten, gibt es keine Belege. Der kurze Augenblick, in dem der Auslöser gedrückt wurde, hat die Deutungshoheit über diese Person für die Nachwelt besiegelt: Sie wird in ewiger Jugendlichkeit gebannt weiterleben.

Dabei verändert sich alles ständig. Manche Länder sind verschwunden, andere entstanden. Der Mensch ist es mittlerweile schon müde, zum Mond zu fliegen, und lässt sich das Leben von künstlicher Intelligenz organisieren. Aber das Verlangen, seine Erlebnisse zu teilen, ist immer geblieben. Von der Höhlenmalerei bis Instagram. Warum besitzen Bilder eine solch große Macht, dass Herrscher – ihre unberechenbare Auswirkung fürchtend – Verbote verhängen?

Das psychologische Moment der Fotografie hat mich schon immer fasziniert, als Kind war ich mir dessen natürlich nicht bewusst. Damals erschuf ich Fantasiewelten mit dem Pinsel. Noch als Teenager malte ich mit Wasser- und Ölfarben, mit denen mich meine geliebte Großmutter immer versorgte. Bis zu dem Tag, an dem meine Schwester und ich einen eigenen analogen Fotoapparat geschenkt bekamen – für mich das schönste Präsent überhaupt. Von nun an konnte ich Abbilder schaffen von dem, was um mich herum existierte. Später kam die erste Filmkamera in die Familie. Viele Jahre später verbringe ich einen Nachmittag mit Werner Herzog, der mir erzählt, dass er der Filmhochschule eine Kamera entwendet hat. Das sei kein Diebstahl, sondern eine Notwendigkeit gewesen. Wie immer man diese Langzeit-Leihgabe im Nachhinein klassifizieren mag, die Kamera war im Dauereinsatz. Das Gerät ging irgendwann kommentarlos in meinen Besitz über. Auf einigen gut versteckten Kassetten finden sich eher peinliche Aufnahmen von einem Bolero-Schleiertanz mit einer Freundin auf dem Autodach meines ahnungslosen Vaters, eine Schwanensee-Eigeninterpretation und die Vertreibung aus dem Paradies, die ich mit Freundinnen im Garten nachstellte. Wie dankbar ich rückblickend dafür bin, dass wir ohne ständiges Publikum in Form der sozialen Medien aufwachsen, die Pubertät offline durchleben konnten – wer besagte Aufnahmen kennt, weiß, was für ein Glück wir hatten!

Eine Kindheit ohne Computer und mit einem einzigen Fernseher mit drei für Kinder uninteressanten Programme scheint mir heute ein unwiederbringliches Privileg. Meine Schwester und ich erschufen uns während der langen Essen am Stammtisch der Erwachsenen traumhafte Gegenwelten, in denen nur unsere eigenen logischen Gesetze galten. Welten, die wir verstehen konnten und zu denen wir ausschließlich Gleichgesinnten Zutritt gewährten. Mit meiner Freundin Michelle beschlagnahmte ich den Geräteschuppen, räumte ihn aus, malte ihn dunkelblau an und richtete unser eigenes Labor ein. Wir produzierten etwa hundertzwanzig verschiedene Kräutermischungen, mit denen wir nach Hildegard von Bingen und nach eigenem Gutdünken experimentierten. Mit anderen Kindern, die nichts mit unserer Hexenküche anfangen konnten, stillten wir unseren Entdeckerdrang im anliegenden Wald, aus dem ich regelmäßig mit Zecken und schließlich mit Borreliose nach Hause kam. Vor Langweile oder Familienstreitigkeiten flüchteten wir uns in unsere eigenen Fiktionen.

Die Generation meiner Eltern besaß während ihrer Kindheit wenig, erlebte später aber das Wirtschaftswachstum im Nachkriegsdeutschland mit. Medizin und technische Geräte wurden immer erschwinglicher, der Lebensstandard verbesserte sich konstant. Gewisse Ängste allerdings blieben ihnen erhalten.

Meine etwas jüngeren Lehrer hingegen versuchten, uns Schülern eine seltsame Art von schlechtem Gewissen einzuflößen und uns auf subtile Weise zur Ängstlichkeit zu erziehen. Vielleicht hatten sie selbst Gewissensbisse, dass es ihnen besser erging als ihren Eltern, oder sie gaben die unaufgearbeiteten Konflikte zwischen den beiden Generationen ungefiltert an uns weiter. Was auch der Grund war, in mir wuchs das Gefühl, dass alles jederzeit weg sein könnte – Materielles, aber auch geliebte Menschen. Wie eine schwarze Wolke schwebte die Sorge über mir, dass schöne Momente nicht wiederholt werden können, dass ich Menschen vielleicht zum letzten Mal sehe. Diese Furcht war nie konkret, immer abstrakt. In manchen Augenblicken fühlte sie sich für mich als Kind unkontrollierbar und unausweichlich an. Als lauerte die Gefahr um die Ecke und würde früher oder später nach mir und meiner Familie greifen.

Sicher war dieses Damoklesschwert, dieses Gefühl der latenten Bedrohung mit ein Grund, warum ich sofort besessen war vom Fotografieren. Die Kamera war das einzige Instrument, das das unerbittliche Verfließen der Zeit aufzuhalten vermochte. Durch das Fotografieren konnte ich diese unverständliche Welt in kleine Einheiten unterteilen, in schmale Zeitausschnitte. Die Geschehnisse wurden von ihren zeitlichen Abläufen befreit, Miniaturrealitäten aus dem großen Ganzen herausgelöst. Für mich hatte das etwas Beruhigendes, der Akt des Fotografierens bedeutete Kontrolle auszuüben über etwas Unkontrollierbares. Unaufhörlich visierte ich Personen an, die im Gespräch versunken waren, und drückte genau im richtigen Moment den Knopf. Ich entriss der Zeit eine Millisekunde, um mir diesen unwiederbringlichen Moment anzueignen, ihn für immer zu besitzen, ihn nicht mehr verlieren zu können. Die Welt für einen Augenblick zu stoppen, das Leben kurz anzuhalten und den Moment einzufrieren – dieser Wunsch ließ mich nicht mehr los.

Nachdem meine Mutter von einer Audienz bei Mutter Teresa in Delhi so sehr berührt war, reisten wir zusammen mit meiner Schwester erst nach Myanmar, dann nach Indien. Meine ersten großen Reisen außerhalb Europas haben mir das Tor zur Welt aufgestoßen. Wir ritten auf Pferden durch das sagenumwobene Rajasthan, auf Bergplateaus, durch Flusstäler und in Dörfer, die Menschen wie uns noch nie gesehen hatten. Wir schliefen in Zelten und manchmal in heruntergekommenen Palästen, fuhren mit Rikschas durch das Verkehrschaos der überbevölkerten indischen Städte. Ich sah Tempel mit heiligen Ratten, leprakranke Bettler, bunte Saris auf Reisfeldern, einen Jungen mit Elefantenfuß, Spirituelle, Tänzer, heilige Kühe, einen Maharadscha, tanzende Pferde und Warane im Badezimmer. Momente, in denen ich begriff: Die Welt ist groß, wild, traurig, laut. Sie stinkt, duftet, ist ungerecht, spirituell, hässlich und schön. Jeder Eindruck wurde im Sekundentakt durch ein anderes Erlebnis überschrieben. Das pralle Leben in einer Nussschale.

img_47075_01_013_Leeb_Menschlichkeit_vt_u2282

Als Teenager in Myanmar

Ich hatte Glück, dass meine Eltern mich weltoffen erzogen haben. Wissen wurde in der Schule vermittelt – in meinem Fall in einem humanistischen Gymnasium mit Lateinleistungskurs. Doch die echte Erziehung fand bei uns zu Hause statt. Als ich noch ein Kind war, gründete meine Mutter einen Verein für belarusische Kinder, die Opfer der radioaktiven Tschernobyl-Wolke geworden waren. Da Tschernobyl in der Ukraine liegt, fokussierte sich die deutsche Presse damals nur auf dieses Land. Absurd, als ob eine kontaminierte Wolke vor von Menschenhand gezeichneten Grenzen Halt machen würde. Belarusische Kinder verbrachten über zehn Jahre jeden Sommer in Deutschland, wo meine Mutter sie in verschiedenen Familien unterbrachte und Arzttermine organisierte. Die schwierigen Fälle blieben bei uns. Jede großen Ferien teilte ich also mein Zimmer mit fremden Kindern und später mit Teenagern, was in dem Alter nicht immer friedlich ablief. Ich lernte schnell, dass man für Dinge, die man gibt, nie Dankbarkeit erwarten darf.

Die internationale Arbeit meiner Mutter machte mir auch bewusst, dass Menschen in wichtigen Positionen Fehler mit erheblichen Langzeitfolgen machen können und dass diese Entscheidungsträger nicht für sie einstehen wollen. Dass sie sie lieber vertuschen, als einzugestehen, dass ihr Volk über Jahrzehnte mit Krankheit und Tod bedroht sein wird. Ich lernte, dass man nicht alles kommentarlos und unterwürfig hinnehmen sollte, sondern dass man hinterfragen muss. Ich begriff, was Zivilcourage bedeutet und was Scheinheiligkeit: Viele derjenigen, die sich nach außen hin besonders menschenfreundlich und altruistisch gaben und gerne anderen Lektionen erteilten, nahmen nie ein Gastkind auf. Zehn Jahre lang hatten sie Ausreden.

Die Patenschaften für verarmte Senioren in diesem seinerzeit doch recht abgeschotteten Land hielten über dreißig Jahre. Meine Eltern zeigten mir, nicht auf jemanden zu warten, der endlich tätig wird, sondern selbst aktiv zu werden. Durch ihre Initiativen hat sich für viele Belarusen das Bild von den Menschen in Deutschland verändert. Durch den jahrzehntelangen Austausch ist eine nachhaltige Völkerverständigung entstanden. Für all die Jahre unentgeltlichen Engagements und passionierter Arbeit hat meine Mutter kein einziges Mal Anerkennung erwartet.

Als ich volljährig wurde, wollte ich so schnell hinaus in die Welt, dass ich mein Abiturzeugnis gar nicht mehr persönlich abholte. Meine Eltern, erleichtert, dass ich den Abschluss trotz einer schweren Herzmuskelentzündung bestanden hatte, erfüllten mir den Wunsch. Ich plante einen dreiwöchigen Spanischkurs – dass der in Ecuador stattfinden würde, erzählte ich ihnen erst später. Aus den drei Wochen wurden sechs Jahre, in denen ich nicht mehr nach Hause kam.

Heute weiß ich nicht, woher ich damals den Mut nahm, ohne Spanischkenntnisse und mit keinem einzigen Kontakt vor Ort nach Südamerika zu reisen. Sechs Monate war ich unterwegs, durchquerte Chile, arbeitete auf einem Feld in Paraguay, trampte durch den berüchtigten Chaco, fuhr durch die eiskalte Salzwüste und stieg mit Arbeitern hinab in bolivianische Minen. Im damals sehr unsicheren Kolumbien wanderte ich durch den Dschungel und begegnete dort Ureinwohnern, schwang mit einer Liane über eine Schlucht und aß Ameisen, die nach Zitronen schmeckten. In der ecuadorianischen Hauptstadt Quito lebte ich bei einer Familie, bis ich weiterzog zu Indigenen in den Bergen. Die Hausfrau, bei der ich lebte, trug traditionelle Tracht, flocht sich jeden Morgen zwei Zöpfe und servierte oft Meerschweinchen. Wenn sie das Haus verließ, trug sie stets einen großen schwarzen Hut.

img_47075_01_013_Leeb_Menschlichkeit_vt_u2274

Indianerdorf im kolumbianischen Dschungel

Nur ein einziges Café hatte Internetzugang. Dort schrieb ich meiner Familie und Freunden nach Deutschland, etwa von meinen indigenen Freunden namens Jesús und Elvis, die sich rührend um mich kümmerten und mich mit zu illegalen Abrisspartys mit dem Musiker Manu Chao nahmen.

Meine nächste Station waren die Galapagosinseln, wo ich in einem trostlosen Betonzimmer hauste. Weil ich allein war, fühlte ich mich oft unsicher, wünschte mir, mit jemandem an meiner Seite die menschenleere Umgebung zu erkunden. Im Internetcafé der kleinen Stadt traf ich einen Biologen, der mich mit auf ein Expeditionsboot einer wohlhabenden schwedischen Familie nahm. Nachts gingen wir mit Haien tauchen, tagsüber gesellten sich Robben zu mir an den Strand. Ich beobachtete, wie sich Meeresechsen sonnten, Blaufußtölpel miteinander schnäbelten und Schildkröten sich paarten. Danach verabschiedete ich mich für ein paar Wochen in den Dschungel, wo mir meine Gastgeberin nicht glauben wollte, dass wir in Europa Maschinen besitzen, die für uns die Wäsche erledigen. Und wo mich Affen terrorisierten, indem sie ständig in mein Zimmer eindrangen und meine Stifte klauten.

Ich beobachtete Kolibris im Nebelwald und besuchte Bauern, die Kakao anpflanzten. Dort erzählten mir die Menschen von bösen Männern, die sie vertreiben wollten. In Mindo, dem Naturparadies, sollte Öl gefördert werden. Die Bewohner protestierten, wurden dafür erst schikaniert, dann entrechtet – und niemand jenseits dieses kleinen Fleckchens Erde bekam etwas davon mit oder schien sich dafür zu interessieren. Ich fand das ungeheuerlich. Zum ersten Mal begegnete ich Opfern skrupelloser Machenschaften, jedoch nicht als Gäste in meinem gewohnten Umfeld. Ich sah ihre tiefe Hilflosigkeit vor Ort, erlebte diese zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit mit ihnen.

Irgendwo in den USA hatten Geschäftsmänner Verträge unterschrieben und damit den Menschen im Dschungel von heute auf morgen die Kontrolle über ihr Land entzogen. Die Konsequenz war nichts Abstraktes, nichts weit Entferntes, sie war sehr konkret: Es ging um Vertreibung. Um ihren Grund und Boden, um ihr Leben. Es ging um alles.

Diese Monate in Südamerika machten mich zu einem politischen Menschen.

Ich war in Deutschland geboren, zufällig in dem Teil des Landes, in dem seit Jahrzehnten Demokratie herrscht. Dafür musste ich nie kämpfen, keinerlei Opfer für meine Freiheit bringen. Als ich in Ecuador mit den Menschen bangte, beschloss ich, meiner privilegierten Konstellation – dem Zufall von Geburtszeit und Geburtsort – Rechnung zu tragen. Denn nur wenn Unrecht unsichtbar bleibt, wächst es sich zu einem unberechenbaren Monster aus. Deshalb wollte ich die Unschuldigen in den Fokus des öffentlichen Interesses rücken, um ihnen zu ermöglichen, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten. Was bietet sich dafür besser an als Bilder?

Bilder machen den Betrachter zum Zeugen, zum Komplizen, zum Betroffenen. Sie lassen ihn die Skrupellosigkeit der einen und die Verletzlichkeit der anderen spüren. Damals, im Jahr 2000, war es noch nicht so einfach, Öffentlichkeit zu erzeugen. Mit dem weitverbreiteten Internetzugang von heute, der Reichweite der sozialen Medien und einer engagierten Jugend hätten wir diese Menschen aus dem Meer der Anonymität bergen können. Mit solidarischer Unterstützung hätten wir die Gesichter hinter den Statistiken zeigen und den Bewohnern im Dschungel die Deutungshoheit über ihr Leben zurückgeben können. Heute dokumentieren die jungen Generationen permanent ihr Leben. Für sie sind Fotos Teil ihres Alltags, Teil ihrer Kommunikation. Der Erfinder der Handykamera hat die Gegenwart und Zukunft der Welt verändert. Unsere Kinder und Kindeskinder werden keine optischen Lücken mehr in ihrer Biografie haben. Tsunamis an Fotos überschwemmen die sozialen Netzwerke. Warum also in einer bilderdurchfluteten Welt überhaupt noch fotografieren?

Weil man dort hinschauen muss, wo niemand so einfach ein Selfie hochladen kann. In die toten Winkel unserer Welt. In die Regionen, von denen wir kaum Bilder in den Medien sehen, weil Krisen und Kriege die Menschen aus dem Land treiben, sie kraftlos machen oder zum Schweigen bringen. Wie die meisten Fotojournalisten sehe ich mich als Chronistin der Gegenwart, als Zeitzeugin politischer Langzeitentwicklungen mit dem Anliegen, auch die blinden Flecken unserer Welt zu erkunden. Doch das lag noch in weiter Ferne.

Von Südamerika kehrte ich nach Europa zurück mit dem Vorhaben, mich politisch einzubringen. Deshalb studierte ich in Madrid Internationale Beziehungen und Diplomatie. Nach einer Zwischenstation an der Sorbonne in Paris ging ich für ein Praktikum ins italienische Auswärtige Amt nach Rom. Ich traf viele Botschafter und bekannte Politiker. Am meisten interessierte mich aber der Irakkrieg, den die USA vom Zaun gebrochen hatten. Daher hielt ich mich an arabische Mitarbeiter, unterhielt mich mit ihnen, lernte von ihnen. Durch sie entdeckte ich meine Faszination für die arabische Welt. Zu ebendieser Zeit erkannte ich, wie wenig die Politik tatsächlich mit den normalen Bürgern kommuniziert. Dass niemand die Dokumente liest, die mit großem Rechercheaufwand angefertigt werden. Dass vernünftige und logische Argumente von Polemik und Hasstiraden überrollt werden können.

Ich verließ Italien und flog nach Ägypten. Dubai, Libyen und Syrien waren bis dahin die einzigen mir bekannten arabischen Länder, aber in Ägypten wollte ich bleiben. In Alexandria organisierte ich meine ersten Fotoausstellungen und belegte Kurse zum Thema Friedensforschung. Später wurde mir mit entsprechendem Abstand bewusst, dass ich dort nicht nur viel über die regionale Kultur, sondern auch über meine eigene gelernt habe. Und ich wusste, dass ich nicht Akten, sondern Bilder sprechen lassen muss.

Nach Jahren im Ausland kehrte ich schließlich zurück nach Deutschland. Mir war klar geworden, dass ich Politik visualisieren musste. Ich verstand, wie schnell Kommunikation funktioniert, wenn sie visuell ist. An der Bayerischen Akademie für Fernsehen lernte ich das Handwerk. Noch während der Ausbildung zur Fotojournalistin verabredete ich mit zwei Kommilitonen, für eine Recherche in die Demokratische Republik Kongo zu fliegen. Wir wollten einen Dokumentarfilm drehen, das Geld für die Reise hatte ich von meinem Ersparten zusammengekratzt.

Eine Woche nach Abschluss flog ich – allein. Die beiden hatten kalte Füße bekommen. Gleich zu Beginn meiner Karriere hatte ich gelernt, Expeditionen nicht von fehlerhaften äußeren Umständen abhängig zu machen. Ich hatte verinnerlicht, Zeitfenster nicht verstreichen zu lassen. Der Beginn eines Lebens an den Brennpunkten unserer Welt.

Eine Nacht, die Geschichte
schreibt

Ägypten, 11. Februar 2011