Titel

3Thomas Biebricher

Die politische Theorie des Neoliberalismus

Suhrkamp

7Einleitung

Gegen Ende von Bryan Singers Film Die üblichen Verdächtigen aus dem Jahr 1995 verrät der undurchsichtige Gangster Keyser Soze dem Publikum (s)ein Geheimnis: »Der größte Trick, den der Teufel je gebracht hat, war, die Welt glauben zu lassen, es gäbe ihn gar nicht.« Etwas Ähnliches ließe sich auch über den Neoliberalismus sagen, auch wenn es etwas übertrieben erschiene, ihm infernalische Implikationen zuzuschreiben. Der Begriff des Neoliberalismus ist gleichermaßen unklar wie umstritten. Während die einen ihn als Synonym für die entfesselten Kräfte des Turbokapitalismus betrachten,[1]  verstehen ihn andere als die moderatere Variante des altliberalen Imperativs des Laissez-faire. Und während manche einen jahrzehntelangen weltweiten Siegeszug neoliberaler Regime verzeichnen,[2]  tun andere den Neoliberalismus als fiktionalen Fiebertraum seiner Gegner ab, der überhaupt nicht existiere – geschweige denn die Welt regiere; entsprechend solle der Begriff schnellstens in Rente geschickt werden. Aus Sicht dieser letzten Position ist der Neoliberalismus begrifflich nicht nur weitgehend sinnentleert, sondern zudem mittlerweile dermaßen politisch aufgeladen, dass er eigentlich nur noch als polemisches Instrument in politischen Diffamierungskampagnen taugt. Und tatsächlich trifft dies insofern zu, als es heute schlicht keine bekennenden Neoliberalen mehr gibt.[3]  Seitdem er in den frühen 1990er Jahren (wieder) in den akademischen und politischen Diskurs eingeführt wurde, sind es fast ausnahmslos seine Kritiker, die den Begriff benutzen. 8Dies hat dazu geführt, dass man heute selbst im kritischen Lager zögert, von Neoliberalismus zu sprechen, da die Rede davon die Sprecherin automatisch als potentielle Ideologin mit antikapitalistischer Schlagseite disqualifiziert. Bezeichnet man jemanden heute als neoliberal, wird dies als Beleg für die fehlende Bereitschaft zur Diskussion auf der Grundlage von Argumenten gewertet, der gegenüber man lieber der polemischen Anklage den Vorzug gibt. Falls der Neoliberalismus also tatsächlich die Welt regierte, wäre es kurioserweise ein Neoliberalismus, der ganz ohne Neoliberale auskommt und den noch nicht einmal seine Gegner beim Namen zu nennen wagen – ein wahrhaft teuflischer Trick.

Wie ich im Folgenden darlegen werde, ist der Neoliberalismus aber weit mehr als eine chimärische Ausgeburt der übersteigerten Phantasie seiner Kritiker. Das neoliberale Denken entwickelte sich in Reaktion auf die Krise des Liberalismus in den 1930er Jahren, und es gibt einen gemeinsamen neoliberalen Nenner, wenn auch einen sehr kleinen: Es handelt sich nicht um eine geteilte Doktrin, sondern vielmehr um das, was ich als die neoliberale Problematik bezeichne, die sich um die Bedingungen der Möglichkeit von funktionierenden Märkten dreht. Diese Problematik kennzeichnet das Werk diverser Denker, die sich in diesem Sinne zu Recht als Neoliberale bezeichnen lassen. Dazu gehören die deutschen Ordoliberalen Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow, aber auch Friedrich August Hayek, Milton Friedman und James Buchanan.[4]  Ihrem Denken entstammen die Ideen, Entwürfe und Argumente, die im ersten, zentralen Teil des Buchs untersucht werden. Hier werden die wichtigsten Elemente der politischen Theorie des Neoliberalismus rekonstruiert, analysiert und problematisiert. Das neoliberale Denken verfügt über eine genuin politische Dimension, die einen integralen Bestandteil der neoliberalen Problematik darstellt und keineswegs nur ein zu vernachlässigendes Anhängsel des vielbeschworenen Glaubens an selbstregulierende Märkte.

9Im Mittelpunkt dieses ersten Teils des Buches stehen vier zentrale Kategorien des neoliberalen politischen Denkens: Staat, Demokratie, Wissenschaft und Politik. Die neoliberalen Positionen bezüglich dieser Kategorien und der damit verbundenen Themen und Fragen variieren teilweise beträchtlich, bis hin zu expliziten Widersprüchen, und eines der zentralen Anliegen dieser Studie besteht darin, die daraus resultierenden Heterogenitäten und Spannungen zwischen den diversen Perspektiven herauszuarbeiten und abzubilden, die entsprechend in unterschiedliche Variationen neoliberalen Denkens gruppiert werden.

Im zweiten Teil wenden wir uns der Welt des »real existierenden Neoliberalismus« zu,[5]  wobei der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Europa der Gegenwart bzw. der jüngsten Vergangenheit liegt. Für diese Schwerpunktsetzung lassen sich vor allem zwei Gründe anführen. Erstens geht es mir um eine Analyse des Neoliberalismus in seinem aktuellen Zustand: Welche Transformationen lassen sich im Zuge der großen Krisen der letzten fünfzehn Jahre beobachten, und inwiefern unterscheidet sich der Neoliberalismus heute vom Neoliberalismus vor der Zeit der großen Wirtschaftskrisen? Zweitens konzentriert sich die Untersuchung auf Europa, weil die Europäische Union (EU) sowie die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) gemeinsam das bei weitem avancierteste Labor zur Entwicklung neuer neoliberaler politischer Formen darstellen. Hier finden sich neoliberale Vorstellungen nicht nur in nationalstaatliche Strukturen und internationale (Handels-)Regime eingelagert, sondern auch in Form einer supranationalen Föderation (inklusive gemeinsamer Währung), eine Konfiguration, die Gegenstand ausführlicher Überlegungen von Seiten einiger Neoliberaler war, die darin, trotz aller damit verbunden Schwierigkeiten, eine potentielle institutionelle Patentlösung zur Umsetzung eines neoliberalen Projektes bzw. zur Bewältigung der neoliberalen Problematik sahen. Dementsprechend widmen sich Kapitel 6 und 7 Darstellung und Diskussion der zentralen Funktionsmechanismen von EU/WWU und der Frage, inwieweit sie neoliberalen Vorstellungen über Föderationen im Allgemeinen und europäische Integration im Besonderen entsprechen.

Auf der Basis einiger vorläufiger Überlegungen zur Bedeutung 10von Ideen und Diskursen im Hinblick auf politische Praktiken und unter Bedingungen krisenbedingter Unsicherheit wird zuletzt die hier vertretene zeitdiagnostische These vorgestellt, dass die Eurozone in ihrer aktuellen institutionellen Ausgestaltung zunehmend den politischen Vorstellungen des Ordoliberalismus als einer spezifischen Variante des Neoliberalismus entspricht. In diesem Sinne erleben wir im Moment die Ordoliberalisierung Europas. Denn nicht nur hat Wettbewerbsfähigkeit oberste Priorität als Ziel aller Reformen, die Eurozone verfügt darüber hinaus heute über eine Wettbewerbsordnung, die all ihre Mitgliedsländer in eine bestimmte, als wünschenswert angesehene Form der Konkurrenz zwingt, die zumindest bis zum Anbruch des Coronazäns in einer allgemeinen Politik der Austerität resultierte. Des Weiteren implementiert diese Wirtschaftsverfassung in ihren Strukturmerkmalen viele ordoliberale Überzeugungen im Hinblick auf die Rolle, die Staat, Demokratie und Wissenschaft bei der Regierung des Marktes spielen sollen – wobei es sich in diesem Fall natürlich um einen Markt der Jurisdiktionen handelt. Diese Form von Governance ist zutiefst skeptisch gegenüber pluralistischer Demokratie und verlegt sich stattdessen auf einen technokratischen Politikmodus mit autoritären Anklängen.

Wenn es zutrifft, dass das Signum unserer Zeit der Aufstieg des Autoritarismus ist, dann sollten wir nicht davon ausgehen, dass damit das Ende des Neoliberalismus besiegelt ist. Im Gegenteil beinhalteten bestimmte Variationen des neoliberalen Denkens von jeher eine autoritäre Dimension, die nun zunehmend in seiner real existierenden Form sichtbar wird, sei es in Europa oder anderswo. Versteht man den Neoliberalismus richtig, nämlich als kapitalistische Märkte, die in autoritäre politische Formen eingebettet sind, dann ist dieser Neoliberalismus keineswegs am Ende – womöglich hat er gerade erst begonnen. Dementsprechend widmet sich der abschließende Epilog der Frage des Verhältnisses von Neoliberalismus und Autoritarismus, aber auch den Auswirkungen, die die Corona-Krise auf die Ordoliberalisierung Europas hat – soweit sich dies heute schon beurteilen lässt.

Unsere Untersuchung beginnt mit einem genaueren Blick auf die möglichen Gründe für und gegen die weitere Verwendung des Begriffs ›Neoliberalismus‹. Soweit ich sehen kann, gibt es zwei Argumentationslinien, auf die die Gegner des Begriffs zurückgreifen. 11Das erste Argument lautet, Neoliberalismus sei auf einen bloßen politischen »Kampfbegriff« oder gar ein »Schimpfwort« [6]  reduziert worden, und die Vertreter dieser Perspektive sprechen sich stattdessen für die Verwendung eines weniger werturteilsgeladenen analytischen Vokabulars aus, um politökonomische Ideen, Politiken oder Institutionen zu beschreiben. Das zweite Argument fokussiert auf das eng damit verbundene Problem, das der Neoliberalismus mit vielen anderen Begriffen teilt, die zumindest für eine gewisse Zeit zu intellektuellen Modewörtern aufsteigen: Gerade wegen ihrer Popularität und der damit verbundenen Verbreitung über disziplinäre Grenzen und die entsprechenden Zugänge hinweg lösen sie sich in amorphe Allerweltsbegriffe oder leere Signifikanten auf.[7]  Dem »Diskurs« und der »Globalisierung« war ein ähnliches Schicksal beschieden.

Dem Vorwurf, dass der Neoliberalismus nicht mehr ist als eine semantische Waffe in der Hand antikapitalistischer Kräfte und daher zugunsten von Konzepten und analytischen Kategorien verabschiedet werden sollte, die nicht als politisch suspekt gelten, liegt allerdings eine problematische Vorannahme zugrunde. Implizit wird nämlich die Möglichkeit einer Sprache vorausgesetzt, die (noch nicht) durch politische Parteinahmen kontaminiert ist und einen unverzerrten Zugang zur politischen Wirklichkeit bietet. Schließlich ist der Vorwurf nur dann stichhaltig, wenn tatsächlich eine Alternative zu dem vermeintlichen polemischen Vokabular des Neoliberalismus existierte. Aber diese Annahme ist nicht sonderlich plausibel. Zwar mögen im 20.Jahrhundert sowohl der Positivismus als auch der Kritische Rationalismus, wie er sich etwa in den Werken Karl Poppers findet (der kurzzeitig Mitglied der Mont Pèlerin Society war, eines transnationalen Netzwerks von Neoliberalen, auf das wir noch zurückkommen werden), von einer gänzlich transparenten Sprache geträumt haben, deren Eindeutigkeit nicht von einem Konnotationsüberschuss jenseits der ausdrücklichen Bedeutung beeinträchtigt wird, doch heute träumt kaum noch jemand diesen Traum.

12Die typische Entgegnung auf diesen Punkt besteht darin, einzugestehen, dass zwar gewichtige philosophische Gründe gegen die Vorstellung einer gänzlich unverzerrten Sprache sprechen, es aber dennoch einen großen Unterschied macht, ob man mehr oder weniger verzerrte bzw. verzerrende Terminologien verwendet. Anstelle von Neoliberalismus solle man daher eher von Marktwirtschaft oder einfach Kapitalismus sprechen. Abgesehen davon, dass auch einige der frühen Neoliberalen sich gegen die Verwendung der Bezeichnung ›Kapitalismus‹ aussprachen, »weil sie an ein System denken läßt, das vor allem den Kapitalisten nützt«,[8]  verweist dies auf ein grundsätzlicheres Problem: Die Reinigung sozialtheoretischer Sprache von allen vermeintlichen Verzerrungen ist, wenn überhaupt, dann nur um den Preis der Abstraktion möglich, was uns dann aber unter Umständen jeglichen Vokabulars beraubt, das auch über ein zeitdiagnostisches Potential verfügte. Worin besteht der intellektuelle Mehrwert, wenn wir Gesellschaften als schlicht kapitalistisch charakterisieren? Diese Beschreibung traf auch vor zweihundert Jahren und sogar schon davor zu. Sie trifft zudem ebenso auf Schweden zu wie auf die Vereinigten Staaten von Amerika – und so gut wie jede andere heute existierende Gesellschaft. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine Aussage, die so wahr ist, dass sie zur Trivialität wird. Doch insofern die Sozialwissenschaft nicht auf die Generierung ewiger Gesetzmäßigkeiten abzielt, tut sie gut daran, zeiträumliche Kontexte ernst zu nehmen, und erfordert konsequenterweise terminologische Instrumente, die unterhalb der Abstraktionsebene von ›Kapitalismus‹ und ›Marktwirtschaft‹ operieren, um das Spezifische an jenen Kontexten zu erfassen. Solch diagnostisches Potential ist von beträchtlichem analytischen und kritischen Wert für jeden Versuch, das zu erfassen, »was unsere Gegenwart ausmacht«;[9]  wie sie sich von der Vergangenheit unterscheidet und wie sie anders sein könnte. Trotz aller Unannehmlichkeiten, die der Begriff verursacht, kann der Neoliberalismus dennoch als ein vielversprechender Kandidat bei der Suche nach einer solchen kritisch-diagnostischen Terminologie zur Untersuchung der gegenwärtigen Welt gelten – zumindest vielver13sprechender als Alternativen wie z.B. Spätkapitalismus, Postfordismus oder »fortgeschrittener Liberalismus«,[10]  die mit noch schwerwiegenderen definitorisch konzeptionellen Problemen zu kämpfen haben.

Worin bestehen nun die definitorischen Schwierigkeiten im Hinblick auf den Neoliberalismus, und handelt es sich hier um eine Besonderheit dieses Begriffs oder um eine allgemeinere Unannehmlichkeit, die mit dem Versuch einhergeht, Traditionen und Strömungen des politischen Denkens zu etikettieren? Viele derjenigen, die sich gegen den Neoliberalismus aussprechen, weil der Begriff in Debatten häufig rein polemisch gebraucht wird, sehen den Grund dieses polemischen Potentials in dessen weitgehender Inhaltsleere. So ist es die vermeintliche Unbestimmtheit des Neoliberalismus, die ihn in eine perfekte diskursive Waffe verwandelt, die reich an antagonistischen Konnotationen, aber arm an greifbarem Inhalt sei. Es gibt keinerlei Grund, diese Schwierigkeiten herunterzuspielen, die ja schon im Begriff des Liberalismus wurzeln. Der Liberalismus ist eine Denkströmung, die sich – positiv ausgedrückt – dadurch auszeichnet, dass sie von einer beneidenswert reichhaltigen Vielfalt gekennzeichnet ist und von einer überraschend heterogenen Gruppe von Denkern und Denkerinnen als intellektuelle Heimat angesehen wird. Weniger positiv ausgedrückt ließe sich der Liberalismus als Denktradition beschreiben, die man, wenn überhaupt, dann nur mit allergrößter Mühe auf ein bestimmtes Kernmerkmal oder gar Wesen festlegen kann.[11]  Schließlich gibt es ernstzunehmende Argumente dafür, dass selbst der absolutistische und semi-autoritäre Denker Thomas Hobbes ein Vertreter der liberalen Tradition ist. Dies ist ein klarer Indikator für die ungemeine Bandbreite der Positionen, die sich als der liberalen Tradition zugehörig charakterisieren lassen, und man würde vermuten, dass dies auch bei einem seiner genealogischen Erben, nämlich dem Neoliberalismus, entsprechende Auswirkungen hat. Abgesehen von diesen allgemeinen Schwierigkeiten, die mit dem Versuch der politisch-intellektuellen Etikettierung verbunden sind, ist der Neoliberalismus mit einem weiteren Problem behaf14tet, das von der besonderen zeiträumlichen Dynamik herrührt, die den Begriff des Liberalismus seit Ende des 19.Jahrhunderts erfasst hat. Es geht um die damals vor allem in der anglo-amerikanischen Welt langsam einsetzende Transformation des Begriffs ›Liberalismus‹. Vor allem hier begannen liberale Denker, Elemente dieser Tradition mit einer eher sozialdemokratisch-progressiven Agenda zu verknüpfen. Der New Liberalism eines John Dewey oder eines T. H. Green führte vor allem in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien zu einer weitreichenden Bedeutungsverschiebung, die bis heute die Suche nach einer gemeinsamen politischen Sprache für die kontinentaleuropäische und die anglo-amerikanische Welt erschwert.[12]  Schließlich ist das Resultat dieser Bedeutungsverschiebung eine Konstellation, in der die kontinentaleuropäische Sozialdemokratin aus dem linken Spektrum auf der anderen Seite des Atlantiks als ›liberal‹ bezeichnet und ein Liberaler im kontinentalen Sinne vermutlich als Konservativer charakterisiert würde. Diese transatlantische Divergenz der Bedeutungen von Liberalismus hat natürlich auch Auswirkungen auf die Verwendung der Begrifflichkeit des Neoliberalismus: Trotz all der erwähnten Vorbehalte ist ›Neoliberalismus‹ ein etablierter Begriff im politischen Diskurs Europas. Aber angesichts der konträren Bedeutung von Liberalismus im nordamerikanisch-angelsächsischen Kontext überrascht es nicht, dass der Neoliberalismus kaum zum Repertoire des dortigen politischen Diskurses gehört. Das Publikum würde sich vermutlich fragen, wie es sein kann, dass Neoliberalismus in etwa das Gegenteil von dem bedeutet, was hier gewöhnlich als Liberalismus bezeichnet wird. Im anglo-amerikanischen Diskurs wiederum bezeichnet man gewöhnlich Positionen, die im europäischen Kontext als neoliberal gelten, als »libertarian«. Doch dieser ›Libertarianismus‹ erfährt im europäischen Kontext das spiegelbildliche Schicksal des Neoliberalismus in den USA und in Großbritannien: 15Trotz der Bedeutung, die der Begriff im akademischen Raum hat, spielt er im politischen Diskurs keinerlei Rolle.

Sollten uns diese terminologischen Komplikationen letztlich doch dazu veranlassen, das Konzept des Neoliberalismus aufzugeben? Meiner Ansicht nach sollten die begrifflichen Schwierigkeiten, die mit dem Neoliberalismus verbunden sind, nicht geleugnet werden; aber viel wichtiger ist doch die Frage, inwieweit wir es hier tatsächlich mit einem spezifischen Problem des Neoliberalismus zu tun haben und ob es sich überhaupt um ein Problem in dem Sinn handelt, dass es das Resultat vermeidbarer (Denk-)Fehler oder womöglich doch anderer Natur ist. Der entscheidende Punkt besteht meiner Ansicht nach darin, zu klären, was wir mit Begriffen zu erreichen hoffen, die eine politische Ideologie, einen intellektuellen Diskurs oder eine Denktradition bezeichnen sollen. Man denke etwa an Begriffe wie Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus, Kritische Theorie, Poststrukturalismus oder den Neuen Materialismus. In jedem dieser Fälle ist es gänzlich unmöglich, Grenzlinien mit geometrischer Genauigkeit zu ziehen, die uns beispielsweise die eindeutige Unterscheidung zwischen Konservatismus und seinen engsten intellektuellen Verwandten von Liberalismus bis Autoritarismus ermöglichen würden. Der Liberalismus wurde bereits als Paradebeispiel für die Definitionsschwierigkeiten von intellektuellen Traditionen angeführt, die sich auf komplexe Art und Weise über die Zeit und geokulturelle Kontexte hinweg entwickeln. Obwohl ein oberflächlicher Blick genügt, um sich über die Verschwommenheit dieser Konzepte klarzuwerden, wird doch selten die Forderung erhoben, aufgrund der entsprechenden terminologisch konzeptionellen Defizite nicht mehr länger von Konservatismus oder Liberalismus zu sprechen. Und wäre der Anspruch, der sich mit der Verwendung dieser Begriffe verbindet, tatsächlich, die Vermessung des intellektuell-politischen Geländes mit geometrischer Präzision durchzuführen, dann müssten wir schließlich nicht nur den Neoliberalismus, sondern auch so gut wie alle anderen Termini aus der kartographischen Werkzeugkiste entfernen, die ja alle Denkströmungen und mehr oder weniger kongruente politische Positionen erfassen und abbilden sollen, welche ebenfalls von einer untilgbaren Heterogenität gekennzeichnet sind. Die Tatsache, dass die Forderung nach einer Verabschiedung all jener Begrifflichkeiten bislang kaum nennenswerten Widerhall gefunden 16hat, verweist auf die unausgesprochene Erwartung an diese Begriffe, uns nicht unbedingt exakte Marker des intellektuell-politischen Terrains zu liefern, sondern eine mehr oder weniger vage Orientierung zu bieten, die aber beständiger Revision und Hinterfragung bedarf. Je genauer wir untersuchen, was eine bestimmte Tradition vermeintlich repräsentiert, desto weniger eindeutig erscheint sie uns. Umgekehrt gilt: Je mehr wir über eine bestimmte Person der politischen Geistesgeschichte herausfinden, desto schwieriger wird es, sie eindeutig einer bestimmten Tradition zuzuordnen. Wir sollten dies aber nicht als eine Art pathologischen Befund, sondern vielmehr als das alltägliche Geschäft der politischen Theorie betrachten. Und zuletzt sollten wir dieses Geschäft, dem sich so viele Studien in der politischen Ideengeschichte, aber auch in der zeitgenössischen politischen Theorie widmen, keinesfalls als staubtrockene Buchhaltungsaufgabe betrachten. Im Gegenteil handelt es sich um eine eminent politische Praxis. Schließlich ist es der politische Gehalt dieser Konstruktion politischer Traditionen, der neben den bereits erwähnten Gründen hauptverantwortlich dafür ist, dass die Kontroversen über eine bestimmte Definition von beispielsweise Konservatismus, der gemäß Denkerin X dazugehört, wohingegen Denker Y nicht Teil davon ist, schlichtweg unabschließbar sind. Die Debatte um eine bestimmte Definition von Konservatismus und der entsprechenden Repräsentanten mag nicht die wichtigste Aufgabe der politischen Theorie sein. Gleichwohl handelt es sich bei der Bestimmung politischer Traditionen und der politisch-intellektuellen Kartographie um alles andere als um triviale Angelegenheiten, denn in diesen Terminologien vollzieht sich letztlich die Praxis politischer Kontestation. Auch wenn also immer wieder die Verschwommenheit massiv umkämpfter politischer Genrebezeichnungen und Ideologien beklagt wird, sollte sich die politische Theorie zwar deren Grenzen und Gefahren bewusst sein, sie aber dennoch als ein wichtiges Medium politischer Kontestation begreifen und entsprechend benutzen – und dies gilt a fortiori auch für den Neoliberalismus.

Nach dieser vorläufigen Verteidigung der Verwendung des Begriffs des Neoliberalismus sind im Folgenden noch die zwei zentralen und möglicherweise kontroversen Grundannahmen sowie die damit korrespondierenden methodischen Entscheidungen zu erläutern, die dieser Studie zugrunde liegen.

17Zunächst gehe ich davon aus, dass es möglich ist, eine analytische Unterscheidung zwischen Neoliberalismus als intellektuellem Projekt bzw. intellektueller Tradition und Neoliberalismus als einer Reihe von konkreten politischen Projekten in verschiedenen empirischen Kontexten vorzunehmen. Ich bin zwar letztendlich sowohl an der Theorie als auch der Praxis des Neoliberalismus in diesem Sinn interessiert, aber der Ausgangs- und Schwerpunkt der Studie ist die Ebene der Theorie. Diese Herangehensweise kann möglicherweise als ein »ideenbasiertes Verständnis des Neoliberalismus«[13]  angesehen werden und sieht sich als solches mit Kritik konfrontiert, die vor allem aus einer eher materialistischen Perspektive vorgebracht wird, aus deren Sicht die ideationale Dimension des Neoliberalismus in allererster Linie und womöglich ausschließlich von ideologischer Bedeutung ist.[14]  Diese Perspektive verweist auf die vermeintliche Kluft zwischen neoliberaler Theorie und Praxis und wirft nicht-materialistischen Ansätzen vor, die Einbettung von Ideen in interessenbasierten und institutionellen Machtstrukturen zu verkennen, die die Resilienz jener Ideen verbürgten.[15]  Zwar habe ich keinerlei grundsätzliche Einwände gegen die kritische Erforschung des ›real existierenden Neoliberalismus‹, der ja Gegenstand des zweiten Teils dieses Buchs ist, aber ich sehe gewisse Probleme für den Fall, dass dies der ausschließliche Fokus ist, denn materialistische Ansätze haben mit ihren eigenen Schwierigkeiten zu kämpfen. Erstens definieren Materialisten gewöhnlich ein bestimmtes Politikregime, z.B. Privatisierung und Vermarktlichung, als neoliberal, aber wie könnte man zu einer solchen Definition gelangen, ohne das neoliberale Schrifttum und die darin enthaltenen Ideen und Entwürfe in Betracht zu ziehen? Über Jahrzehnte gab es schlicht keinen Neoliberalismus außer in der Form eines intellektuellen Diskurses; primär die politische Praxis als Ausgangspunkt einer Untersuchung zu wählen, erscheint vor diesem Hintergrund zumindest erklärungsbedürftig. Hinzu kommt, dass die vermeint18liche Diskrepanz zwischen neoliberaler Theorie und Praxis oft stark überzeichnet ist, womöglich auch aus einem gewissen Desinteresse an neoliberaler Theorie heraus, die bisweilen als kaum mehr als die dogmatische Lehre von sich selbst regulierenden Märkten angesehen wird. Handelte es sich hier um eine zutreffende Interpretation, dann wäre die Kluft zwischen diesen beiden Dimensionen des Neoliberalismus tatsächlich beträchtlich, aber die Charakterisierung des Neoliberalismus als ökonomistischer Marktabsolutismus lässt auf ein zumindest problematisch verengtes, wenn nicht gar falsches Verständnis schließen.[16]  Denn neoliberale Theorie ist zutiefst interessiert an der Verbindung und den Schnittstellen von Politik, Gesellschaft und Ökonomie. Nehmen wir sie als politische Ökonomie ernst, dann werden auch die Korrespondenzen zwischen diesen Entwürfen und dem Neoliberalismus der Praxis sichtbar. Natürlich wäre es falsch zu behaupten, dass es eine genaue Entsprechung von neoliberaler Theorie und Praxis im Verhältnis 1:1 gibt oder dass Akteure regelmäßig und bewusst versuchen, neoliberale Ideen umzusetzen, oder gar, dass jene sich ganz von selbst realisieren – ich hege keine hegelianischen Ambitionen.

Daraus aber den Schluss zu ziehen, neoliberaler Theorie jegliche Wirkmächtigkeit abzusprechen, ließe auf eine äußerst verengte Vorstellung des politischen Lebens schließen, die seiner ideationalen Dimension keinerlei Bedeutung zumisst.[17]  Und nicht zuletzt wäre der Preis, den wir dafür entrichten, neoliberale Theorie nicht ernst zu nehmen, sondern auf ihre Funktion als ideologischer Schleier neoliberaler Praktiken zu reduzieren, auch ein politischer. Man stelle sich die Reaktion eines Anhängers des Neoliberalismus auf typische Kritikpunkte an diesem vor, wie z.B. die Zunahme sozialer Ungleichheit oder Ähnliches: Offensichtlich würde die Erwiderung lauten, dass dies nicht dem Neoliberalismus an sich, son19dern seiner stümperhaften oder doch zumindest unvollständigen und selektiven Umsetzung anzulasten ist, die dafür verantwortlich ist, dass uns die Wohlstandsgewinne und andere vermeintliche Segnungen, die mit Neoliberalisierungsprozessen einhergehen sollen, vorbehalten bleiben. Die Lösung für gesellschaftliche Probleme bleibt also mehr Neoliberalismus und nicht weniger. Dieser diskursiven Strategie kann nur effektiv der Riegel vorgeschoben werden, indem wir uns mit dem Neoliberalismus auf der Ebene von Theorien und Ideen befassen, um zu zeigen, dass das Problem nicht in der lückenhaften Implementierung liegt, die nicht dem Geist der Ideen entspricht, sondern dass die Ideen selbst das Problem sind.

Die zweite methodologische Grundannahme betrifft meine Herangehensweise an das neoliberale Denken. Das Ziel dieser Studie besteht nicht nur in Rekonstruktion und Analyse, sondern auch in einer Kritik des neoliberalen Denkens. Im Unterschied zu denjenigen, die sich für eine (bestimmte Art von) Ideologiekritik im Hinblick auf neoliberale Theorie aussprechen,[18]  ist die Stoßrichtung meiner Kritik etwas anders gelagert und basiert auf zwei gleich wichtigen Komponenten. Zum einen destilliere ich aus der neoliberalen Theorie ihre genuin politischen Elemente und untersuche sie im Hinblick auf interne Inkonsistenzen sowie Spannungen innerhalb und zwischen diversen Variationen des Neoliberalismus, um darüber hinaus auch zu klären, inwieweit sie ihren eigenen Ansprüchen und Maßstäben (nicht) genügen kann. In diesem Sinn lässt sich hier also von einem Verfahren der immanenten Kritik sprechen. Wie allerdings die altehrwürdige Debatte über diesen Kritikmodus zeigt, beruht die Stärke immanenter Kritik zwar einerseits darauf, dass sie die Auseinandersetzung auf dem Terrain ihres Objekts sucht und daher gewissermaßen nie fehlgehen kann – andererseits ergibt sich ihre größte Schwäche aber ebenfalls aus dieser Herangehensweise. Indem immanente Kritik sich auf jenes Terrain und die entsprechenden Bedingungen der Auseinandersetzung einlässt, verlegt sie diese de facto außerhalb des Radius einer eng interpretierten immanenten Kritik. Daher besteht die zweite Komponente meines kritischen Ansatzes in einem Fokus auf all das, was in neoliberaler Theorie unausgesprochen bleibt, also die Annahmen und Bedingungen, die stillschweigend vorausgesetzt 20werden, die daraus resultierenden Limitierungen und blinden Flecken sowie die Implikationen und potentiellen Auswirkungen bestimmter Vorstellungen, wenn sie denn realisiert würden. Worauf ich damit abziele, ist eine gehaltvolle und nuancierte Kritik neoliberalen Denkens, die dieses ernst nimmt und nicht von vornherein aburteilt. Eine Kritik, die es nicht nötig hat, sich zwingend von jedem einzelnen Element im neoliberalen Denken zu distanzieren, nur um sicherzustellen, dass dieses dämonisch Andere streng getrennt bleibt von seinem nicht-neoliberalen Antipoden, dessen Reinheit um jeden Preis erhalten werden muss, so dass es keinerlei Korrespondenzen und teilweisen Übereinstimmungen geben darf, ganz abgesehen von der wahnwitzigen Vorstellung, es ließe sich etwas von den Vertretern des Neoliberalismus lernen. Die Kritik, die ich hier entwickele, intendiert also weder eine Widerlegung noch eine Demaskierung neoliberalen Denkens im Sinne einer Ideologiekritik; ihr Ziel besteht vielmehr in der Problematisierung der politischen Theorie des Neoliberalismus in ihren diversen Aspekten.